(Montevideo, 9. November 2021, la diaria).
Nach einer ungewöhnlichen und marathonartigen Sitzung des chilenischen Abgeordnetenhauses stand um 8 Uhr morgens am 9. November die Entscheidung fest: Die Abgeordneten entschieden für die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen Präsident Sebastián Piñera.
Piñera war nach den Enthüllungen der Pandora Papers in Kritik geraten. So soll es einen Interessenskonflikt beim Verkauf einer Mine gegeben haben. Das Vorhaben eines Amtsenthebungsverfahrens erhielt in der Abstimmung im Abgeordnetenhaus mit 78 das Minimum der nötigen Ja-Stimmen. 67 Abgeordnete stimmten dagegen, 3 enthielten sich. Nun wird das Vorhaben an den Senat weitergegeben und nochmals zur Abstimmung gestellt. Dort wird jedoch mit einer Ablehnung gerechnet, denn die Opposition zählt im Senat nicht mit dem nötigen Rückhalt.
Kuriose Sitzung des Abgeordnetenhauses
Die Diskussion im Abgeordnetenhaus hatte sich über mehr als 20 Stunden hingezogen. Sie begann am Montagmorgen mit einem 15-stündigen Redebeitrag des Oppositionspolitikers Jaime Naranjo von der sozialistischen Partei. Der 70-jährige Naranjo verlas eine 1.300-seitige Rede – einzig und allein, damit die Sitzung sich bis nach Mitternacht zog und die Abgeordneten Jorge Sabag und Giorgio Jackson, deren Quarantänedauer wegen eines Covid-19-Kontakts genau dann ablief, ihr beiwohnen konnten. Denn obwohl die Opposition im Abgeordnetenhaus die Mehrheit der Abgeordneten stellt, war es nicht sicher, dass genug Stimmen für ein Amtsenthebungsverfahren zusammenkommen würden. Daher war die Anwesenheit der beiden Abgeordneten entscheidend.
Naranjo gestaltete seine Rede langsam und unterbrach sie immer wieder: zum Trinken, zum Essen und sogar für eine medizinische Untersuchung. Auf Twitter hatte der Abgeordnete bereits zuvor seine Strategie offengelegt: „Ich werde die Zeit reden, die es braucht, damit Giorgio Jackson ins Abgeordnetenhaus kommt“. Regierungsvertreter*innen waren wiederum nicht sonderlich begeistert von dieser Taktik. So brachte Naranjos Verzögerungsrede ihm eine Beschwerde vor der Ethikkommission des Abgeordnetenhauses ein (…).
Verfassungsklage gegen Piñera
Die chilenische Opposition hatte bereits am 13. Oktober mit Unterschriften aller Abgeordneten der linken sowie Mitte-links-Parteien eine Klage gegen Piñera unterzeichnet. Das Amtsenthebungsverfahren gründet sich insbesondere auf zwei Aspekte: Die Verletzung des „Prinzips der Integrität sowie das Recht darauf, in einer nicht-kontaminierten Umwelt zu leben“ sowie die „schwere Beschädigung der Ehre der Nation“.
Der Prozess hatte mit den Enthüllungen der lokalen Medien Ciper und LaBot, die an den Pandora Papers-Recherchen beteiligt waren, begonnen. Den Enthüllungen zufolge hatten Piñeras Söhne in dessen erster Amtszeit im Jahr 2010 die Mine Dominga für einen Wert von 152 Millionen US-Dollar an den Unternehmer Carlos Alberto Delano verkauft. Delano ist ein guter Freund Piñeras, das Geschäft wurde zu großen Teilen über das Finanzsystem der britischen Jungferninseln abgewickelt.
Verfassungsklage und strafrechtliche Ermittlungen gegen Piñera
Die Bezahlung der Mine war in drei Raten vorgesehen. Die dritte Rate enthielt dabei eine Spezialklausel, die die Zahlung der Voraussetzung unterwarf, „dass im Arbeitsbereich der Mine keine Umweltschutzzone errichtet wird, wie Umweltschutzgruppen es fordern“. Piñeras Vorgängerin Michelle Bachelet hatte vor ihrem Abtritt empfohlen, die betroffenen Gebiete an der Pazifikküste zur geschützten Zone zu erklären. Als Piñera im Jahr 2010 sein Amt antrat, ignorierte er diese Empfehlung.
Zusätzlich zu der Verfassungsklage hat die chilenische Staatsanwaltschaft im Zuge der Pandora Papers-Enthüllungen auch strafrechtliche Ermittlungen gegen Piñera eingeleitet.