Einige Jahrzehnte war der Name Libyen unausweichlich mit dem seines Anführer Muammar Gaddafi verbunden. Gestützt auf die immensen Ölvorkommen des Landes entwickelte das libysche Staatsoberhaupt eine vielgestaltige Einflussnahme auf die internationale Szene: Versuch des Zusammenschlusses mit einigen seiner arabischen Nachbarn, Unterstützung diverser terroristischer Gruppen auf allen Kontinenten, Finanzierung zahlreicher Projekte in Afrika usw. Seine Beziehungen zum Westen waren wechselhaft aber oft auch angespannt, denn über das Land war über Jahrzehnte ein Embargo verhängt, bevor es schließlich aufgehoben wurde.
Das libysche Regime stürzte jedoch 2011, nachdem Gaddafi das Land 42 Jahre regiert hatte.
Um diese bewegte Geschichte besser verstehen zu können, spricht Pressenza mit dem freien Journalisten Vincent Hugeux, einem bekannten Reporter, der von 1990 bis 2020 im internationalen Einsatz für die Zeitung L’Express war, einem Afrikakenner und Autor einer Biographie des libyschen Machthabers, deren Taschenbuchausgabe im vergangenen März bei Tempus/Perrin erschienen ist.
Interview mit Vincent Hugeux von Olivier Flumian
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Libyen war und ist ein großer Ölproduzent, 58% seines BIP generieren sich aus dessen Förderung. Was hat das Regime unter Gaddafi aus diesem Ölreichtum gemacht?
Paradoxerweise sind dem libyschen Machthaber sehr früh die negativen Seiten dieser Goldgrube bewusst geworden. Natürlich wusste er genau, was er dem schwarzen Gold zu verdanken hatte: Immense Vorräte an Devisen und ein unvergleichliches Machtinstrument, besonders gegen Ende des Jahrtausends, als er sein Land vom Status des globalen Außenseiters befreit hatte. Der Beduine hatte jedoch auch verstanden, dass der Besitz eines solchen Schatzes dazu verlocken könnte, die Hände in den Schoß zu legen – eine Haltung, die er während seiner Ansprachen mit vernichtendem Zorn anprangerte. Wozu noch gute Arbeit leisten, wenn das Geld in Strömen fließt? Warum schuften, wo doch Scharen von Immigranten aus Afrika oder Asien ins Land kommen und die undankbarsten Jobs übernehmen? Das Geld aus dem Öl hat ihm jedoch einen beneidenswerten Handlungsspielraum verschafft – sei es durch Investitionen in das Land (Straßen, Flughäfen und nicht zu vergessen das Mammutvorhaben des Großen Menschengemachten Flusses (Great-Man-Made-River-Projekt), einem Netz von Kanälen zur Wasserversorgung der Küstenstädte und zur Bewässerung immenser Flächen), sei es durch den „Kauf“ der Gefolgschaft der einflussreichen Stammesvertreter, sei es durch das verhätscheln einer überdimensionierten Armee, sei es durch die Stärkung seines Einflusses besonders auf dem afrikanischen Kontinent durch die Finanzierung des Neubaus von Moscheen, Krankenhäusern oder Universitäten oder die Kassen und Waffenkammern eines Mosaiks antiimperialistischer „Befreiungsbewegungen“ zu bestücken.
Die libysche Gesellschaft hat sich verändert – sie ist reicher und urbaner geworden und die Bevölkerungszahl stieg innerhalb von vierzig Jahren von 2 auf 6,5 Millionen. Welche Auswirkungen hatte das auf die materiellen Lebensverhältnisse und die sozialen Beziehungen der Libyerinnen und Libyer?
Sie waren zumindest sehr verschieden. Mehr als 90% der Bevölkerung lebt entlang der Mittelmehrküste. Auf diesem Küstenstreifen war die Modernisierung der Verhältnisse zwar ungleich verteilt, aber spektakulär. In Tripoli wie auch in Sirte wurden gigantische Konferenzzentren errichtet, die in ihren Ausmaßen den kontinentalen Ambitionen Gaddafis entsprachen. Im inneren des Landes jedoch, besonders in den südlichen Wüstenregionen um Fezzan, ist die Lage weitaus zwiespältiger. Auf dem Papier verfügte das dünn besiedelte Dschamahirija über die Mittel für einen beneidenswerten Wohlstand für seine Bürger. In Wirklichkeit gab es da aber gar nichts. Jedes Mal, wenn ich ein Stadtzentrum verließ, um eines dieser Gebiete am Stadtrand oder weiter entfernt zu erkunden, traf ich auf eine mittellose und sehr kritische Bevölkerung, die sich entsprechend im Schutz der Anonymität gegenüber den Vertretern der Macht äußerte. Die bereitwillig – und das nicht ohne Grund – die Missstände von Korruption, Vetternwirtschaft und Bürokratie anprangerte. Schaut man auf das Schicksal der libyschen Bevölkerung, so zeichnet sich die Bilanz Gaddafis einmal mehr durch Zwiespältigkeit aus. Er hat unermüdlich das Patriarchat zum Schrumpfen gebracht und zweifellos zu Gunsten der „Schwestern“ das soziale Korsett der Traditionen gelockert. Und doch weist sein Grünes Buch der Frau vor allem die Rolle als Ehefrau und Mutter zu. Und Gaddafi, beharrlich sexuell übergriffig, hörte nie damit auf, Frauen zu unterwerfen und zu erniedrigen, die er doch angeblich befreit hatte.
Gaddafi blieb 42 Jahre an der Macht. Wie erklärt sich die lange Dauer seines Regimes?
Die erbarmungslose Grausamkeit seines Unterdrückungsapparats reicht für eine Erklärung nicht aus. In den ersten Jahren seiner „Regentschaft“ erfreute sich der junge Offizier einer nicht zu verleugnenden Popularität. Er erscheint wie ein vollkommener Idealist, nüchtern und aufmerksam dem Schicksal der Benachteiligten gegenüber. Und er verkörpert einen radikalen Bruch mit dieser geschwächten Monarchie, die als distanziert, arrogant und dem Diktat des verhassten Westens unterworfen wahrgenommen wird. Unter dieser Voraussetzung hielt die Schonfrist, getrübt durch Streitigkeiten innerhalb des Conseil de Commandement de la Révolution (CCR) sowie echter oder vermeintlicher Komplotte nicht lange an. Wie jeder Autokrat verhärtete sich Gaddafi in der Widrigkeit und spielt die Diva, in dem er vorgab sein Volk aufzugeben, das seine visionären Geistesblitze wahrlich nicht verdient hat. Seine außergewöhnliche Widerstandsfähigkeit ist daher der Effizienz seines Sicherheitssystems und der Spaltung einer unterdrückten und zerbrochenen Opposition zu verdanken. Ich habe Gaddafi nie einfach nur als eine verrückte Persönlichkeit gesehen. Wie hätte sich ein Wahnsinniger vier Jahrzehnte am Steuer des libyschen Kahns halten sollen? Dazu bedurfte es einer Form von politischer Genialität, so grausam diese auch war. Ein Beispiel: Diese angeborene Wissenschaft der Stammes-Alchimie, ohne die ein Anführer aus einem niederen Stamm niemals hätte an die Macht kommen können. Später konnte Gaddafi geschickt mit den westlichen Energiegelüsten und mit der dschihadistischen Gefahr spielen, um sich von seinem Status des Ausgestoßenen und dem Wohltäter der Terroristen zu befreien, um so mit Gnade wieder aufgenommen zu werden.
Er hat mehrfach versucht, sein Land mit seinen arabischen Nachbarn zusammenzuschließen. Wie waren seine Beziehungen innerhalb der arabischen Welt?
Gaddafi, der danach strebte, der eifrigste Jünger des Nasserismus zu sein, zeigte diese Leidenschaft für eine Fusion in der schon an anderer Stelle erwähnten Entschlossenheit zum Panarabismus. In seinen Augen durfte das Schicksal der Umma nicht durch Grenzen eingeschränkt werden, die größtenteils aus der Kolonialzeit stammten und künstlich gezogen wurden, um den Preis von Absprachen zwischen den Westmächten zu zahlen. Zwischen 1969 und 1989 besiegelt der Machthaber somit ein Dutzend „Ehen“. Der größte Teil davon war nur von kurzer Dauer, nicht existenzfähig, ja sogar rein fiktiv. Und alle gingen in die Brüche oder endeten sogar in „Rosenkriegen“. Als Beispiele dieser „Versprechen“ seien Ägypten, Syrien, Tschad, Sudan, Algerien oder das Tunesien unter Habib Bourguiba genannt. 1974 abgeschlossen dauerten sie nur 48 Stunden. Die Zeit, die der „Karthagische Löwe“ benötigte, um den passende Verfassungsartikel ausfindig zu machen, um das Projekt zu torpedieren.
Die arabischen Potentaten konnten die Annäherungsversuche des von ihrer Jugend verehrten Muammar al-Gaddafi zwar nicht glatt zurückweisen, so beunruhigt sie doch sein Drängen, ja macht sie sogar wütend. Dies gilt umso mehr, als der Libyer im Laufe der Jahre die „Laschheit“ oder „Feigheit“ seiner Amtskollegen öffentlich geißelt. Und das auch im Rahmen von Gipfeltreffen der Arabischen Liga, die mitunter zum Psychodrama, ja sogar zur Farce wurden. Diese Feindseligkeit erreicht ihren Höhepunkt unter Anwar El Sadate, dem Nachfolger Nassers, indem sie im Juli 1977 in einen Blitzkrieg zwischen Ägypten und Libyen führte. Gleichzeitig deutet alles darauf hin, dass Kairo zu diesem Zeitpunkt in den Plan Washingtons mit taktischer Unterstützung durch Paris eingeweiht war, Gaddafi zu eliminieren. Ohne Zweifel kann die „Afrikanische Wende“, die von Tripolis am Ende des letzten Jahrhunderts vollzogen wurde, in Teilen mit dem großen Verdruss erklärt werden, den Gaddafi durch die Zurückweisungen seiner arabischen „Brüder“ erlebte.
– Gaddafi ließ sich als „König der traditionellen afrikanischen Könige“ bezeichnen. Wie waren seine Beziehungen zu Afrika, zu seinen Machthabern und seinen Völkern?
Auch hier müssen wir den Anschein, die rhetorischen Höhenflüge und die Effekthascherei mit Vorsicht genießen. Von der Vergeblichkeit seiner panarabischen Unternehmungen enttäuscht, setzt der Meister der Dschamahirija entschlossen das Segel gen Süden, in das Gewand des neuen Messias der Panafrikanismus gehüllt. Er hat dafür die Mittel – so wie er sowohl auf Zuckerbrot als auch auf Peitsche setzt. Seine zerstörerischen Kräfte wie auch seine Geldmittel sichern ihm die häufig angstbesetzte Loyalität schwacher Regime. Wie oft habe ich hinter den Kulissen eines Gipfeltreffens der Afrikanischen Union oder in den Vorzimmern der Präsidentenpaläste der Subsahara die namhaften Berater des Prinzen seufzen hören: „Was wollt Ihr? Es wäre selbstmörderisch, Gaddafi herauszufordern. Er füllt unsere Kassen, baut unsere Moscheen und droht damit, die eine oder andere Rebellion mit Waffen zu unterstützen, wenn einer aufmüpfig wird.“ Es ist außergewöhnlich, welche Faszination der Libyer noch nach seinem Tod auf einen erheblichen Teil der afrikanischen Intelligenzia ausübt – in Ermangelung von Ikonen nach dem Tod von Nelson Mandela. Besonders wenn man die diversen Versuche der Annexion des nördlichen Teils des Tschad betrachtet, den er immer als integralen Bestandteil Groß-Libyens gesehen hat, was ein großer Streitpunkt mit Frankreich unter Valéry Giscard d’Estaing und später François Mitterrand war. Privat konnte er seine dunkelhäutigen Gesprächspartner mit Herablassung bis hin zu Missachtung behandeln. In meiner Biografie verweise ich diesbezüglich auf einen Bericht von Jean Ping aus Gabun, den Leiter der Kommission der Afrikanischen Union zu der Zeit, als Gaddafi deren amtierender Präsident war. Ich war außerdem besonders im Zeitraum zwischen 1999 und 2000 Zeuge von kleineren Progromen, die gegen die eingewanderten Arbeiter aus der Subsahara gerichtet waren. Sie gingen von libyschen Geschäftsleuten mit dem Wissen und der Duldung passiv bleibender Ordnungskräfte aus, wenn sie nicht sogar deren Komplizen waren. Deshalb ist meiner Ansicht nach die Erhebung Gaddafis in den Stand eines panafrikanischen Helden ein reiner Trugschluss.
Das Regime erlebte in den vergangenen zwanzig Jahren den „Kalten Krieg“ und dann die Zeit „Nach dem Kalten Krieg“. Wie änderte sich Gaddafis Position in den internationalen Beziehungen?
Im Sommer 1969, als sich Gaddafi des Kommandos über das Land bemächtigte, konnte man ihn mit seiner Verehrung für Nasser und seiner anti-imperialistischen und revolutionären Haltung zu den natürlichen Verbündeten von Moskau zählen – zumal die Waffenfabriken der UdSSR den Großteil seiner militärischen Ausrüstung lieferten. Jedoch mit einigen Einschränkungen. Bekanntermaßen missbilligte Gaddafi den staatlichen Atheismus der Sowjetunion und sah Kapitalismus und Marxismus Seite an Seite, beide aus seiner Sicht überholte Doktrinen. Dazu kommt, dass er jenseits seiner Brandreden die größten amerikanischen Ölfirmen belieferte. Schließlich kann er Europa durch seinen Elan, seine Modernität und seine scheinbare Integrität für sich einnehmen. Georges Pompidou, der ihn 1973 im Elysée Palast empfängt, spricht zu ihm im Vertrauen als der „Hoffnung der arabischen Welt“.
Die Verhärtung des Regimes, die finanziellen und militärischen Zuwendungen an diffuse „Befreiungsbewegungen“ aller Art, einschließlich der exotischsten und marginalsten, sowie der Einsatz der Waffe des Terrorismus als Machtinstrument oder als Bestrafung, ruinierten das Wenige an Unterstützung, das er vom Westen noch hätte erhalten können und katapultierten ihn dauerhaft in Richtung der zukünftige „Achse des Bösen“.
Wie bereits erwähnt, ließen, die von der Reagan-Administration angeordneten Angriffe als Reaktion auf das Attentat auf die Berliner Diskothek La Belle, bei der zwei amerikanische GIs ihr Leben verloren, die USA in Gaddafis Augen zum absoluten Feind werden. Er sieht die fatalen Folgen des Embargos, das seinem Land die Luft abschnürt. Um die Daumenschrauben zu lockern, akzeptiert er alles, weist dabei aber jegliche Verantwortung von sich. So zahlt er beträchtliche Entschädigungssummen an die Hinterbliebenen der beiden furchtbaren Attentate, bei denen im Niger die DC10 der UTA und in Schottland die Boeing der Panam zum Absturz gebracht wurden. Im gleichen Sinne beruft er sich auch darauf, schon frühzeitig einen internationalen Haftbefehl für Ossama Bin Laden, den Gründer von Al-Qaida erlassen und die islamistischen Gruppen niedergeschlagen zu haben, die in Ost-Libyen operierten.
Der Rest ist bekannt: Muammar al-Gaddafi wurde wieder „salonfähig“ gemacht und von Silvio Berlusconi (Italien), Tony Blair (Großbritannien), Gerhard Schröder (Deutschland) und Nicolas Sarkozy (Frankreich) eifrig umworben. Und zwar bis zu seinem Sturz von 2011.
Die Übersetzung aus dem Französischen wurde von Silvia Sander vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!