Ein diversitätsbewusstes Lehrbuch verdeutlicht die Defizite des üblichen Sprachlernens.
„Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“, formulierte einst der Philosoph Ludwig Wittgenstein. In ihrem Lehrbuch „Hebräisch für Alle – Von der Sprache zur Vielfalt“ denkt Dr. Hila Amit diesen Ausspruch auf verblüffend naheliegende Art und Weise weiter und setzt ihn praktisch um. Um Vielfalt zu leben, zu beschreiben und umzusetzen, braucht es Sprache, wieso dann nicht gleich beim Spracherwerb damit anfangen? Beim Lernen einer neuen Sprache bewegt man sich wie auf wackligen Kindesbeinen in einer neuen Umgebung: Der Wortschatz ist begrenzt und bedingt die Themen, über die sich Lernende austauschen können.
Um lebensnahe Begegnung und Austausch zu ermöglichen, wäre es in eben dieser Situation die Aufgabe der Lehrbücher, Diversität und vielfältige Lebenslagen abzubilden. So könnten sie im Bereich des Sprachenlernens einen Beitrag für ein respektvolles Miteinander leisten, möglichst viele einschliessende Verbindungen schaffen und so einen Baustein für die Verbesserung der sozialen Realität bilden.
Viele Lehrbücher haben ein Problem – immer noch
Trotz des offensichtlichen Versuchs vieler Lehrwerke, Genderstereotype zu vermeiden, geht keines den Schritt, Diversität an sich zum Thema zu machen. Der Versuch beschränkt sich darauf, neben dem Wort „Anwalt“ auch das Wort „Anwältin“ zu vermitteln. Nahezu unmöglich ist es, ein Lehrwerk zu finden, das eine queere Person portraitiert oder über die Familienkonstellationen mit Vater-Mutter-Kind als Norm hinausgeht. So verfehlen sie zum einen, an der Lebensrealität vieler Lernenden anzuknüpfen und liefern zudem nur ein plattes Abbild der Lebensrealität jener Personen, zu der die neue Sprache den Lernenden Zugang verschafft.
Zudem finden sich in zahlreichen Materialien Klischees und Stereotypen bedienende Abbildungen, welche ignorant oder zumindest grob fahrlässig anmuten. In dem Türkisch-Lehrbuch eines grossen deutschen Lehrbuchverlags besteht eine Übungsaufgabe darin, verschiedene Vornamen den passenden Nationalitäten zuzuordnen. Ein anderes Beispiel bieten Französisch-Lehrbücher, die von exotischen Reisezielen schwärmen, welche – wie praktisch – Französisch als Landessprache führen. Die unschöne Kolonialgeschichte fällt hierbei unter den Tisch.
Diversität als Leitmotiv
Amits Sprachbuch ist anders. Sie macht deutlich, dass Sprachbücher nicht im kontextfreien Raum existieren, sondern ideologisch gefärbt sind. Politisch positioniert sich das Buch mit dem Fokus auf Diversität und dem Abbilden von Vielfalt, wodurch es in der Masse der Sprachbücher ein Alleinstellungsmerkmal erlangt.
„Hebräisch für alle“ präsentiert sich als queer-politisch, feministisch und emanzipatorisch. Amit verzichtet weitestgehend auf typische landeskundliche Texte und rückt die Lebenswelt der hauptsächlich weiblichen und queeren Charaktere in den Fokus. Dieser alltagsnahe Ansatz fusst auf einer von Amit angewandten Lehrmethode. Die Content-Based-Instruction-Methode geht davon aus, dass Spracherwerb am besten durch das Bearbeiten lebensnaher Themen in der Zielsprache gelingen kann. Der Lernerfolg sei grösser, wenn die Lernende sich in der Zielsprache mit einem Thema beschäftigt, welches sie anspricht und inhaltlich fesselt.
In diesem Sinne vermitteln die ersten Kapitel das nötige Handwerkszeug, um der Lernenden zunächst in einfachen Dialogen das nötige Sprachvermögen an die Hand zu geben und so mit anderen Hebräisch-Sprechenden in Kontakt treten zu können. Die Leserin lernt sich zu begrüssen und sich vorzustellen. Hierbei achtet Amit darauf, authentische Alltagssprache zu verwenden, wie sie auch von Muttersprachlerinnen gesprochen wird. In den fortgeschrittenen Lektionen finden sich etwas längere Texte, welche queere und nicht genderkonforme Lebensentwürfe abbilden.
Als Schriftstellerin literarischer Texte weiss Amit diese im Rahmen der sprachlichen Möglichkeiten ansprechend zu gestalten. Sie erzählt vom Leben eines alleinerziehenden Vaters, von der Hochzeit eines homosexuellen Paares oder dem Leben in einer Kommune. In die Texte eingeflochten sind Informationen über die gesellschaftliche Situation der Protagonist*innen.
Die anfängliche Skepsis der Eltern nach dem Outing wird thematisiert und auch über Praktisches, wie Adoptionsrecht und Elternzeit weiss Amit zu berichten. Auch wenn fraglich ist, ob die freundlich beschriebenen Handlungen der tatsächlichen Lebensrealität der marginalisierten Gruppen entsprechen, kommt die Lernende doch in jedem Fall in Kontakt mit Begriffen der hebräischen Sprache, welche vielfältige Lebensrealitäten beschreiben und kann sie in neuen Kontexten anwenden.
Eine Bereicherung
Das Buch ist sehr übersichtlich gestaltet und verzichtet weitgehend auf Bilder und Illustrationen. Begleitet werden die Lektionen von kurz gehaltenen Grammatikerklärungen, welche nach und nach eingeführt und in Übungen vertieft werden. Hier befindet sich auch die Schwachstelle des Buches, denn die Grammatik kommt gerade in den ersten Kapiteln etwas zu kurz. Das Buch scheint speziell für den angeleiteten Unterricht entwickelt worden zu sein. Für Selbstlernerinnen ohne Anleitung und Hebräisch-Vorkenntnisse, ist das Lehrbuch nur eingeschränkt zu empfehlen. Es müsste mit weiteren Lernmaterialen ergänzt werden, denn die Kenntnis der hebräischen Schrift wird vorausgesetzt und erschwert so den Einstieg.
Amit schafft mit „Hebräisch für Alle“ ein Sprachbuch, welches den Anspruch hat, es besser zu machen. Sie gibt Lernenden den Schlüssel in die Hand, um die neue Sprache vielfältig und den eigenen Bedürfnissen und der Lebenssituation entsprechend zu nutzen. Auch für Sprachinteressierte ohne das Ziel, die hebräische Sprache komplett zu erlernen, lohnt sich das Buch allein deshalb, weil es erfrischend anders ist. Es hebt sich von klassischen Sprachbüchern in der Erwachsenenbildung ab und könnte als anregendes Beispiel dienen, um auch andere Lehrbücher mit Fokus auf Diversität zu gestalten.
Rezension von Sophia Doppler
kritisch-lesen.de