Am ersten Novemberwochenende 2021 folgten Hunderte dem „Aufruf für die Kunst“ und demonstrierten in Riace unter dem Motto „Abbracciamo Riace e Mimmo Lucano“ (Umarmen wir Riace und Mimmo Lucano).
Auch in Berlin gab es am 6. November eine Kundgebung für Riace und Mimmo Lucano. 40 Menschen machten deutlich:
„Geflüchtete aufzunehmen ist ein Gebot der Menschlichkeit und kein Verbrechen!“
Das Bergdorf Riace im süditalienischen Kalabrien hat seit Ende der 1990er Jahre solidarisch Geflüchtete aufgenommen. In kleinen Werkstätten und Läden fanden Einheimische und Zugereiste bezahlte Arbeit. Das von Abwanderung betroffene Dorf wurde neu belebt und bekam eine Zukunftsperspektive. Seit zwei Jahren gibt es wieder eine eigene Olivenöl-Produktion.
Riace und sein ehemaliger Bürgermeister Domenico (Mimmo) Lucano wurden weltweit bekannt für das „Modell Riace“. Dazu gehörte auch die strikte Zurückweisung der Mafia, die in Kalabrien sehr stark ist. 2018 setzte verstärkte Repression ein. Mimmo und 26 Mitstreiter*innen wurden angeklagt wegen der Förderung illegaler Einreise.
Ende Oktober diesen Jahres wurde Mimmo Lucano zu 13 Jahren und 2 Monaten Gefängnis verurteilt. Verurteilt für seine Solidarität und verurteilt dafür, dass ihm die Schutzsuchenden wichtiger waren als die Bürokratie. Er nahm alle auf, die nach Riace kamen – und oft von offiziellen Stellen geschickt wurden. Mit den öffentlichen Geldern – deren Veruntreuung ihm nun vorgeworfen wird – versorgte er mehr Menschen als vorgesehen. Er unterstützte die Geflüchteten wo er nur konnte.
Am 6. November haben wir auch von Berlin aus Riace und Mimmo Lucano umarmt. Auf dem Oranienplatz in Kreuzberg mit seiner Geschichte der Selbstorganisation von Geflüchteten versammelten wir uns am Denkmal für die Opfer von Rassismus und Polizeigewalt, um ein Signal der Solidarität zu senden:
„Riace ist ein Beispiel für eine Willkommenskultur, in der jeder Mensch als Mensch zählt und keine*r zurückgelassen wird. Das ‚Modell Riace‘ und Domenico (Mimmo) Lucano haben vielen Menschen Hoffnung gegeben, dafür haben Mimmo und seine Mitstreiter*innen Anerkennung und Unterstützung verdient.“
Das Urteil gegen Mimmo und seine Mitstreiter*innen ist eine Schande
Der stellvertretende Vorsitzende der NaturFreunde Deutschland, Uwe Hiksch, nannte das Urteil gegen Lucano eine Schande. Domenico Lucano habe gezeigt, wie eine an Menschenrechten und Humanität ausgerichtete Arbeit für Geflüchtete aussehen müsse. Dafür dürfe er nicht verurteilt werde. Die Bundesregierung solle Italien zur Zurücknahme des offensichtlich politischen Urteils auffordern.
Das Urteil gegen den ehemaligen Bürgermeister stehe in der Kontinuität der unmenschlichen Politik gegen Geflüchtete in der EU (Rabe Ralf April 2021, S. 6). Es sei völlig inakzeptabel, dass auf den verschiedenen Fluchtrouten fast täglich Menschen sterben müssten. Wer die völlig entkräfteten Menschen an der Außengrenze Polens sehe, müsse auf die Straße gehen und für eine humanitäre Flüchtlingspolitik der EU demonstrieren.
Hiksch betonte, dass für die menschenverachtende Flüchtlingspolitik im Mittelmeer oder an den EU-Außengrenzen die restriktive deutsche Abschottungspolitik gegen Geflüchtete maßgeblich mitverantwortlich sei, und forderte alle Kommunen in Deutschland auf, die Kampagne „Schafft sichere Fluchthäfen“ aktiv zu unterstützen. Vom neuen rot-grün-roten Senat erwartet er, dass die Abschiebungen aus Berlin beendet werden.
Bruno Watara von der Berliner Gruppe „Réenchanter l’Afrique“ sprach über seine Erfahrungen bei einem Besuch:
„Als ich in Riace ankam, spürte ich eine andere Atmosphäre. Alle Flüchtlinge waren zusammen. Afghanen aßen mit Maliern, Nigerianer aßen mit Senegalesen, sie lebten in Harmonie.
Das Asylsystem in Deutschland steckt uns in Schubladen: Asylberechtigte, Anerkannte nach der Genfer Flüchtlingskonvention, subsidiär Geschützte, Geduldete und ‚Ausreisepflichtige‘… Mit jeder Schublade sind bestimmte Rechte oder Einschränkungen von Rechten verbunden.“
Deutschland kooperiere bei der Migrationsabwehr mit vielen Diktaturen, und die EU arbeite in sogenannten „Grenzschutzprojekten“ auch mit Folterstaaten zusammen. Daher könne es in Deutschland keine fairen Asylverfahren geben.
Watara hat selbst neun Jahre in einem Flüchtlingslager in Mecklenburg-Vorpommern gelebt, nachdem er aus Westafrika flüchten musste. Nun setzt er sich für diejenigen ein, die viele Jahre in solchen Einrichtungen verbringen müssen, oft 10, manche fast 20 Jahre. In dieser Zeit dürften sie nichts tun, sie dürften nicht arbeiten, könnten kein Geld nach Hause schicken. „Sie verlieren den Kontakt zu ihren Angehörigen, und wenn sie nach so langer Zeit draußen leben dürfen, dann können sie das oft nicht mehr und verzweifeln“, klagte Bruno Watara die unmenschliche deutsche Flüchtlingspolitik an.
Eintreten für die Rechte von Geflüchteten überall
„Regelmäßig schiebt Berlins Ausländerbehörde rechtswidrig zur Nachtzeit ab, obwohl dies nur in absoluten Ausnahmefällen erlaubt wäre“, kritisiert Nora Brezger vom Flüchtlingsrat Berlin. Auch das Eindringen in die Wohnung des Abzuschiebenden ohne Durchsuchungsbeschluss sei rechtswidrig, ebenso die regelmäßige Abnahme der Handys durch die Berliner Polizei und der dadurch gezielt verwehrte Zugang zu Rechtsschutz.
„Anstatt den Fokus auf die Ausweitungen der bestehenden Bleiberechtsregelungen zu legen und geduldeten Menschen eine Perspektive zu bieten, setzt auch Berlin in vielen Fällen auf Abschreckung und Abschiebung“, stellt sie fest. Auch Abschiebungen von Menschen mit einer Behinderung oder psychischen Erkrankung seien keine Seltenheit. Brezger fordert: „Berlin muss den bereits im letzten Koalitionsvertrag versprochenen Paradigmenwechsel endlich vollziehen, weg von Abschiebungen, hin zum Bleiberecht.“
Die Veranstalter der Kundgebung am 6. November betonten:
„Solidarität mit Riace bedeutet auch, sich für die Rechte aller Geflüchteten überall einzusetzen. Für diejenigen, die noch unterwegs sind, und für diejenigen, die es geschafft haben, an einem sicheren Ort anzukommen. Die tödlichen Grenzen der Festung Europa verhindern dies viel zu oft. Es sind Europas Tote, die in der Sahara verdursten, im Mittelmeer ertrinken, auf der Balkanroute oder aktuell an der polnischen Grenze getötet werden.“
Zu oft sei auch Berlin kein sicherer Ort für Schutzsuchende.
Auf dem Oranienplatz kam auch Domenico Lucano zu Wort. Einige Passagen aus seinem soeben auf Deutsch erschienenen Buch Das Dorf des Willkommens (Riace, Il paese dell’accoglienza – Titel der italienischen Ausgabe: „Il fuorilegge. La lunga battaglia di un uomo solo“) wurden vorgelesen. Und so soll auch dieser Beitrag mit seinen Worten enden:
„Immer wenn ich am Strand stand, die Füße im Wasser, und hinausschaute aufs Meer, dann hatte ich eine Gewissheit: Wer immer an unsere Tür klopft, ob es ein Elender ist, ein Flüchtling oder ein Reisender, er bedeutet die einzige Rettung für die ganze Welt, die einzige Hoffnung gegen die Gewalt der Geschichte.“
Gekürzte Fassung eines Artikels über Riace, der im Dezember 2021 in der Berliner Umweltzeitung „Der Rabe Ralf“ veröffentlicht wurde.
Weitere Informationen: www.riace.solioeko.de