Leo Ensel für die Online-Zeitung INFOsperber
Red. Das Wettrüsten auf allen Seiten konnte 1972 mit dem sogenannten ABM-Vertrag gestoppt werden. Jetzt sind es zwanzig Jahre, seit es mit der Kündigung des ABM-Vertrages durch die USA mit Aufrüsten wieder losging. Der deutsche Konfliktforscher und Publizist Leo Ensel zeigt auf, wie es dazu kam und was jetzt die Folgen sind. Ein Gastbeitrag. (cm)
In den letzten Wochen wurde – auch auf dem Hintergrund der zugespitzten Krise um die Ukraine – in den westlichen Medien immer wieder grosse Besorgnis über russische (und möglicherweise auch chinesische) Hyperschallraketen geäussert. Das sind land- oder seegestützte Raketen, die, wie die russische «Zirkon», mit atomaren Sprengköpfen bestückt, bis zu neunfache Schallgeschwindigkeit (Mach 9 bzw. 11’000 km/h) erreichen und – das ist das Entscheidende – keine ballistische Bahn beschreiben: Sie sind, wie die ungleich langsameren Marschflugkörper, noch während des Anflugs flexibel steuerbar und damit nach dem gegenwärtigen Stand der Technik von den aktuellen Raketenabwehrsystemen nicht zu eliminieren. Höchstgefährliche Trägersysteme also, keine Frage. Und Gnade uns Gott, wenn sie tatsächlich zum Einsatz kommen sollten!
MAD
Der Welt wäre diese dramatische erneute Umdrehung der Rüstungsspirale allerdings erspart geblieben, hätten die USA nicht am 13. Dezember 2001 einseitig und ohne von einem anderen Akteur dazu provoziert worden zu sein, den ABM-Vertrag gekündigt. Zur Erinnerung: Der «Anti-Ballistic-Missiles-Treaty» war einer der zentralsten Bausteine der während des ersten Kalten Krieges mühevoll über Jahre zwischen den beiden Supermächten USA und Sowjetunion ausgehandelten Rüstungskontrollarchitektur. Er wurde am 28. Mai 1972 mit zeitlich unbefristeter Gültigkeit abgeschlossen und begrenzte für beide Seiten die Zahl der Raketenabwehrsysteme. Jeder Seite wurden laut Vertrag anfangs zwei, später nur noch eine ABM-Stellung mit je hundert Abschussvorrichtungen zugestanden. (Die Sowjetunion setzte ihr Abwehrsystem zum Schutze der Hauptstadt Moskau ein, die USA schützten damit ihre Anlage Grand Fox, in der die grösste Gruppe von Interkontinentalraketen stationiert war.) Verboten waren neben dem Aufbau eines landesweiten ABM-Netzes auch die Entwicklung, Erprobung und Aufstellung weiterer see-, luft- oder weltraumgestützter sowie landbeweglicher ABM-Systeme.
Ziel des Vertrages war es, für beide Seiten das im damaligen Sprachgebrauch so genannte «Fenster der Verwundbarkeit» offenzuhalten. Gemeint war die «Zweitschlagsfähigkeit», also die Möglichkeit der angegriffenen Seite, dem Angreifer auch nach einem vernichtenden atomaren Erstschlag noch einen ebenso vernichtenden Vergeltungsschlag zufügen zu können. Auf diesem Prinzip des «Gleichgewicht des Schreckens», der «Mutual Assured Destruction», der wechselseitig gesicherten Zerstörung basierte die (höchst wackelige) ‹Sicherheitsarchitektur› im ersten Kalten Krieg. Sie wurde sinnvollerweise «MAD» (= verrückt) abgekürzt.
Diese Architektur ‹funktionierte› tatsächlich in dem Sinne, dass ein den Planeten völlig verwüstender Atomkrieg glücklicherweise ausblieb – allerdings stand die Welt mehrfach kurz davor. So wurde Anfang November 1983 im Rahmen der NATO-Übung «Able Archer» ein Atomkrieg so überzeugend und realitätsnah simuliert, dass die Sowjetunion unter dem misstrauischen Generalsekretär Jurij Andropow zum ersten und einzigen Mal die sowjetischen Bomber in Polen und der DDR startklar machen und mit scharfen nuklearen Sprengköpfen bestücken liess. Anderthalb Monate zuvor war ein möglicher Atomkrieg aus Versehen infolge eines Fehlalarms im Raketenabwehrzentrum Serpuchow bei Moskau nur durch das beherzte Handeln des diensthabenden Oberstleutnants Stanislaw Petrow gerade noch verhindert worden.
An raffinierten Versuchen, das System des Gleichgewichts des Schreckens auszuhebeln und die nukleare Hegemonie der USA aus der Zeit zwischen 1945 und 1949 zurückzuerobern, hatte es nicht gefehlt. Der bekannteste war Ronald Reagans «Krieg der Sterne»-Projekt, SDI. Erst mit Michail Gorbatschows auf dem Konzept der «Gemeinsamen Sicherheit» basierender Politik des «Neuen Denkens», die in den gefährlichsten Bereichen der Kurz- und Mittelstreckenraketen sowie später auf strategischer Ebene erstmals und in grossem Ausmass substanzielle Abrüstungsschritte zeitigte, trat eine gewisse Beruhigung ein, und eine Zeitlang sah es so aus, als könne die Welt – zumindest, was dieses Thema angeht – wieder ruhig schlafen.
Der Roll Back
Aber nicht lange! Bereits Anfang 1999 verabschiedeten die USA, noch unter Bill Clinton, den «National Missile Defence Act», der eine abgespeckte nationale Raketenabwehr zum Ziel hatte. Die langjährige Moskaukorrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz, schreibt dazu in ihrem Buch „Eiszeit“: «Theoretisch richtete sich diese vor allem gegen die beiden ‚Schurkenstaaten‘ Iran und Nordkorea und deren mögliches Nuklearpotential. Praktisch betrachtet, können entsprechende Abfangraketen aber natürlich auch gegen andere Länder eingesetzt werden, wenn der Stationierungsort und die militärischen Fähigkeiten es erlauben. Russland und China waren jedenfalls alarmiert.» Im Dezember 1999 verabschiedete die Vollversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution, in der die USA dazu aufgefordert wurden, von diesen Plänen Abstand zu nehmen. Dagegen stimmten mit den USA damals nur Israel, Albanien und Mikronesien. – Wohlgemerkt: Der «Act» wurde von den USA zu einem Zeitpunkt verabschiedet, zu dem der mittlerweile vom Westen zum Weltbösewicht aufgeblasene Wladimir Putin in Russland noch nicht mal Ministerpräsident war!
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 sahen die USA offenbar ihre Chance gekommen und George W. Bush beschleunigte das Vorhaben. Gabriele Krone Schmalz: «Er hatte allerdings ein Problem: Der 1972 abgeschlossene ABM-Vertrag verbot die Entwicklung einer solchen Raketenabwehr. Am 13. Dezember 2001 gab George W. Bush daher bekannt, dass sich die USA einseitig aus dem ABM-Vertrag zurückziehen würden.» (Nebenbei bemerkt: Zweieinhalb Monate, nachdem Wladimir Putin in einer bemerkenswerten, überwiegend auf Deutsch gehaltenen Rede vor dem Bundestag eindringlich um eine intensive Zusammenarbeit zwischen dem wiedervereinten Deutschland und dem neuen Russland geworben hatte. Infosperber berichtete.) Russland protestierte scharf gegen diesen Schritt und trat seinerseits als Reaktion darauf vom START II-Abkommen zurück. START II verbot landgestützte Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen, die sich besonders zur Überwindung von Raketenabwehrsystemen eignen.
Es folgte ein fast zwanzigjähriger Eiertanz um das sich angeblich gegen anfliegende iranische Raketen richtende US-Raketen‹abwehr›system Aegis mit zwei Modulen unmittelbar vor der russischen Haustüre, bei dem die USA Russland – wie auch die meisten europäischen NATO-Partner – stets vor vollendete Tatsachen stellten sowie russische Bedrohungsängste und sämtliche Kompromissvorschläge aus Moskau geflissentlich ignorierten. Mittlerweile sind die entscheidenden Module in Devesulu (Rumänien) und Słupsk-Redzikowo (Polen) betriebsbereit. Das laut offiziellen westlichen Angaben rein defensive Aegis-System kann – damit macht das Rüstungsunternehmen «Lockheed Martin» ungeniert Werbung – lediglich durch Veränderung der Software in ein Offensivsystem verwandelt werden. Seine Mk 41 VLS-Startrampen können auch Tomahawk-Marschflugkörper also Angriffswaffen, abfeuern. Kurz: Module dieses Systems, an dem die USA seit über zwei Jahrzehnten arbeiten, hätten noch vor anderthalb Jahren, als er noch existierte, gegen den INF-Vertrag verstossen.
Der Scherbenhaufen
In der Retrospektive erweist sich die Kündigung des ABM-Vertrages zusammen mit den zahlreichen NATO-Osterweiterungen, dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien vom Frühjahr 1999 und der Nicht-Ratifizierung des A-KSE-Vertrages über konventionelle Abrüstung in Europa als die Ursünde des Westens seit dem glücklichen Ende des ersten Kalten Krieges. Sie bedeutete den (vorerst?) endgültigen Bruch mit dem zumindest in Sonntagsreden bemühten Konzept der «Gemeinsamen Sicherheit» zwischen dem Westen und Russland und reaktivierte das Denken und Handeln in der Logik des Wettrüstens.
Die Folgen liessen nicht allzu lange auf sich warten. Zumal sich die nach der Kündigung des ABM-Vertrages zusammen mit einer Radarstation in der Türkei in Polen und Rumänien installierten landgestützten Aegis-Module lediglich als Spitze des Eisbergs, als Teile eines in Wirklichkeit weltumspannenden, im Wesentlichen auf Kriegsschiffen stationierten amerikanischen Raketenabwehrschilds erwiesen, an dem sich auch Länder wie Norwegen, Dänemark, Spanien, Australien, Japan, Südkorea und Kanada beteiligen. Kein Wunder, dass Russland und China das globale Raketenabwehrsystem der USA als eine strategische Bedrohung ihrer Atomstreitkräfte durch westliche Radaraufklärung und Abfangraketen ansahen.
Als unmittelbare Reaktion stationierte Russland, gemäss der unerbittlichen Logik des Wettrüstens, im Kaliningrader Oblast Iskander-Kurzstreckenraketen, die auf die vorgelagerten landgestützten Module des Aegis-Systems zielen. Dies wiederum wurde in den westlichen Medien – die, wie immer, den Kontext ausblendeten – als Vorbereitung für eine aggressiv-expansive Politik Russlands, vor allem gegen Polen und die baltischen Staaten, verkauft, auf die unbedingt mit entsprechenden Waffensystemen reagiert werden müsse … (Dass zwischenzeitlich mit dem Iran ein Nuclear Deal ausgehandelt worden war, der auch die offizielle westliche Begründung des Raketenabwehrschilds obsolet gemacht hätte, spielte schon keine Rolle mehr.)
Das bedeutendste Opfer dieser ausgelösten Lawine war folgerichtig der INF-Vertrag, den die USA unter Donald Trump Anfang Februar 2019 kündigten. Damit war der bedeutendste Baustein der Gorbatschow‘schen Abrüstungspolitik eliminiert und der Weg ist nun frei für ein höchstgefährliches neues – auch atomares – Wettrüsten auf dem europäischen Kontinent mit äusserst schnellen und zielgenauen Trägersystemen.
Zur Erinnerung: Alle entscheidenden Weichen dieser Entwicklung wurden viele Jahre vor dem Kiewer Euro-Maidan, vor den Ereignissen auf der Krim und dem kriegerischen Konflikt im Donbass gestellt.
Am 1. März 2018 platzte die publizistische Bombe, als Präsident Putin am Ende seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation einer entgeisterten Weltöffentlichkeit gleich eine ganze Palette völlig neuartiger Waffensysteme, darunter nichtballistische Hyperschallraketen von einer Geschwindigkeit bis zu Mach-20 und nuklearbetriebene Marschflugkörper vorstellte, gegen die die westlichen Abwehrsysteme machtlos seien. Erstmals, so Putin, sei Russland den USA bei der Entwicklung innovativer Waffensysteme einen entscheidenden Schritt voraus. Für den Westen war das fast ein zweiter Sputnik-Schock, über den sich aber niemand, der die Entwicklung mit wachem Auge verfolgte, hätte wundern müssen.
Auf die Frage, wann der zweite Kalte Krieg, wann das neue Wettrüsten denn begonnen habe, antwortete Putin: «Mit der amerikanischen Kündigung des ABM-Vertrags!»