Konservative Wirtschaftspolitik versucht, die wirtschaftliche Spaltung in Verlierer*innen und Gewinner*innen für weniger sozialen Schutz für Arme und Arbeitslose und geringere Steuern für Reiche zu nutzen. Progressive Politik muss im Gegenteil die Ängste der Menschen ernst nehmen, Sicherheit geben, Hoffnung auf Verbesserung wecken und mehr Freiheit schaffen. Dafür muss sie die Machtfrage stellen.

Von Markus Marterbauer, Leiter der Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik der AK Wien

Verlierer*innen und Gewinner*innen der Krise

Nachdem das Bruttoinlandsprodukt im Oktober 2021 das Vorkrisenniveau wieder erreicht hat, fällt es im Winter-Lockdown wieder darunter. Doch die ohnehin schwierige Berechnung der gesamtwirtschaftlichen Lockdown-Kosten darf nicht den Blick auf die eigentlich relevanten Fragen verstellen. Die Covid-Wirtschaftskrise führt für einige soziale Gruppen zu einer massiven, bei manchen auch langfristigen, Verringerung des Wohlstandes, bei anderen hingegen zu hohen Gewinnen.

Die Gruppe der Verlierer*innen besteht aus:

  • 400.000 Arbeitslosen, vor allem den 110.000 Langzeitarbeitslosen, die massive Einkommensverluste erlitten. Drei Viertel der Langzeitarbeitslosen sind armutsgefährdet.
  • Hunderttausenden prekär Beschäftigten, deren Arbeitsmarktchancen sich in der Covid-Krise markant verschlechtert haben: Das betrifft junge Menschen, die zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt ins Erwerbsleben einzutreten versuchten, ausländische Staatsbürger*innen, die ohnehin in besonderem Ausmaß unter schlechten Arbeitsbedingungen leiden, sowie Frauen in Teilzeitbeschäftigung mit geringem Stundenausmaß.
  • Zehntausenden Einpersonenunternehmer*innen, die in der Covid-Krise ohne Einkommen, soziale Absicherung und deshalb auf spät erfolgende und nicht ausreichende Hilfszahlungen aus dem Härtefallfonds angewiesen waren.
  • Hunderttausenden Kindern aus gesellschaftlich benachteiligten Familien, die in besonderem Ausmaß unter Schulschließungen, Lockdowns, beengten Wohnverhältnissen, fehlenden sozialen Kontakten, Armutsgefährdung und damit auch langfristig unter negativen Folgen der Covid-Krise leiden.

Die Covid-Krise hat damit in besonderem Ausmaß jene sozialen Gruppen getroffen, bei denen die Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung ohnehin sehr hoch ist. Sie führt damit zu einer weiteren Schwächung der Schwachen.

Doch es gibt auch die Gewinner*innen der Krise. Das sind erstens die Milliardär*innen und Multimillionär*innen, denn Immobilienpreise und Aktienkurse legten jüngst zu wie selten zuvor. Das Vermögen der „Milliardäre und Clans“ ist in dieser Krise nochmals kräftig gestiegen.

Zweitens, haben viele Unternehmen von der Krise profitiert. In der Industrie hat die Produktion das Vorkrisenniveau ohnehin rasch wieder übertroffen. Die großzügigen, wenig zielgerichteten Covid-Wirtschaftshilfen haben ein finanzielles Füllhorn über die Unternehmen ausgeschüttet, das trotz des tiefsten Wirtschaftseinbruchs nach 1945 sogar zu einem Überschuss in ihrem Finanzierungssaldo führte. Doppelt- und Dreifachförderungen, bei denen Kurzarbeit mit Umsatz- und Fixkostenersatz sowie Investitionsförderungen in bislang nie gesehenem Umfang kombiniert werden konnten, ließ so manches Unternehmen finanziell deutlich besser dastehen als vor der Krise. Viele Unternehmen haben von staatlichen Covid-Aufträgen profitiert, manche in einer Art und Weise, die die Korruptionsstaatsanwaltschaft auf den Plan rief.

Konservative Wirtschaftspolitik: Druck auf Verlierer*innen, Förderung der Gewinner*innen

Konservative Wirtschaftspolitik nutzt die soziale und wirtschaftliche Spaltung in Verlierer*innen und Gewinner*innen zweifach. Zum einen verstärkt sie den Druck auf die Verlierer*innen, etwa die Arbeitslosen. Diese sind ein beliebtes Opfer konservativer Politik, auch weil ihr Ansehen in der Öffentlichkeit gering ist: Das Arbeitslosengeld bzw die Notstandshilfe sollte für Langzeitarbeitslose von derzeit 51% des Letzteinkommens gemäß dem Vorschlag des ÖVP-Wirtschaftsbundes auf unter 40%, jenem von Agenda Austria auf 25% und jenem der Neos auf 0% gesenkt werden. Damit versucht man den Arbeitslosen Angst einzujagen und sie für die Annahme schlechter Jobs bereit zu machen. Angst soll aber auch prekär Beschäftigten bereitet werden, denen so gezeigt wird, was passiert, wenn sie nicht bereit sind, unfaire Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Die Debatte um eine Verschärfung der Zumutbarkeitsbestimmungen und der Abschaffung des geringfügigen Zuverdienstes zielen in die nämliche Richtung.

Zweitens, zielt konservative Wirtschaftspolitik auf die Stärkung der Gewinner*innen der Krise: Forderungen nach Senkung der Körperschaftssteuer, Erhöhung des Gewinnfreibetrages, Wiedereinführung einer kurzen Behaltefrist bei der Wertpapier-Kapitalertragssteuer, Senkung der Lohnnebenkosten, immer höhere staatliche Investitionsprämien und immer noch mehr Subventionen. Ein Teil der Forderungen konnte abgewehrt werden, doch einige haben Eingang in die Steuerreform der Regierung gefunden. Kürzung der Sozialtransfers für Arme und Senkung der Steuern für Reiche, so hat der große US-Ökonom John Kenneth Galbraith einmal neoliberale Wirtschaftspolitik persifliert.

Progressive Wirtschaftspolitik muss Angst nehmen und Hoffnung wecken

Progressive Wirtschaftspolitik muss das Gegenteil machen. Sie muss zunächst genau auf die sozialen Verhältnisse schauen. Sie muss den Verlierer*innen Ängste nehmen. Sie muss Sicherheit geben. Sie muss Hoffnung machen, indem sie einen Weg der Veränderung, Verbesserung und des Fortschritts aufzeigt. Sie muss Momente der Emanzipation und Freiheit eröffnen.

Prioritär ist der Kampf gegen Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Ausgrenzung. Die Sozialpsychologin Marie Jahoda bemerkte zurecht: Arbeitslosigkeit führt nicht zur Revolution, sondern zu Resignation. Menschen in der Krise Sicherheit zu geben, heißt zunächst ihr Einkommen zu stabilisieren. Eine Erhöhung der Nettoersatzrate des Arbeitslosengeldes auf 70% verringert Einkommensverluste und verhindert Armut. Die (Wieder-) Einführung einer armutsfesten Bedarfsorientierten Mindestsicherung bildet ein wichtiges zusätzliches soziales Netz gegen Armut, auch für die Working Poor.

Das historische Verdienst des Sozialstaates ist es, den arbeitenden Menschen Sicherheit zu geben. Er tut dies mithilfe der sozialen Pensions-, Arbeitslosen-, Kranken- und Unfallversicherung sowie der Bereitstellung sozialer Dienste von Gesundheit und Pflege über Kindergarten und Schule bis zur Sozialarbeit und Wohnen. Der Sozialstaat ist eines der erfolgreichsten Projekte der Zivilisation, doch dieses Projekt ist alles andere als abgeschlossen.

Am dringlichsten ist die rasche Verbesserung der sozialen Pflegeleistungen für alle, damit sich die Spaltung in arm und reich nicht am Ende des Lebens nochmals in aller Schärfe manifestiert. Eine Zwei-Klassen Medizin muss verhindert werden. Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen sind elementar für die Förderung der kognitiven, sozialen und emotionalen Fähigkeiten von allen Kindern, egal woher sie kommen. Leistbare Wohnungen durch Ausweitung des sozialen Wohnbaus und geschickte Regulierung der Mieten sichern das Grundrecht auf Wohnen.

Bessere soziale Leistungen werden auch deutlich mehr kosten, das steht außer Frage. Laufende Ausgaben für Sozialtransfers, soziale Dienste und Gehälter müssen durch laufende Steuereinnahmen finanziert werden. Darauf muss unser Abgabensystem eingestellt werden. Investive Ausgaben wie Wohnungen oder Infrastruktur hingegen sollen kreditfinanziert werden.

Arbeitszeitverkürzung eröffnet ein Moment der Freiheit

Eine gute Absicherung bei Arbeitslosigkeit ist wichtig, doch sie reicht nicht. Das Ziel lautet Vollbeschäftigung. Wirtschaftspolitik muss die Nachfrage nach Arbeitskräften auf Vollbeschäftigungsniveau führen. Zukunftsausgaben in Klima, Pflege, Bildung erhöhen den Wohlstand und als erfreulicher Nebeneffekt entstehen neue Jobs. Für Langzeitarbeitslose soll eine Jobgarantie im kommunalen und gemeinnützigen Sektor den Weg aus Armut zu Arbeit und Einkommen ermöglichen. Das AMS braucht mehr Personal und Geld, um Arbeitslose rasch auf offene Stellen vermitteln und für diese qualifizieren zu können.

Doch die Schaffung von Jobs, nur um der Beschäftigung willen, kann nicht das Ziel sein. Die Menschen brauchen gute Arbeit, das heißt Beschäftigung mit guten Arbeitsbedingungen, Möglichkeiten der Mitbestimmung, gesicherten Arbeitsrechten, adäquaten Arbeitszeiten und einem Einkommen, von dem man gut leben kann. Eine Erhöhung des niedrigsten Lohnes in allen Kollektivverträgen auf 1.700 € ist eine gezielte Maßnahme, um nicht armutsfeste Löhne zu beseitigen. Die EU-Mindestlohnrichtlinie zielt darauf ab, die Vorteile kollektivvertraglicher Lohnfindung für ganz Europa zu etablieren und den Niedriglohnsektor zu verkleinern, der in vielen Ländern noch größer ist als bei uns. Progressive Politik muss die Verbesserung der Lebensbedingungen aller Menschen im Auge haben.

Die Arbeitsgesellschaft muss wieder stärker auf das Ziel der Freiheit ausgerichtet werden. Der Ruf nach Arbeitszeitverkürzung begleitet die Arbeiter*innenbewegung seit ihrer Gründung und er bleibt eines der wichtigsten Ziele progressiver Politik. Arbeitszeitverkürzung kann vielfältige Formen annehmen, von der gesetzlichen Einführung der 6. Urlaubswoche für alle und der Ermöglichung längerer Auszeiten, über die Freizeitoption, 4-Tage-Woche, Jubiläumsurlaube und 35-Stunden-Woche in Kollektivverträgen, bis zu betrieblichen Innovationen wie einer 30-Stunden-Woche und mehr Selbstbestimmung bei der Arbeitszeit.

Mehr Freiheit will in einer lebenswerten Umwelt verbracht werden. Klimakrise aber auch unsoziale Klimapolitik belasten die ökonomisch Schwächeren, während die Reichen enorme Klimakosten produzieren. Der dringend erforderliche Umbau der Wirtschaft verlangt deshalb nach klimasozialer Politik. Bessere öffentliche Infrastruktur für Mobilität und Wohnen, öffentliche Räume vom Park bis zum Sportplatz, öffentliche Dienste von Gesundheit bis Schule, öffentliche Forschungs- und Technologiepolitik sind wichtige Elemente einer erfolgreichen Klimapolitik, die auch die Verteilungsfrage stellt.

Machtverschiebung am Arbeitsmarkt und in der Verteilungsfrage

Die Erreichung von neuen Jobs, guten Arbeitsbedingungen, kürzeren Arbeitszeiten, höheren Löhnen und sinnerfüllter Arbeit setzt eine Verschiebung der Machtverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt voraus. Oder um es mit US-Präsident Joe Biden zu sagen: Unser Ziel ist nicht ein Arbeitsmarkt, auf dem drei, vier, fünf Arbeitslose um eine offene Stelle konkurrieren, sondern ein Arbeitsmarkt, auf dem die Unternehmen mit attraktiven Angeboten um die Arbeitskräfte konkurrieren. Einen (leichten) Arbeitskräftemangel sehen wir also nicht als Gefahr, sondern als anstrebenswertes Ziel. Wir nennen dieses Ziel Vollbeschäftigung und wollen es so rasch wie möglich erreichen.

Die Machtverhältnisse müssen sich auch in einem zweiten Bereich drehen. Die Vermögen sind so konzentriert, dass in Österreich 40 Milliardär*innen über mehr als ein Zehntel des gesamten Vermögens aller 3,9 Millionen privaten Haushalte verfügen und allein die beiden reichsten Familien nahezu doppelt so viel besitzen wie die untere Hälfte der Haushalte. Dieser Überreichtum einer ganz kleinen Gruppe gefährdet die Demokratie ebenso wie die soziale und ökologische Nachhaltigkeit. Mit dem konsequenten Aufzeigen der ungerechten Verhältnisse und konkreten Vorschlägen für eine progressive Besteuerung von Vermögen, Vermögenseinkommen und Erbschaften wollen wir Druck für Gerechtigkeit machen. Damit wird auch die Machtfrage gestellt.

Ein langsam Konturen gewinnender Mangel an Arbeitskräften und die in vielen Ländern verfochtene Forderung nach progressiver Besteuerung hoher Vermögen werden es ermöglichen, Wirtschaft und Gesellschaft in Österreich und Europa zum Besseren zu wenden. Sie werden uns dabei helfen, Armut zu beseitigen, die Geißel der Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, Pflege und Bildung in hoher Qualität für alle zu öffnen, die Klimakrise zu bewältigen, Arbeitsbedingungen zu verbessern, Löhne zu erhöhen und mit kürzeren Arbeitszeiten, guten sozialen Diensten und demokratischer Beteiligung für alle mehr Momente der Freiheit in der Arbeitsgesellschaft zu schaffen. Das Ziel progressiver Wirtschaftspolitik ist nachhaltiges Wohlergehen für die vielen, nicht die wenigen.


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