Ungleichheit und Demokratie sind eng verknüpft: Soziale Ungleichheit sorgt für unterschiedliche politische Teilhabe, Machtschieflagen beeinflussen wiederum die Verteilung von Wohlstand. In Österreich wurde durch die Tradition der Sozialpartnerschaft lange das Bild einer partizipativen Demokratie gepflegt, die Mitbestimmung sichert und das Gesamtinteresse über das Interesse Einzelner stellt. Durch veränderte wirtschaftliche Rahmenbedingungen der letzten Jahrzehnte sind soziale Ungleichheit und Schieflagen in der Interessendurchsetzung aber wieder zu einer gesellschaftlichen Kernfrage geworden.
Von Matthias Schnetzer (A&W-Blog)
Große Unterschiede beim Wählen
Zahlreiche empirische Studien zeigen, dass sich die Beteiligung an Wahlen und anderen politischen Aktivitäten nach sozialen Kriterien unterscheidet. Auch in Österreich hängt die Wahlbeteiligung stark mit dem Einkommen zusammen. Im ökonomisch schwächsten Drittel haben 41 Prozent der Wahlberechtigten bei der Nationalratswahl 2019 keine Stimme abgegeben. Im Drittel mit den höchsten Einkommen gehen nur 17 Prozent nicht zur Wahl:
Dazu kommen noch viele Menschen, die aufgrund ihrer StaatsbürgerInnenschaft gar nicht wählen dürfen. Insgesamt waren das bei der letzten Nationalratswahl in Österreich fast 1,1 Millionen Menschen oder 15 Prozent der Bevölkerung im wahlfähigen Alter. In Wien betrifft dies sogar jede dritte Person. Obwohl diese Menschen von den politischen Entscheidungen der Regierung betroffen sind, haben sie keine Möglichkeit, ihre Interessen in die Wahlentscheidung einzubringen.
Die Schieflage setzt sich auch bei anderen politischen und zivilgesellschaftlichen Aktivitäten fort, denn politisches Engagement muss man sich zeitlich und finanziell leisten können. Es gibt deutliche Unterschiede nach sozialer Stellung in der Teilnahme bei Petitionen, Demonstrationen oder BürgerInneninitiativen. Es sind meist Menschen mit geringen Einkommen und Frauen mit ihrem hohen Ausmaß an unbezahlter Sorgearbeit, die keine Freizeit oder Energie für politische Aktivität aufbringen können und deren Interessen somit weniger Aufmerksamkeit im politischen Prozess finden. Gleichzeitig ist ein starkes Gefälle im Demokratievertrauen zu verzeichnen: Im „SORA Demokratie Monitor“ 2020 glaubten nur 43 Prozent im ökonomisch schwächsten Drittel, dass das politische System in Österreich gut funktioniert. Im obersten Drittel waren es 78 Prozent.
Am oberen Ende der Verteilung werden dagegen große Vermögen in Bewegung gesetzt, um sich Einfluss zu verschaffen. Das reicht von Einflussnahme durch Lobbying und Parteispenden bis zu Meinungsbildung durch Denkfabriken und (Massen-)Medien.
Einflussnahme auf die Wirtschaftspolitik
Politische Aushandlungsprozesse werden oft durch Lobbying beeinflusst, um Einzelinteressen durchzusetzen. Diese Einflussnahme findet meist hinter verschlossenen Türen statt, aber die Interventionen rund um Handelsabkommen wie TTIP oder CETA sind gut dokumentiert und zeigen, wie sich IndustrievertreterInnen Gehör bei den EU-VerhandlerInnen verschafft haben. Mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen haben Schätzungen veröffentlicht, um die Lobby-Landschaft in Brüssel zu vermessen. So sollen rund 12.000 Lobbying-Organisationen mit rund 50.000 MitarbeiterInnen Einfluss auf die EU-Institutionen ausüben. Mehr als die Hälfte von ihnen arbeiten für Unternehmen und Wirtschaftsverbände, nur eine kleine Minderheit vertritt die Interessen von KonsumentInnen und ArbeitnehmerInnen.
Eine weitere Möglichkeit der Einflussnahme sind große Parteispenden, um sich die politische Gunst von Abgeordneten oder von Parteien für die eigenen Interessen zu sichern. Obwohl Parteispenden in Österreich seit 2012 ab 50.000 Euro einer Meldepflicht an den Rechnungshof unterliegen, wird diese manchmal durch eine Stückelung umgangen. Dadurch bleiben größere Beträge von Vermögenden und Industriellen der Öffentlichkeit verborgen. Basierend auf Datenlecks haben JournalistInnen allerdings aufgedeckt, dass die reichsten ÖsterreicherInnen große Beträge an Parteien für Wahlkämpfe überwiesen haben. Inwiefern dadurch die wirtschaftspolitische Gesetzgebung tatsächlich maßgeblich beeinflusst wurde, lässt sich natürlich nicht genau festhalten. Es hat jedenfalls einen bitteren Beigeschmack, wenn lautstark geforderte Maßnahmen von Großspendern umgehend politisch umgesetzt werden, wie etwa der Ruf manch Industrieller nach dem Zwölf-Stunden-Tag.
Einflussnahme auf die Meinungsbildung
Eine weitere Art der Einflussnahme durch Vermögende sind Versuche, breite Zustimmung in der Bevölkerung für die eigenen Interessen zu gewinnen und diese als Mehrheitsmeinung erscheinen zu lassen. Ein Instrument dazu sind Denkfabriken, die die politische, mediale und wissenschaftliche Agenda prägen sollen. Auch in Österreich werden seit den 1990er Jahren vermehrt industrienahe Think-Tanks gegründet, die durch finanzielle Unterstützung von vermögenden Industriellen und Unternehmensverbänden zu großer medialer Reichweite gelangen.
Darüber hinaus spielen die traditionellen Medien eine wichtige Rolle, welche Themen in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Die Macht der Massenmedien und ihr Einfluss auf die Meinungsbildung ist auch den Reichen nicht entgangen. Einige haben sich in Österreich in große Medienkonzerne eingekauft oder gleich ihre eigenen Medien gegründet, was angesichts des dynamischen Wachstums sozialer Medien deutlich einfacher geworden ist. Der Einfluss speist sich aber auch aus der vergleichsweise starken Medienkonzentration in Österreich, die in den Händen einer kleinen Anzahl von Personen und Unternehmen liegt. Dass sich in der Berichterstattung auch die Interessen der EigentümerInnen widerspiegeln, liegt nahe. Beispielsweise zeigt eine Studie über die Positionierung österreichischer Medien zu Vermögenssteuern, dass die überwiegende Anzahl an Artikeln und Kommentaren solchen Abgaben negativ gegenübersteht, während die meisten Umfragen auf eine breite Unterstützung in der Bevölkerung für diese Maßnahme hindeuten.
Einfluss durch Spendierfreude statt Steuermoral
Große Vermögen sichern nicht nur Einfluss auf öffentliche Debatten und wirtschaftspolitische Entscheidungen, sie erleichtern auch die Umgehung von getroffenen Beschlüssen und Gesetzen. So zeigen Datenlecks, dass Steuervermeidung vor allem bei reicheren Personen vorkommt: Etwa die Hälfte aller nicht deklarierten Vermögen werden den reichsten 0,01 Prozent zugeordnet. Der französische Ökonom und Chef der neuen Europäischen Steuerbeobachtungsstelle, Gabriel Zucman, hat errechnet, dass fast sechs Billionen Dollar oder 8 Prozent der weltweiten privaten Finanzvermögen offshore gebunkert werden. Dadurch entgehen der öffentlichen Hand 130 Mrd. Euro pro Jahr an Steuern.
Die Steuervermeidung und -hinterziehung von Reichen und multinationalen Konzernen bringt die Staatshaushalte um wichtige Einnahmen, die bei öffentlichen Dienstleistungen und beim Ausbau des Wohlfahrtsstaates fehlen. Stattdessen wird eine wachsende Lücke zwischen privatem und öffentlichem Vermögen sichtbar: Während öffentliches Vermögen eine zentrale Rolle in der Nachkriegsära spielte, steht es seit Jahrzehnten durch Privatisierungen und Deregulierungen unter Druck. Vor diesem Hintergrund wurde der Einsatz privater Vermögen zur Finanzierung gesellschaftlicher Aufgaben häufiger, zum Beispiel durch große Spenden von Reichen. Der Einsatz privater Vermögen im öffentlichen Interesse oder für vermeintlich wohltätige Zwecke birgt allerdings politische Brisanz, denn wo die Mittel eingesetzt werden, bestimmen die SpenderInnen und nicht die demokratisch gewählten Gremien. Die reichen GönnerInnen könnten beispielsweise die Renovierung des Museums im bürgerlichen Bezirk wichtiger finden als die Erweiterung des Kindergartens im ArbeiterInnenviertel, während die gewählte Stadtvertretung es anders reihen würde.
Demokratie stärken …
Der Zusammenhang von Überfluss und Einfluss ist in vielen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft sichtbar – und manchmal auch unsichtbar. Viele Menschen beschleicht deshalb das Gefühl, dass die Eliten mehr Rechte haben und es sich richten können, während sie selbst von der Politik im Stich gelassen werden. Dass sich manche von politischen Entscheidungsprozessen abwenden und andere mangels StaatsbürgerInnenschaft von politischer Mitbestimmung ganz ausgeschlossen sind, verstärkt diese Schieflage weiter. Welche Maßnahmen können helfen, die ökonomische Ungleichheit und die politischen Machtungleichgewichte zu reduzieren?
Demokratiestärkende Maßnahmen müssen zugrunde liegende sozioökonomische Ungleichheiten mitdenken. Zentrale Faktoren für gesellschaftliches und politisches Engagement sind ökonomische und soziale Sicherheit, die unter anderem durch eine gute Ausbildung, sichere Arbeitsplätze, stabile Einkommensentwicklung sowie gesellschaftliche Anerkennung gestärkt wird. Diese Sicherheiten verbessern die Chancen für politische Teilhabe und das aktive Eintreten für die eigenen Interessen.
… Ungleichheit reduzieren
Gleichzeitig müssen die Möglichkeiten von privater Einflussnahme auf die Politik reduziert werden. Zaghafte Schritte, wie das Beschränken von Parteispenden oder das Führen von Transparenzregistern, sind zahnlos, wenn sie wie bisher leicht umgangen werden können. Mit Blick auf politische Einflussnahme ist vor allem die drastische Vermögenskonzentration in Angriff zu nehmen. Wenn im reichsten Prozent der Bevölkerung fast 40 Prozent aller Vermögen angehäuft sind, eröffnet das den Überreichen viele Möglichkeiten, ihre politischen Interessen finanziell voranzutreiben.
Der Verteilungsforscher Thomas Piketty schlägt eine radikale Umverteilung der Vermögen vor mit stark progressiven Steuern gegen Überreichtum, sinnvollen Begrenzungen bei ManagerInnengehältern, einem Grundvermögen für alle jungen Menschen ungeachtet ihrer sozialen Herkunft und Erbschaftssteuern gegen die Vererbung von Privilegien. Gleichzeitig gilt es, das öffentliche Vermögen zu stärken und zu erweitern, denn ein gut ausgebauter Sozialstaat erhöht die Spielräume für politische Teilhabe für alle, die sich nicht durch Privatvermögen Gehör verschaffen können. Vom Bildungs- bis zum Gesundheitssystem sollten die einzelnen Pfeiler des Sozialstaates die Menschen dazu ermächtigen und motivieren, ihre Interessen einzubringen und gemeinsam zu vertreten. Dazu müssen allerdings auch die Kanäle geschaffen werden, diese Anliegen in die politische Arena zu tragen. Die Stärkung von Interessenverbänden von ArbeitnehmerInnen und KonsumentInnen sowie zivilgesellschaftlichen Organisationen ist zentral, um die gemeinsamen Interessen der breiten Bevölkerung den Einzelinteressen einer finanzkräftigen Elite entgegenzustellen.
Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine überarbeitete und stark gekürzte Fassung des Editorials der Zeitschrift „Wirtschaft und Gesellschaft“, 2021, Band 47, Nr. 3. In dieser Ausgabe finden sich u. a. interessante Beiträge zu Einstellungen zum Sozialstaat und zum Buch „Der entzauberte Staat“.
Dieser Beitrag wurde am 06.12.2021 auf dem Blog Arbeit & Wirtschaft unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den Nutzer*innen eine freie Bearbeitung, Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung des*der Urheber*in sowie unter gleichen Bedingungen.