In mehr als drei Jahrhunderten wurden fast zwölf Millionen Menschen als Sklav*innen von Afrika nach Amerika gebracht. Neben der Arbeitskraft brachten die verschleppten Menschen auch ihre Traditionen, ihre Kultur und ihre Religionen mit. Viele Versklavte waren Yoruba aus Gebieten des heutigen Nigeria, Benin oder Togo. In der Zeit der Unterdrückung und aus dem gemeinsamen kulturellen Erbe entstand unter ihnen eine Religion, die Candomblé genannt wird. In seinem Fotobuch „Die Götter Bahias“ möchte Ruprecht Günther Einblicke in die Welt des Candomblé geben. Der Autor, Musiker und Fotograf lebt seit 20 Jahren in Salvador in Brasilien und sammelte vielfältige Erfahrungen mit den Geistern und Göttern des Candomblé.
Die Gottheiten nehmen Platz im Körper der Gläubigen
Ruprecht Günther erzählt im Interview von den verschiedenen Göttinnen und Göttern des Candomblé: der Göttin des Windes, des Meeres, dem Gott der Schöpfung… Auch Archetypen wie etwa der Gott der Gerechtigkeit oder der Gott des Krieges existieren im Candomblé ganz real. So real, dass Angehörige der Religion auf Festen oder manchmal mitten auf der Straße ganz plötzlich in Trance fallen und diese Gottheiten inkorporieren. „Es gibt […] im Candomblé Feste, die oftmals die ganze Nacht durch dauern, es wird getrommelt und getanzt, und auf einen Schlag fällt dann der Pai-de-santo, der Priester, oder die Mae-de-Santo, die Priesterin, in Trance, und nacheinander fallen alle um, […] die Leute fangen an zu zucken, schreien, gackern, beruhigen sich dann langsam und verschwinden sozusagen aus ihrem Körper, um dort Platz für die Gottheiten zu bieten“, erzählt Günther.
Die Orixas berufen die Menschen
Wer von den Göttern gerufen wird, sollte deren Willen folgen. Günther erzählt Geschichten von einer Frau, die als Mädchen krank war und nur durch den Candomblé geheilt wurde, von einem Mann, der durch Krankheit an den Rollstuhl gefesselt war und erst wieder gesund wurde, nachdem er dem Ruf der Götter gefolgt war. Ob und wie man Teil der Religion werden will, kann man anscheinend nicht selbst entscheiden,. „Dieser Ruf der Orixás geschieht sozusagen von ihnen aus, er ist unabhängig von unserem Willen und kann jeden überfallen, teilweise mitten auf der Straße.“ Im Candomblé gibt es viele verschiedene Funktionen. Eine von ihnen ist die der Ekede. Der Begriff stammt aus der Sprache Yorubá, die in der Region südlich der Sahara gesprochen wird und in vielen afrobrasilianischen Kulten benutzt wird. Ekedes sind immer weiblich, und da sie selbst keine Gottheiten inkorporieren und in Trance geraten, ist ihre Aufgabe, sich um diejenigen zu kümmern, die ihren Körper gerade einem Orixá überlassen. Vanessa, die in São Paulo lebt und ihre Religion in einem Terreiro nahe Salvador praktiziert, berichtet vom Alltag einer Ekede: „Eine Ekede ist wie eine Mutter, die sich um die Orixás kümmert. Wenn Orixás präsent sind, trägt eine Ekede die Verantwortung sowohl für die Orixás als auch für diejenigen, die ihnen ihre Körper zur Verfügung stellen. Die Ekede sorgt für das Essen – sowohl der Oxirás wie der anderen – und für das Wohlbefinden der Gemeinde.“
Glauben im Untergrund
Jahrhundertelang war der Candomblé, wie auch andere afrikanische Traditionen, verboten. Die Anpassung an christliche Traditionen war eine Art zu überleben. Die Sklav*innen verpassten ihren Orixás ein christliches Gewand. „Es gibt tatsächlich Mischformen“, erzählt Ruprecht Günther. „Es gibt eine katholische Kirche in Salvador, die „Igreja Rosário dos Pretos“ im historischen Zentrum, die im 18. Jh. von Sklaven für Sklaven errichtet wurde, weil diese in den normalen Kirchen nicht willkommen waren. Diese Kirche gibt es bis heute, und bis heute wird dort afrobrasilianische Kultur gepflegt.“ Auch Elemente animistischer, von der Beseeltheit von Objekten ausgehender Glaubensströmungen der indigenen Gemeinschaften wurden in den Candomblé aufgenommen, besonders seit der Entstehung der Umbanda, einer neueren Strömung der Religion, die erst um die 100 Jahre alt ist und sich etwa durch den Verzicht auf Tieropfer vom Candomblé unterscheidet. Bei Ritualen des Candomblé wird oft um konkrete Ziele gebeten: Erfolg, Wohlstand, eine Partnerin oder einen Partner. Die Umbanda betont vor allem die spirituelle Entwicklung. Rückschläge gehören zum Lernprozess unseres Lebens.
Gewalt und Rassismus
Allein in Salvador gibt es 3000-4000 unterschiedliche Terreiros, die Kultstätten des Candomblé, und eine große Anzahl an Gläubigen. Immer wieder kommt es jedoch zu Gewalt gegen die afrobrasilianischen Religionen und ihre Kultur. Unter der Regierung des rechtsextremen Präsidenten Bolsonaro haben Vorurteile und Rassismus stark zugenommen, erzählt auch Vanessa: „Während der konservativen Fieberwelle des evangelikalen Fiebers, das derzeit das gesamte Land erfasst, kommt es immer wieder zu Übergriffen auf Terreiros, auch in Salvador. Die Kultstätten werden zerstört, auf der Straße wird gepöbelt. Wenn die Leute uns geschmückt in traditioneller Kleidung sehen, beschimpfen sie uns. Vor kurzem kam es auch zu rassistischen Attacken durch Touristen in Salvador, die sich gegen die lokale Kultur richteten. Denn der Candomblé ist nicht nur eine wundervolle Religion, sondern auch Ausdruck der Kultur in Bahía. Dieser Rassismus ist sogar noch stärker als die religiösen Vorurteile, er ist Teil des Alltags in Bahía.“ Gewalttaten gegen Repräsentant*innen afrobrasilianischer Religionen kommen in allen Regionen Brasiliens vor, und die rassistischen Übergriffe bleiben eigentlich immer ungeahndet. Ruprecht Günther beschreibt die Gesellschaft als sehr gespalten. „Bolsonaro ist ein erklärter Gegner der Naturreligionen, er wurde ja auch mit Hilfe der Crenche, also der Evangelikalen gewählt, die fanatische Gegner sind, die meisten jedenfalls.“ Die religiöse Diskriminierung hat historische Ursprünge, erklärt Vanessa: „Es handelt sich um historische Vorurteile, um historischen Rassismus. Diese Religion ist in Brasilien entstanden, nachdem die Ursprünge von den versklavten Schwarzen mitgebracht worden waren. Sie war immer Objekt eines strukturellen Rassismus, seit der Zeit der Sklaverei.“
Die religiöse Gemeinschaft in Zeiten der Pandemie
Eigentlich ist die Gemeinschaft gerade in Pandemiezeiten besonders wichtig. Zurzeit lautet das Gebot der Stunde jedoch: Abstand. Auch der Candomblé nimmt die Pandemie sehr ernst, wie uns Ruprecht Günther erzählt. „Die Terreiros waren geschlossen. Und das war natürlich für viele Priesterinnen und Priester, die von ihrer Berufung leben, ganz entsetzlich, und auch für die Gläubigen, die natürlich den Ratschluss brauchten, die Feste brauchten… So ganz allmählich wird jetzt wieder geöffnet, aber nur limitiert für fünfzig Leute, alle natürlich mit Maske.“
Einen visuellen Einblick in die Welt des Candomblé und der Umbanda bietet Ruprecht Günthers Fotobuch „Die Götter Bahías“. Wer also noch mehr zu den Trommeln, Tänzen und religiösen Festen erfahren will, sollte einen Blick dort hineinwerfen.
Einen Audiobeitrag zu diesem Artikel findet ihr hier.