Am 5. und 6. November fand die Verleihung der Hans-Carl-von-Carlowitz-Nachhaltigkeitspreise 2021 in Chemnitz unter der Schirmherrschaft des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer statt. Preisträgerin war neben Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, und Prof. Dr. Klaus Bosselmann, Mitautor der Erd-Charta und leidenschaftlicher Verfechter für die Rechte unseres Planeten, auch die international renommierte indische Wissenschaftlerin, Globalisierungskritikerin und Umweltaktivistin Dr. Vandana Shiva, die aus Indien live zugeschaltet war.
Der Preis, dessen Verleihung im Rahmen der Nachhaltigkeitskonferenz 2021 zusammen mit einem „Mutter-Erde-Fest“ anlässlich des 10jährigen Bestehens der Carlowitz-Gesellschaft stattfand, geht auf Hans Carl von Carlowitz (1645 – 1714), Oberberghauptmann am kursächsischen Hof in Dresden, zurück, der als Begründer des Prinzips der Nachhaltigkeit gilt. Er formulierte 1713 in seinem Werk zur Forstwirtschaft „Sylvicultura oeconomica“ erstmals, dass immer nur so viel Holz geschlagen werden sollte, wie durch planmäßige Aufforstung wieder nachwachsen kann und legte damit den Grundstein für den heutigen Begriff der Nachhaltigkeit.
Bei der diesjährigen Preisverleihung wurde Vandana Shiva als eine „unüberhörbare, authentische Stimme der Nachhaltigkeit, tief verbunden mit ihren Mitmenschen und mit den Nachhaltigkeitspionieren weltweit“ geehrt. Die Laudatio hielten Joseph Wilhelm, Gründer und Geschäftsführer von Rapunzel Naturkost und Dr. Tewolde Berhan Gebre Egziabher, langjähriger Generaldirektor der Umweltschutzbehörde von Äthiopien.
In ihrer Dankesrede bekräftigte Dr. Shiva ihre Nähe zu Carlowitz und dem Schutz des Waldes, der ihr durch die Arbeit ihres Vaters, einem Förster im Wald des Himalaya, bereits in die Wiege gelegt wurde. Das Verschwinden der Wälder ihrer Heimat durch Abholzung als Kind mitansehen zu müssen, war damals ein einschneidendes Erlebnis für sie. Ihr Engagement als Aktivistin für Ökologie geht zudem auch auf die Chipko-Bewegung zurück, die in den 70er Jahren in ihrer Region zum Schutz der Bäume entstand und bei der Frauen durch das Umarmen der Bäume deren Fällung verhinderten.
„Vor 50 Jahren schon wussten wir um die ökologische Funktion der Bäume. Das einzige, was man aus Sägemühlen bekommt, sind Bretter. Wälder hingegen sind die Quelle des Bodens, des Wassers und des Sauerstoffs“, sagt sie und unterstreicht damit die essentielle Rolle, die Wälder für unser Leben auf der Erde spielen.
Im Folgenden geben wir weitere Auszüge der Übersetzung ihrer Rede wieder, in der sie immer wieder auf die Zusammenhänge zwischen Raubbau an der Natur und Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts mit den aktuellen Krisen wie Klimazerrüttung, Krankheit und Seuchen sowie Hunger und Mangelernährung eingeht.
Diese Zusammenhänge zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken, indem wir Biodiversität bewahren und fördern und mit der Natur arbeiten, anstatt gegen sie, ist laut Dr. Shiva die große Aufgabe, die uns jetzt bevorsteht.
Auszüge aus der Rede von Vandana Shiva am 5.11.2021 in Chemnitz
Ökologische Krisen
„Jede ökologische Krise, vor der wir stehen, kann zum Waldsterben und zur Waldabholzung zurückverfolgt werden. Über 20 % unserer Treibhausgasemissionen kommen aus der Änderung der Bodennutzung. Es geht also um die Zerstörung der Regenwälder des Amazonas für den Sojaanbau. Dort gab es einen 40-fachen Anstieg des Einsatzes von Glyphosat während der letzten Jahre, seitdem genmanipuliertes Soja in Brasilien angebaut wird. Ich habe mit der brasilianischen Regierung vor Jahren zusammengearbeitet, um die genetisch modifizierten Pflanzen aus dem Land fernzuhalten, aber die Regierung hat sich dafür entschieden. Der Regenwald im Kongo wird für Palmöl zerstört. In Indonesien dasselbe. Wir brauchen kein Palmöl im Regenwald. Wir brauchen auch keine genetisch modifizierten Sojabohnen im Amazonas. Das führt nicht nur zum Klimawandel, sondern das ist auch die Wurzel der Pandemien, vor denen wir stehen. Wenn wir uns die Ebola-Pandemie anschauen, die Influenza-Pandemie, MERS, SARS, West-Nil-Virus, das Zika-Virus, all diese Pandemien sind aus Wäldern gekommen. Neue Krankheiten entstehen, weil die globalisierte industrialisierte Lebensmittelproduktion in die ökologischen Lebensräume von anderen Spezies eingreift und Tiere und Pflanzen manipuliert, ohne Respekt für die Integrität und die Gesundheit des Ökosystems.“
Gesundheit
„Die Gesundheit der Erde und unsere Gesundheit sind miteinander verbunden. Während Regenwälder zerstört werden und giftige und nährstoffarme Materialien produziert werden, synthetische Chemikalien auf dem Land ausgebracht werden, sind wir durch Krankheit miteinander verbunden. Uns töten nicht nur diese neuen Krankheiten, sondern auch die schlechten Lebensmittel. Die Forschung zeigt, das ultraverarbeitete Lebensmittel für 75 % der chronischen Krankheiten verantwortlich sind. Wenn man dann noch Infektionen hinzufügt, wie Corona zum Beispiel, dann steigt die Sterblichkeit um 9,5 % durch Komorbiditäten.“
Industrielle Landwirtschaft
„Die industrielle Landwirtschaft mit ihrem grenzenlosen Appetit treibt den Klimawandel. 50 % aller Treibhausgasemissionen kommen aus der globalisierten industrialisierten Lebensmittelproduktion. Das tut der Erde Gewalt an, es tut den Kleinbauern Gewalt an, die 80 % unserer Lebensmittel produzieren. Das sind Zahlen der FAO. Kleinbauern nutzen nur 20 – 25 % des Bodens. Hingegen sind 75 % des Bodens unter industrieller Produktion, die uns nur 20 % der Lebensmittel zur Verfügung stellt, die wir essen, und es sind zudem schlechte Lebensmittel, die uns krank machen. Trotzdem sehen wir, dass die Kleinbauern zerstört werden.“
COP 26
„Die meisten Menschen vergessen, dass der UN-Rahmenvertrag zum Klimawandel in Rio schon 1982 unterzeichnet wurde. Die Tatsache, dass wir seit dem 26 COPs gebraucht haben, und die Emissionen immer noch weiter steigen, zeigt, dass es nicht funktioniert. In Kopenhagen wurde der UN-Klimarahmenvertrag getötet. Die Verschmutzer haben sich zusammengesetzt und haben gesagt, OK, lasst uns doch freiwillige Abkommen treffen, wozu brauchen wir denn rechtlich bindende Abkommen? Und das versuchen die Gentechnik-Konzerne auch heute noch durchzusetzen, um ihre genetisch veränderten Saaten ausbringen zu dürfen. Das ist eine massive Veränderung, denn ein genetisch modifizierter Samen führt zu zehntausend Veränderungen im Ökosystem. Alle, die auf dem Feld arbeiten, wissen, dass die neuen genetisch modifizierten Saaten reguliert werden sollten. Diese Deregulierung ist ein großer Teil das Problems.“
Ethische Verpflichtung
„Die Frage der Wälder ist eine dringende Frage und trotzdem ist das einzige, was dazu gesagt wird, dass bis 2030 die Abholzung aufhören soll. Das sind noch 10 Jahre, bis dahin werden die Urwälder verschwinden und es wird kein Wald mehr übrig sein, den wir schützen können. Es wird keine indigenen Völker mehr geben, die uns lehren können. Es wird keine Artenvielfalt mehr geben, die uns gesund erhält. Deswegen müssen wir heute handeln und ich hoffe, dass die Carlowitz-Gesellschaft dabei ein führende Rolle einnehmen kann in der Transformation hin zu mehr Verantwortung, zu mehr Engagement, denn das ist der Weg, auf dem wir weitergehen müssen und auf dem wir die Erinnerung an Carlowitz lebendig halten. Die Herausforderung der Nachhaltigkeit heute beinhaltet auch eine ethische Verpflichtung, das Richtige zu tun. Wie ich immer sage, es reicht nicht aus, eine Entscheidung zu treffen, aber es ist eine spontane Entscheidung, das Richtige zu tun. Ich habe spontan entschieden, dass ich mein Leben der Nachhaltigkeit widmen möchte, das habe ich bereits 1987 entschieden. Die richtigen Handlungen kommen aus dem Gewissen, sie kommen aus unserem eigenen Gefühl. Wir dürfe nicht weiter das Falsche tun.“
Net Zero
„Der Begriff Net Zero, der in Bill Gates Buch „How to avoid a climate disaster“ eingeführt wurde, kann das Problem nicht lösen. Net Zero wird die Emissionen nicht aufhalten, sondern es geht nur darum, die Emissionen anders zu verstecken und anders zu verbergen. Unsere Wälder und unsere Böden sollten voller Leben sein, denn sie können das CO2 aus der Atmosphäre durch Fotosynthese und durch Schaffung von Nährstoffen nutzbar machen. Das sind lebende Systeme, die das Leben schaffen. Das ist genau das, was Carlowitz gemeint hat. Und diese Systeme werden nun reduziert zu bloßen Dingen, während die Verschmutzer weiter unsere Erde verschmutzen. Heute morgen habe ich gesehen, dass der ehemalige Direktor der Bank of England jetzt die Verhandlungen in Glasgow führt und er hat ein Wort benutzt, das mich sehr wütend macht: er hat gesagt, wir haben die Pläne für eine neue Architektur für mehr Klimaschutz und wir müssen die Tätigkeiten, die die Verschmutzung verursachen, nicht ändern, sondern wir müssen neue Wege finden, die ökologischen Funktionen zu monetarisieren. Und diese Logik war die Logik, gegen die Carlowitz vorgegangen ist.“
Forschung in Indien
„Wir haben gelernt, dass wenn man mit der Natur zusammenarbeitet, man mehr produzieren kann. Es reicht nicht aus, Lebensmittel, die fast keinen Nährwert haben, zu produzieren. Wir messen den Nährwert pro Fläche und wir schaffen lokale Wirtschaften, die die Menschen ernähren können. Unsere Forschung zeigt, dass wenn man anfängt, die Biodiversität zu intensivieren, wenn man sich um den Boden kümmert, sich um das Saatgut kümmert, wie Carlowitz es fordert, dann kann man sowohl mehr Lebensmittel als auch nährstoffreichere Lebensmittel produzieren. Unsere Forschung in Indien zeigt, dass wenn wir das überall in Indien tun würden, wir genügend Lebensmittel hätten für die doppelte Anzahl der indischen Bevölkerung. Dann müsste nicht mehr jeder vierte Inder hungrig und in seiner Entwicklung beeinträchtigt sein. Mangelernährung ist ein Symptom eines Systems, das nicht für die Menschen funktioniert. Klimawandel und Ausrottung sind Symptome von Systemen, die für den Planeten nicht funktionieren. Die gleichen Handlungen, die den Klimawandel lösen könnten, sind auch die Handlungen, die den Hunger auflösen könnten und Krankheiten verschwinden lassen könnten.“
Biologische und kulturelle Diversität
„Unsere Arbeit überzeugt mich, dass der Weg in die Zukunft der Weg der Artenvielfalt ist. In den vielen Jahren habe ich von der Artenvielfalt alle Lektionen gelernt, die ich jetzt beherrsche. Die Natur funktioniert nicht mit einem System der Uniformität und der Monokultur. Die natürliche Welt strebt immer wieder danach, sich auszudrücken, und auch Kulturen tun das. Kulturelle Diversität entspringt der Biodiversität, diverse Ökosysteme führen zu diversen Lebensformen, zu Koevolution von Lebensformen und Lebensräumen. Denn das schafft, regeneriert und bewahrt die biologische und kulturelle Vielfalt des Planeten, die uns alle reicher, sicherer und wohlhabender macht. Die Zerstörung von Biodiversität und die Auferlegung von Uniformität und Monokultur des Denkens führt zu homogenen Systemen, die anfällig sind für soziologische und ökologische Zusammenbrüche. Für mich als Ökologin funktioniert es nicht, eine Landwirtschaft auf der ganzen Welt zu betreiben, mit den gleichen Pflanzen, mit den gleichen Düngemitteln, das ist unverantwortlich. Denn, das ist nicht nur energieintensiv, und schafft Entropie, und deshalb auch Abfall, sondern sie ist zentralisiert und Zentralisierung funktioniert nicht in einer vernetzten Welt. Eine vernetzte Welt braucht Biodiversität.“
Heilung durch Biodiversität und Selbstregulierung
„Nachhaltigkeit und Biodiversität sind miteinander verbunden, denn die Biodiversität bietet die Vielfalt, die es uns ermöglicht, ökologische Störungen im System auszugleichen. Wir sollen heilen, das ist unsere Aufgabe. Wir heilen den Boden, wir heilen das Klima, wir heilen die Artenvielfalt, wir heilen die menschliche Gesundheit und unsere kaputten Gesellschaften. Zusätzlich zu ökologischer Stabilität stellt Biodiversität auch vielfältige Lebensentwürfe sicher, die alle unsere Bedürfnisse erfüllen können. Homogene Produktionszyklen brechen unsere Gesellschaften auseinander und machen die Produktion abhängig von externen Inputs und externen Märkten. Abhängigkeit führt zu Vulnerabilität und das sehen wir überall in der Dritten Welt.“
„Diversität führt zu ökologischem Raum, Geben und Nehmen, zur Zusammenarbeit, zu Gegenseitigkeit. Die Zerstörung der Biodiversität durch Monokulturen führt zu Krankheit und Zerstörung. Dezentralisierte Systeme geben uns die Kontrolle zurück. Meine Forschung zeigt mir, dass der Planet das Klima erschaffen hat. Das Klima enthält 4.000 parts per million CO2, was zum Entstehen von Pflanzen geführt hat, die Fotosynthese durchführen und das CO2 mit Hilfe von Sonnenlicht aus der Atmosphäre entfernen, die uns Sauerstoff geben und uns Nahrungsmittel im Austausch geben. Die Temperaturen sind von 290 Grad heruntergegangen auf Temperaturen, bei denen Menschen leben können. Und diese Gesetze der Selbstregulierung von lebenden Systemen auf Mikroebene, auf Zellebene, bis hin zu ganzen Ökosystemen und dem gesamten Planeten sind die Mechanismen, die wir stärken müssen. Diversität und Selbstregulierung gehen Hand in Hand.“
Chancen für die Zukunft
„Monokulturen, Wettbewerb und Gier haben die Menschheit an den Rand des Abgrunds gebracht. Heute stehen wir vor vielen Krisen, Gesundheitskrisen, Klimakrisen und Krisen brutaler sozialer Ungleichheit und tiefen kulturellen Kluften. Diversität kann die Heilung bieten, die die Natur und Gesellschaften brauchen. Angefangen mit der Bewahrung von Arten können wir lernen, wie wir auch kulturelle Diversität erhalten können. Wir sind Teil der Natur, wir sind Teil der Erde, wir sind nicht losgelöst von unserem Planeten. Aus der Natur können wir lernen, wie wir die Diversität wiedererlangen können. Durch kulturelle Diversität können wir die Saat des Friedens ausbringen. Wie Carlowitz gesagt hat, derselbe Prozess der Kultivierung von biologischer und kultureller Diversität ist auch der Weg hin zu Wohlstand und Reichtum und Gesundheit. Wir leben in einer Zeit der Panik im Bezug auf den Schaden, der angerichtet wurde, aber wir leben eben auch in einer Zeit der Chancen und Verpflichtung, weiter auf diesem Weg zu gehen. Die Erde lädt uns dazu ein, zu regenerieren, sie erinnert uns, dass in der Gesellschaft schon viel Wissen vorhanden ist und dass wir harmonisch zusammenarbeiten können. Wir leben in einer Zeit der Chancen, die wir nicht verpassen sollten.“
Die gesamte Rede von Dr. Shiva kann im YouTube-Video „Sächsische Nachhaltigkeitskonferenz 2021 mit Verleihung der Carlowitz-Nachhaltigkeitspreise“ angesehen werden (ab ca. 3:00:00).
Vandana Shiva ist Wissenschaftlerin, Autorin von mehr als 20 Büchern, Umweltaktivistin und Verfechterin von Ernährungssouveränität und Erddemokratie. Ihre Pionierarbeit in den Bereichen traditionelle Landwirtschaft und Frauenrechte, insbesondere im Globalen Süden, hat einen grundlegenden kulturellen Wandel der Sichtweise der Welt auf diese Themen bewirkt.
1993 erhielt sie den Right Livelihood Award, eine Auszeichnung, die als »Alternativer Nobelpreis« bekannt ist. Für ihre Arbeit erhielt sie zahlreiche weitere Auszeichnungen und Ehrungen, darunter den »Save the World«-Preis 2009 und den Sydney Peace Prize 2010.
Shiva arbeitet derzeit in Delhi und in Dehradun, Uttarakhand, bei Navdanya, einer von ihr gegründeten, gemeinschaftsbasierten, von Frauen geführten Bio-Farm, die zugleich eine Schule, ein Café und ein Bauern-Kollektiv umfasst. In der Bio-Farm werden Agrarökologie, Saatgutfreiheit und eine Vision der Erddemokratie gelebt, die Gerechtigkeit für die Erde und alle Lebewesen anstrebt.
Ihre aktuellen Bücher „Wer ernährt die Welt wirklich?“ und „Eine Erde für alle! – Einssein versus das 1%“ sind 2021 im Neue Erde Verlag, Saarbrücken erschienen.