Jedes Jahr müssen tausende Menschen in Deutschland ins Gefängnis, weil sie sich kein Ticket für Bus oder Bahn leisten konnten. Im Zuge unserer gemeinsamen Recherche mit dem ZDF Magazin Royale veröffentlichen wir erstmals interne Dokumente der Justizministerien zum System der Ersatzfreiheitsstrafen.
Eine S-Bahnfahrt wie so viele andere. Ein Kontrolleur geht durch die Sitzreihen. „Fahrscheine, bitte“, sagt er. Mitfahrende strecken ihm Displays und Zettel entgegen. Nur eine Person nicht. Bei ihr bleibt er stehen, schreibt ihre Kontaktdaten auf und überreicht ihr einen Zahlschein über 60 Euro. Aber das wird die Person genauso wenig zahlen können wie den Fahrschein für 3,80 Euro. Und dafür ins Gefängnis gehen.
Die Haftstrafe ist das härteste Mittel, das einem Rechtsstaat zur Verfügung steht. Sie stellt in Deutschland die letzte Konsequenz dar. Aber nicht nur Menschen, die wegen Raub, Mord oder Totschlag verurteilt wurden, sitzen im Gefängnis – auch Menschen, die kein Geld haben, um sich ein Ticket zu kaufen.
Denn ohne Fahrschein mit Bus oder Bahn zu fahren, ist in Deutschland eine Straftat. Wer dabei erwischt wird und die 60 Euro erhöhtes Beförderungsentgelt nicht zahlen kann, wird von den Verkehrsverbünden angezeigt. Grundlage dafür ist § 265a des Strafgesetzbuchs, „Erschleichen von Leistungen“ – ein Relikt aus dem Jahr 1935.
Tausende Menschen im Knast
Gemeinsam mit dem ZDF Magazin Royale haben wir in den vergangenen Monaten rund um diesen Straftatbestand recherchiert. Verurteilt werden dadurch vor allem Menschen, die wenig oder gar kein Geld haben. Mehrere tausend Menschen sitzen deshalb laut Schätzungen jedes Jahr im Gefängnis. Eine genaue Zahl wird statistisch nicht erfasst.
Als Strafmaß ist für § 265a bis zu ein Jahr Haft oder eine Geldstrafe vorgesehen. Haftstrafen werden zwar nur selten erteilt, meist kommt es zu einer Geldstrafe. Eigentlich hat jede:r, der eine Geldstrafe erhält, die Möglichkeit, diese abzuarbeiten. Wenn man jedoch keinen Wohnsitz hat oder von einer Suchtkrankheit betroffen ist, ist dies meist nicht möglich. Dann kommt es dann zu einer Ersatzfreiheitsstrafe – die Betroffenen müssen ins Gefängnis. Oft über mehrere Monate.
Die meisten, die eine Ersatzfreiheitsstrafe unter anderem wegen Fahrens ohne Fahrschein absitzen, sind arbeitslos, jede:r Dritte suchtkrank und mehr als ein Achtel obdachlos – so geht es aus einer Studie der Soziologin Nicole Bögelein in Mecklenburg-Vorpommern hervor.
Hafttag kostet bis zu 188 Euro Steuergeld
Eine Ersatzfreiheitsstrafe ist für den Staat ziemlich teuer. Ein Hafttag kostet die Steuerzahler je nach Bundesland zwischen 98 und 188 Euro pro Tag. Jede vierte Person, die eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßt, sitzt wegen Fahrens ohne Fahrschein ein, Tendenz steigend. Das geht aus dem internen Abschlussbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur „Prüfung alternativer Sanktionsmöglichkeiten“ zur „Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen“ hervor, den wir erstmals veröffentlichen. Der Bericht wurde 2016 von den Landesjustizministerien in Auftrag gegeben und 2019 intern vorgelegt, jedoch bisher nicht veröffentlicht.
Immer wieder wird in der Politik darüber diskutiert, Fahren ohne Ticket zu einer Ordnungswidrigkeit herabzustufen. Das hätte den Vorteil, dass dann nur noch ein Bußgeld fällig wäre. Wer dies jedoch nicht bezahlen kann, kommt ebenso in Haft – jedoch für eine kürzere Zeitspanne. Unsere Gespräche mit Sozialarbeiter:innen, Wissenschaftler:innen und Jurist:innen zeigen, dass die Lösung darin liegen könnte, die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs günstiger oder sogar kostenlos zu machen. Eigentlich sollten die Sozialtickets dies bereits leisten, jedoch liegt in vielen Städten der Preis dafür über dem vorgesehen Hartz IV-Satz von 40 Euro. In einem Drittel der deutschen Großstädte liegt der Preis für das Sozialticket darüber.
Auch wenn sich die Ampel-Koalition in ihrer Koalitionsvereinbarung darauf geeinigt hat, „das Sanktionensystem einschließlich Ersatzfreiheitsstrafen“ zu überarbeiten, ist kaum zu erwarten, dass es demnächst Änderungen gibt.
Wer keinen Einspruch erhebt, gilt als verurteilt
Der von uns veröffentlichte Bericht der Arbeitsgruppe verdeutlicht, wie die Politik bisher zur Herabstufung der Straftat zu einer Ordnungswidrigkeit steht: Es sei „sozialschädlich“ und würde den Verkehrsverbünden mehrere hundert Million Euro Schaden jährlich verursachen: „Als Verhalten, das sich nicht nur gegen das Vermögen des Beförderungsverkehr richtet (…) ist vorsätzliches Schwarzfahren auch als solches strafwürdig.“
Die steigende Zahl der Verurteilungen sei laut des Berichts für die Justizministerien ein Grund dafür, warum an der Straftat festgehalten werden solle. Nicht berücksichtigt wird dabei, dass die Zahl der Menschen, die wenig oder gar kein Geld haben, immer mehr zunimmt.
Den ersten Anstoß für die Inhaftierungen wegen Fahrens ohne Fahrschein geben die Verkehrsverbünde. Wenn jemand das erhöhte Beförderungsentgelt nicht zahlt, erstatten sie Anzeige, die Staatsanwaltschaft leitet ein Verfahren ein und beantragt in der Regel beim Gericht den Erlass eines Strafbefehls. Mit dem wird ohne gerichtliche Verhandlung eine Strafe verhängt und lediglich per Brief mitgeteilt. Wer dagegen innerhalb von zwei Wochen keinen Einspruch erhebt, gilt als verurteilt. Wer keinen festen Wohnsitz hat, bei dem kommen solche Briefe meist nicht an.
Strafe löst keine Probleme, sondern schafft neue
Aber auch wer seine Geldstrafe abgesessen hat, ist damit noch immer nicht von der Zahlung des erhöhten Beförderungsentgeltes befreit. Wer entlassen wird, muss sich also nicht nur um Probleme wie die Kündigung von Wohnung oder Arbeit kümmern, sondern auch, wie dieser Betrag an den jeweiligen Verkehrsverbund gezahlt werden kann.
Und wenn Betroffene nach einer Haft Termine persönlich wahrnehmen müssen, beispielsweise der Weg zu Ärzt:innen für die Substituierung, zur Bewährungshilfe oder zum Jobcenter, können sie sich in der Regel wieder keinen Fahrschein leisten. Werden sie dann kontrolliert, kommt es meist wieder zu einer Anzeige und einer Geldstrafe, die sie nicht zahlen können. So landen viele Betroffene erneut im Gefängnis, weil sie kein Geld für einen Fahrschein hatten. Auch wenn er nur 3,80 Euro kostet.
Das ZDF Magazin Royale hat im Rahmen der Recherche für 10.080 Euro sieben Menschen vor insgesamt 675 Hafttagen bewahrt und somit dem Staat circa 101.250 Euro erspart. Die Initiative freiheitsfonds.de hat in Berlin 21 Menschen, die bereits in Haft waren, mit 28.420 Euro aus dem Gefängnis befreit, damit weitere 2.130 Hafttage aufgelöst und somit dem Staat 319.000 Euro erspart.
→ Zum Beitrag des ZDF Magazin Royale
→ Zum Bericht der Justizministerkonferenz
→ Aktenanalyse zum Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe in Nordrhein-Westfalen
Die Recherche von Vera Deleja-Hotko ist bei FragDenStaat erschienen. Wir bedanken uns für die freundliche Einwilligung zur Veröffentlichung.