Welcher Strategien hat sich die Klimabewegung bedient und welcher bedarf es, um ihr zu einer besseren Durchsetzungsfähigkeit zu verhelfen? Ist es so, dass wir erfolglos bleiben, solange wir Umweltkrisen nicht auch an ihren sozialen und politischen Wurzeln bekämpfen? Sind Mittel der friedlichen Sabotage, für die die Autorinnen Payal Parekh & Carola Rackete den sympathischen Begriff der „Demontage mit Würde“ ins Spiel bringen, dazu geeignet? Brauchen wir einen Kader, der darin geschult ist, sich strategisch zu engagieren, um unsere Bewegung massiv auszuweiten? Die Vision der beiden ist auf jeden Fall verlockend: „Wählen wir die Taktiken, die zu unseren Träumen passen, und machen wir den fossilen Kapitalismus zur Geschichte!“
Wie kann die Klimabewegung ihren Kampf eskalieren, um die Machtverhältnisse zu verändern?
Wir erinnern uns an den Moment, in dem jeder von uns klar wurde, dass es nicht ausreicht, wissenschaftliche Forschung zum Klimawandel zu betreiben oder zu unterstützen, sondern dass die Lösung der Klimakrise nur durch den Aufbau von Bewegungen erreicht werden kann, die kollektives politisches Handeln ermöglichen. Für Payal war es der Moment, als sie in einem sintflutartigen Regenguss in Mumbai feststeckte: er fand nicht Eingang in die internationalen Nachrichten wie die Überschwemmungen in Deutschland in diesem Sommer, obwohl zwischen dem 26. und 27. Juli 2005 innerhalb von 24 Stunden fast 1000 mm Regen fielen, was über eintausend Menschenleben kostete und die Stadt komplett zum Stillstand brachte. Payal wusste, dass die Klimakrise angekommen war (zumindest im globalen Süden) und dass die Auswirkungen des Klimawandels die bereits bestehende Ungleichheit in Indien und weltweit noch verstärken würden. Die Armen würden die Hauptlast der Krise tragen müssen, obwohl sie am wenigsten dafür verantwortlich sind.
Für Carola kam dieser Moment, als sie als Besatzungsmitglied der Polarstern, eines Eisbrechers, mit Ozeanograph:innen, Meeresphysiker:innen und Meteorolog:innen sprach, die auf dem Weg zum Nordpol waren. Sie hörte ihre Verzweiflung und Frustration, weil die Regierungen ihre Warnungen über die Folgen der raschen Eisschmelze in der Arktis nicht beachtet hatten.
Die Fronten des Klimawandels befinden sich nicht mehr nur in armen Ländern in Asien oder Afrika oder an den Polen, sondern vor unserer Haustür in Westeuropa. Dies hat mehr Menschen die Augen für das Ausmaß der Klimakrise geöffnet. Viele, ob erfahrene Klimaaktivist:innen oder neu Sensibilisierte, sind aufgrund der erschütternden Katastrophen und der eindringlichen Warnungen des jüngsten IPCC-Berichts verängstigt und besorgt. Aus dem Bericht geht jedoch auch hervor, dass wir die Erwärmung auf unter 1,5/2 °C begrenzen können, wenn rasch umwälzende Veränderungen stattfinden. Das heißt, wir sind also noch lange nicht dem Untergang geweiht. Selbst wenn wir dieses Ziel verfehlen sollten, dürfen wir nicht aufgeben, denn jedes Zehntelgrad Erwärmung, das verhindert wird, bedeutet weniger Leid.
Wir in Westeuropa können großen Einfluss darauf nehmen, dass fossile Brennstoffe im Boden bleiben und dass sich der Wandel gerecht und fair vollzieht. Schließlich haben viele Unternehmen, Banken und Finanziers fossiler Brennstoffe hier ihren Sitz, und der europäische Kontinent ist für ein Drittel der kumulierten globalen Emissionen verantwortlich. Die Industrieländer haben uns diesen Schlamassel eingebrockt und müssen nun die Verantwortung übernehmen, indem sie ihn beseitigen. Wenn wir bereit sind, darüber nachzudenken, was die Bewegung bisher erreicht hat und was wir in Zukunft brauchen, können wir das Ruder in Sachen Klimaschutz herumreißen.
Eine Abrechnung
Auch wenn die weltweiten Treibhausgasemissionen weiter zunehmen, bedeutet dies nicht, dass Massenbewegungen keine Erfolge zu verzeichnen haben. Im Jahr 2014 gab es über 2900 Klimakundgebungen in 162 Ländern mit fast 400 000 Teilnehmenden allein in New York am Vorabend des UN-Klimagipfels, gefolgt von 1000 Aktivist:innen in Deutschland im August 2015, die bei einer Aktion von Ende Gelände mit zivilem Ungehorsam ein Kohlebergwerk besetzten. Greta Thunbergs Rede bei den Klimaverhandlungen in Bonn im Jahr 2018 inspirierte junge Menschen auf der ganzen Welt, freitags die Schule zu bestreiken, während Extinction Rebellion im April 2019 erfolgreich das Zentrum von London blockierte.
Darüber hinaus konnten wir einige Infrastrukturprojekte stoppen und schöne Orte retten; es folgen ein paar Beispiele, damit wir nicht vergessen, dass wir manchmal auch gewinnen. Direkte Aktionen waren die Schlüsseltaktik beim hartnäckigen kommunalen Widerstand der Zone à défendre de Notre-Dame-des-Landes in der Bretagne, der dazu führte, dass der Bau eines internationalen Flughafens abgesagt wurde. In den Vereinigten Staaten wurde das Keystone-XL-Projekt gestoppt, wobei sich der Widerstand auf Massen- und kleinere Aktionen entlang der Pipelinestrecke stützte. Die inspirierenden Besetzer des Hambacher Forsts in Westdeutschland haben Umweltaktivist:innen im ganzen Land motiviert, ihre Kampagne zu unterstützen, die den Wald nach acht Jahren erfolgreich vor dem Kohleabbau bewahrt hat.
Ein Überblick über einige Akteur:innen der Bewegung
Ende Gelände ist ein Netzwerk, das strategisch geplant wurde. Es konzentriert sich auf Klimagerechtigkeit und direkte Aktionenn, bei denen Produktionsstätten für fossile Brennstoffe blockiert werden. In den ersten Jahren brachte dieses Netzwerk die Betreiber:innen von Kohleminen und -anlagen sowie die sie stützenden Regionalregierungen in Bedrängnis und erzwang erfolgreich die Unterbrechung der Kohleförderung. Die Bilder der ersten Aktionen waren besonders eindrucksvoll: Mehr noch als die Besetzung selbst zeigten die trostlosen Bilder einer mond-ähnlichen, vergewaltigten Landschaft und von Geisterstädten, die im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurden, die wahren Kosten der Kohle. Ende Gelände hatte sich jedoch auf ein festes Aktionsrepertoire festgelegt, hielt an der gleichen Taktik fest und konzentrierte sich ausschließlich auf die Kohle. Unternehmen, Kommunalverwaltungen und die Polizei wussten, was auf sie zukommt, und waren sich darüber im Klaren, dass nach ein paar Tagen alles wieder seinen gewohnten Gang gehen konnte. In diesem Jahr beschloss Ende Gelände, neue Wege zu gehen, wehrte sich daher gegen den Bau eines Flüssiggasterminals und unterstützte Initiativen im globalen Süden in ihrem Kampf gegen Fracking. Zum ersten Mal nahm an der Massenaktion des zivilen Ungehorsams auch eine kleine Gruppe teil, die eine Sabotageaktion plante. Diese Aktion blieb jedoch weitgehend symbolisch und fand kein großes Medienecho. Ende Gelände unterstützt auch viele andere direkte Aktionsgruppen in ganz Deutschland, insbesondere die dauerhafte Besetzung des Dorfes Lützerath, das für die Erweiterung des Braunkohletagebaus Garzweiler II zerstört werden soll.
Greta Thunbergs elektrisierende Rede auf dem UN-Klimagipfel 2018 führte unerwartet dazu, dass Zehntausende von Jugendlichen aktiv wurden, indem sie Gretas Taktik des zivilen Ungehorsams aufgriffen und jeden Freitag „streikten“ oder die Schule schwänzten. Der Schwerpunkt dieses Flügels der Bewegung liegt darauf, von den Machthaber:innen geeignete Entscheidungen zu fordern, um das Klima für Kinder und künftige Generationen zu retten. Welche Konsequenzen hat es, wenn die Machthaber:innen nicht im Sinne der Klimastreikenden entscheiden? Es hat keine, denn die Jugendlichen stürzen die Machthaber:innen in keine Krise. Daher werden sie sogar geduldet und eingeladen, sich mit den Staats- und Regierungschef:innen zu treffen oder auf wichtigen Treffen vor ihnen zu sprechen. Die Jugend wird dazu benutzt, Staats- und Regierungschefs gut aussehen zu lassen, ohne dass diese tatsächlich eine echte und dauerhafte Veränderung bewirken müssen. Die kontinuierliche Teilnahme der Klimaaktivist:innen an internationalen Gipfeltreffen wird Teil des normativen Klimaschutztheaters. Die Klimastreikenden haben sich auch stark auf die einzige Taktik der Schulstreiks verlassen, die während der Coronazeit fast unmöglich zu verfolgen war, als Massenproteste verboten und viele Schulen geschlossen waren. Drei Jahre nach Beginn ihrer Proteste schwindet ihre Macht.
Ähnlich wie Ende Gelände hat auch Extinction Rebellion den zivilen Ungehorsam in Mode gebracht, indem sich die Bewegung auf Aktionen in Städten konzentrierte und die Aktionen für eine größere Anzahl von Teilnehmenden zugänglich und sichtbar machte. Ihr Ziel war es, Menschen außerhalb typisch linker Kreise zu integrieren, die Krise der biologischen Vielfalt einzubeziehen und Bürger:innenversammlungen als demokratisches Forum zu etablieren, um Umweltschutzmaßnahmen auf partizipative Weise zu diskutieren. Ihre erste Blockade in London war bunt und kreativ. Die Gruppe hat auch Strukturen zur Unterstützung eines dezentralisierten Netzwerks aufgebaut, um die„DNA“ ihrer Bewegung zu übertragen, während sie sich über den ganzen Globus ausbreitet. Die Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft der britischen XR-Gruppe, Umweltthemen offen mit anderen sozialen und wirtschaftlichen Themen zu verknüpfen, insbesondere zur Unterstützung marginalisierter Gemeinschaften, hat dazu geführt, dass viele Gelegenheiten verpasst wurden, eine breit angelegte, diverse Bewegung aufzubauen. Da sich die Bewegung auf Massenverhaftungen und Inhaftierungen konzentriert, mit denen das Rechtssystem überlastet werden soll, lässt sie außer Acht, wie weniger privilegierte Menschen vom Rechtssystem und vom Staat behandelt werden – insbesondere Minderheiten, die Arbeiterklasse, Menschen mit Behinderungen oder Menschen ohne Papiere. Trotz der Bemühungen, die Situation zu verbessern, kämpft Extinction Rebellion damit, das Vertrauen und die Unterstützung in einigen Sektionen wie in Großbritannien und Deutschland wiederzuerlangen, während sie in Ländern wie Australien oder Norwegen eine von sehr wenigen Umweltgruppen bleibt, die in direkte Aktion gehen.
Wie können wir gewinnen?
Wir befinden uns immer noch in der Gefahrenzone. Keine Regierung hat eine Politik auf den Tisch gelegt, die die Erderwärmung auf unter 1,5/2,0 °C begrenzen könnte. Unsere Gegner:innen sind gewaltig und werden nicht kampflos aufgeben. Die Klimakrise ist eine zu erwartende Folge der gegenwärtigen politischen Machtstrukturen, die in einem Wirtschaftssystem wurzeln, das unendliches Wachstum anstrebt und gleichzeitig die Ungleichheit vergrößert, indem es Reichtum und damit politische Macht und Einfluss in den Händen einiger weniger anhäuft. Solange Aktivist:innen die eskalierenden Umweltkrisen nicht an ihren sozialen und politischen Wurzeln anpacken, gibt es keine Chance, den Zusammenbruch der Umwelt aufzuhalten. Deshalb dürfen wir uns nicht scheuen zu sagen, dass der Kapitalismus inakzeptabel ist, und müssen ihn angreifen, um den Klimazusammenbruch zu verhindern. Genauso wichtig ist es, dass wir bereit sind, uns von Taktiken und Strategien zu trennen, die nicht mehr funktionieren, und stattdessen mit neuen zu experimentieren und sie stetig zu erneuern. Wir glauben, dass wir Folgendes tun müssen, um unsere Erfolgschancen zu erhöhen – wir können es uns nicht leisten zu verlieren.
Ausweitung der Bewegung
Die Schweiz war nicht in der Lage, an der Wahlurne ein neues CO2-Gesetz zu verabschieden, das festgelegt hätte, wie die Schweiz ihre CO2-Emissionen bis 2030 auf die Hälfte des Niveaus von 1990 senken würde (zu wenig, aber das ist das Thema eines anderen Artikels). Die Landbevölkerung und die Menschen ohne Hochschulabschluss wurden von denjenigen politischen Parteien und Gruppen weitgehend ignoriert, die dafür warben, für das Referendum zu stimmen. Wir können es uns nicht leisten, uns nur auf die Stadtbevölkerung zu konzentrieren – unsere heimliche Supermacht ist die Vergrößerung der Breite der Bewegung. Deshalb müssen sich diejenigen, die bereits in der Bewegung sind, dazu verpflichten, potenzielle Verbündete zu erreichen. Dazu müssen sie einen Rahmen verwenden, der die Menschen dort abholt, wo sie sich befinden. Sie müssen versuchen, diese Menschen zu engagieren und aus ihrer neutralen oder unpolitischen Position herauszuholen. Es ist unwahrscheinlich, dass wir neue Menschen mit trockenen Fakten und Zahlen erreichen. Ja, sie spielen eine Rolle, aber sie bewegen die Menschen nicht. Was die Menschen begeistert und sie dazu bewegt, sich zu engagieren, sind nicht wissenschaftliche Tabellen (und eine von uns hat einen Doktortitel in Klimawissenschaft!), sondern Geschichten, die unsere Werte ansprechen und unsere Fähigkeit wecken, uns eine andere Zukunft voller Hoffnungsmöglichkeiten vorzustellen,
Wir brauchen Strukturen und Schulungen, um neue Leute zu gewinnen und sie einzubinden. Wir müssen Neuankömmlingen klar machen, wie sie sich in die Bewegung einbringen können und sie in die Lage versetzen, einen Schritt nach dem anderen zu tun. Das bedeutet, dass wir niederschwellige Einstiegsmöglichkeiten schaffen müssen, die die Menschen dabei unterstützen, auf eine Art und Weise aktiv zu werden, die sie anspricht, und sie gleichzeitig ein wenig aus ihrer Komfortzone herausholt. Durch regelmäßige Schulungen können wir ihnen Werkzeuge und Konzepte an die Hand geben, wie sie die politische Machtstruktur verändern können. Dies erfordert tiefergreifende und langsamer wachsende Organisationsformen als die derzeit angewandten Mobilisierungstaktiken, die in erster Linie diejenigen erreichen, die sich bereits engagieren (siehe How Organizations Develop Activists von Hahrie Han, um transformatorisches Organizing zu verstehen). Es versteht sich von selbst, dass wir deutlich machen müssen, dass unser Engagement weit über die Teilnahme an den wöchentlichen Freitagsdemonstrationen oder den Kauf von Bioprodukten hinausgehen muss. Gleichzeitig sollten wir unser Bestes tun, um Aktionen zu konzipieren, die keine speziellen Kletterfähigkeiten oder Kenntnisse über Lock-Ons erfordern und deutlich machen, dass jede Aufgabe gleich wichtig ist, von der Teilnahme an der Frontlinie einer Aktion über das Kochen in einem Camp bis hin zur Betreuung derjenigen, die erschöpft und emotional aufgewühlt von einer Aktion zurückkehren. Es braucht ein Dorf, um einen sozialen Wandel herbeizuführen.
Wir müssen Selbstreflexion betreiben: Sind wir bereit, einige unserer Praktiken zu ändern, um inklusiver zu werden? Sind wir bereit, einen intersektionellen Ansatz zu verfolgen und Umwelt- und soziale Bewegungen hinter einer breiteren Vision von sozialer Gerechtigkeit zu vereinen, um unsere Reichweite zu vergrößern und vielfältiger zu werden? Wenn wir diese Geschichte so erzählen können, dass sie das widerspiegelt, was viele Menschen erleben, können wir aus unserer Blase ausbrechen. Neue Menschen für die Bewegung zu gewinnen, bringt auch neue Vielfalt und neue Perspektiven und Ideen für Taktiken und Strategien.
Hören wir uns die Ängste und Hoffnungen der Menschen an und bieten wir ihnen Möglichkeiten der Beteiligung, die für sie geeignet sind. Wir können nicht erwarten, dass ein Familienvater aus der Arbeiterklasse im ländlichen Deutschland bereit ist, an einer Waldbesetzung teilzunehmen, aber er könnte seine neutrale Position verlassen und vielleicht mit seinen Freunden bei einem Freitagsbier über das Klima sprechen, eine Petition unterschreiben, die er vorher nicht unterschrieben hätte, oder er wird Sympathie für Aktivist:innen der direkten Aktion entwickeln, auch wenn er nicht bereit wäre, Taktiken von Blockaden und Besetzungen anzuwenden. Ebenso wird sich eine PoC-Europäerin der zweiten Generation wahrscheinlich nicht wohl fühlen, wenn kein Raum für Menschen mit einer Behinderung geschaffen wird und für Menschen, die nicht weiß, heterosexuell oder akademisch gebildet sind. Aber wenn sie sich willkommen fühlt, hat sie vielleicht die nächste große Idee für eine wirkungsvolle Aktion.
Seien wir wendig, flexibel und kreativ
Erfolgreiche Bewegungen sind lebendig und atmen – das bedeutet, dass sie in der Lage sind, auf eine sich verändernde Situation zu reagieren und sich ihr anzupassen. Sind wir bereit, uns von Taktiken zu trennen, die nicht greifen, und haben wir den Mut, mit neuen zu experimentieren und sie immer wieder zu aktualisieren? Können wir einen ökosystemischen Ansatz für den sozialen Wandel verfolgen, bei dem verschiedene Akteur:innen (Aktivist:innen aus dem Gemeinwesen, Wissenschaftler:innen, Politiker:innen) wesentliche Taktiken (zivilen Ungehorsam, Forschung, Lobbyarbeit) anwenden und sich dabei auf die Ermittlung von Synergien konzentrieren? Wirksame Lobbyisten in traditionellen NGOs sind unsere Verbündeten, und die Arbeit eines jeden von uns unterstützt die des anderen. Das Shell-Urteil Anfang dieses Jahres ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie eine Vielzahl von Strategien – von juristischen Taktiken bis hin zu direkten Aktionen – das Gerichtsurteil beeinflusst und den Ölkonzern zu einer drastischen Reduzierung seiner CO2-Emissionen gezwungen hat.
Wir müssen lernen, wie wir auf veränderte Bedingungen reagieren können. Es macht keinen Sinn, an einer Taktik festzuhalten, wenn die Welt um uns herum dynamisch ist und sich ständig verändert. Flinkheit und Beweglichkeit sind die Prioritäten des Tages. Es gibt zahllose Beispiele dafür, wie Menschen in aller Welt unter schwierigsten Bedingungen kreative Maßnahmen ergriffen haben, um die politische Macht in Schranken zu weisen. In Chile wurden während Pinochets Herrschaft Autobahnen und Straßen von Menschen verstopft, die extrem langsam fuhren oder gingen. Diese Taktik war aus der Not geboren. Ursprünglich wollten die Arbeiter:innen eines Bergwerks streiken, aber das chilenische Militär umstellte das Bergwerk; ein Streik hätte wahrscheinlich zu Blutvergießen geführt. So wurde die Idee der Verlangsamung geboren, die den Machthabenden zeigte, dass sie wenig Unterstützung hatten, aber auch die Demonstrierenden vor Verhaftung und Ermordung bewahrte.
Die Wahrscheinlichkeit, dass wir bei einer Massenaktion getötet werden, ist zwar gering. Es kann aber passieren: Carlo Giuliani, ein 23-jähriger Demonstrant, wurde während der G8-Proteste im Juli 2001 in Genua von Carabinieri erschossen. Meistens jedoch wird bei Massenaktionen großen Wert darauf gelegt, dass sie für ein Ziel Druck ausüben, die Sympathie eines größeren Prozentsatzes der Bevölkerung gewinnen und nicht ins Gefängnis müssen.
Während des Milosevic-Regimes stellte Otpor!, die von Studenten gegründete Widerstandsgruppe, in den Stadtzentren im ganzen Land ein Fass mit einem Bild von Milosevic auf. Wenn man einen Dinar bezahlte, konnte man das Bild von Milosevic mit einem Schläger treffen. Mit Humor spielten sie auf eine Initiative der Regierung an, um Mittel für die Landwirtschaft zu beschaffen (die ohnehin veruntreut worden wären) und auf die Vorliebe des Regimes für Schläge. Das Regime machte sich lächerlich, als es die Fässer schließlich entfernte, gab aber vielen Serben, auch solchen, die nicht offen politisch sind, die Möglichkeit, ihre Frustration über das Regime zum Ausdruck zu bringen und schwächte damit einen wichtigen Stützpfeiler der Regierung.
Viele Massenaktionen der letzten dreißig Jahre, von der US-amerikanischen Anti-Atomkraft-Bewegung bis zur WTO-Blockade 1999 in Seattle und in jüngster Zeit bei Ende Gelände, waren so angelegt, dass die Teilnehmer:innen ähnliche Taktiken anwandten. Damit sollte das Risiko verringert werden, dass einige von ihnen für eine härtere Behandlung ausgewählt werden, um ein Exempel zu statuieren und andere von der Teilnahme an den Aktionen abzuschrecken. Diese Massenaktionen wurden oft mit der Fortsetzung der Aktion im Gefängnis und vor Gericht verbunden, um sich gegenseitig zu schützen.
Eskalation in großem Maßstab
Die Klimakrise verschärft sich von Minute zu Minute, und es steht außer Frage, dass wir unsere Aktionen steigern müssen, aber wie sieht das in der Praxis aus? Welche Maßstäbe verwenden wir, um zu entscheiden, ob wir unsere Proteste zuspitzen und verschärfen und ob das erfolgreich war? Wir argumentieren, dass unsere größte Aufgabe derzeit nicht darin besteht, diejenigen zu radikalisieren, die sich bereits engagieren und an zivilem Ungehorsam teilnehmen, sondern die politisch Inaktiven einzubeziehen, die zwar glauben, dass der Klimawandel ein Problem ist, die aber nicht glauben, dass sie etwas bewirken können oder nicht wissen, wie sie etwas verändern können. Daher sollte unser Schlüsselindikator die „horizontale Eskalation“ sein, wie David Solnit es nennt, der Kunstorganisator und Aktivist für direkte Aktionen, der 1999 die WTO-Blockade in Seattle mitgestaltet hat. Wenn unsere Aktionen größer werden, von Dutzenden über Hunderte bis hin zu Tausenden von Teilnehmer:innen aus mehreren Gemeinschaften, dann haben wir eine horizontale Eskalation vollzogen. Aktionen, die dazu führen, dass Aktivist:innen sich zurückziehen oder Barrieren für neue Teilnehmer:innen schaffen, so dass die Aktionen kleiner werden, könnten als Deeskalation betrachtet werden. Sobald Menschen den Sprung in die Bewegung geschafft haben, ist es unsere Aufgabe, so viele Menschen wie möglich auf der Leiter des Engagements nach oben zu bringen.
In den letzten Monaten hat die „friedliche“ Sabotage in Europa größere Aufmerksamkeit erlangt. Der Wissenschaftler Andreas Malm argumentiert in seinem Buch „How to blow up a Pipeline“, dass Bewegungen fast immer eine radikale Flanke hatten, die sich der Sabotage bedient hat. Um zu beurteilen, ob „friedliche“ Sabotage zur Eskalation beitragen kann, sollten wir den Begriff definieren. In erster Linie meinen wir die Zerstörung von Eigentum. Das kann unterschiedlich aussehen: von Einzelpersonen, die anonym und unbemerkt die Reifen von Lastwagen, die Kohle transportieren, zerstören, bis hin zu Tausenden von Menschen, die in Massen eine Pipeline beschädigen. Sie gelten als friedlich, weil keine Menschenleben in Gefahr sind. „Friedliche“ Sabotage kann geplant oder spontan sein.
Der Begriff „Sabotage“ fühlt sich oft sehr patriarchal und männlich an (selbst wenn es auch Frauen tun). Für uns beschwört er das Bild einer kriegsähnlichen Situation herauf (ja, wir wissen, dass man die Klimakrise mit einem Krieg vergleichen könnte), in der eine Einzelperson oder eine kleine Gruppe den Tag rettet, indem sie eine Handlung ausführt, die sich gewalttätig und extrem anfühlt. Daher finden wir den Begriff „Demontage mit Würde“ des revolutionären Künstlers und Aktivisten Jay Jordan viel inspirierender und zutreffender. Er erweitert unsere Vorstellung darüber, wie wir radikale Veränderungen mittels Sabotage bewirken können.
Aus Sicht der Kampagnenarbeit stellt sich nicht so sehr die Frage, ob Sabotage legitim ist (was sie unserer Meinung nach ist, solange sie keine Menschen gefährdet), sondern wir müssen überlegen, ob Sabotage in dem Kontext, in dem wir uns gerade befinden, angemessen ist. Hilft sie uns, Macht aufzubauen und mehr Unterstützung in der Gesellschaft zu gewinnen? Wenn ja, wie sollte die Sabotage gestaltet werden und aussehen? Ist es der Moment, in dem Menschen Pipelines sprengen oder ist es etwas Subtileres, wie zum Beispiel Tausende, die mit Schablonen eine klare Botschaft an die Außenwände der Filialen von Banken sprühen, die die Klimakrise auf dem ganzen Kontinent finanzieren? Andere Beispiele für kreative Sabotage können darin bestehen, Amaranthus zu pflanzen, das gegen Monsantos Roundup-Herbizid resistent ist oder Himbeerameisen einzusetzen, um die Computerausrüstung von Banken zu zerstören, die fossile Brennstoffe finanzieren! Was wäre, wenn wir die Sabotage so durchführen würden, dass das Risiko, erwischt zu werden, minimiert wird, um dem Staat die Repression zu erschweren und gleichzeitig die Wirkung zu maximieren? In Anbetracht der derzeitigen Größe und Macht der Bewegung sollte die friedliche Sabotage der „Demontage mit Würde“ Teil unseres Werkzeugkastens sein, aber der Kontext sowie die Außenwirkung und die Wirkung der Aktion müssen sorgfältig bedacht werden. Wir glauben nicht, dass dies die einzige Taktik und der einzige Weg zur Eskalation ist.
Die Situation ist entscheidend! Während der Besetzung des Dannenröder Waldes in Mitteldeutschland im letzten Jahr markierten Aktivist:innen 150 Geländewagen in einer benachbarten Stadt mit Farbe und warnten die Fahrer, dass die Autos in Brand gesetzt würden, sollte der Wald abgeholzt werden. Dies führte vor Ort zu erheblichen Gegenreaktionen gegen alle Waldschützer:innen, unabhängig davon, ob sie an der Aktion beteiligt waren oder nicht, und bestrafte diejenigen, die nicht für die Zerstörung des Waldes verantwortlich waren. Im Gegensatz dazu führte die Beschädigung von Hubwägen und anderen Maschinen, die für die Räumung des Hambacher Forsts im Jahr 2018 eingesetzt wurden, durch Aktivist:innen nicht zu Gegenreaktionen in der Öffentlichkeit, da die Waldbesetzung weithin unterstützt wurde – die Bewegung hatte eine starke Unterstützung in der umliegenden Gemeinde und im ganzen Land aufgebaut, was durch eine Unterstützer:innendemo von 50.000 Menschen belegt wurde.
Wird man bei der Sabotage erwischt, hat das reale Konsequenzen. Kürzlich wurden zwei US-amerikanische Plowsharer (eine pazifistische, meist christliche Gruppe, die unter anderem Militäranlagen sabotiert) für schuldig befunden, die Dakota Access Pipeline beschädigt zu haben: Jessica Reznicek wurde kürzlich zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, Ruby Montoya wartet auf ihr Urteil. Für die juristische Strategie und die Arbeit gegen die Repression werden beträchtliche Ressourcen und Energien aufgewendet, was für den Einzelnen einen hohen psychologischen Tribut bedeutet. Wir werden die Antwort nie erfahren, aber ist es das wert, eine engagierte Aktivistin acht Jahre lang im Gefängnis zu haben, anstatt Aktionen und Mobilisierung draußen zu unterstützen? Was ist mit den unmittelbaren Verpflichtungen gegenüber Familie, Freund:innen und unserer Gemeinschaft, die nicht mehr erfüllt werden können?
Wenn der Staat mit harter Hand vorgeht, hat dies auch eine abschreckende Wirkung auf erfahrene Aktivist:innen und macht den Beitritt zur Bewegung für potenzielle neue Aktivist:innen weniger erstrebenswert, so dass es schwieriger wird, neue Anhänger in die Bewegung zu bringen. Es könnte zu Vergeltungsmaßnahmen des Staates führen, indem repressive Gesetze erlassen werden, die noch mehr Menschen kriminalisieren. Bereits jetzt bestehen erhebliche Risiken für Einzelpersonen, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in Europa. Ella, eine junge Aktivistin, wurde bei der Räumung des Dannenröder Waldes im Jahr 2020 verhaftet und zu zwei Jahren Haft verurteilt, weil sie bei ihrer Verhaftung angeblich einen Polizeibeamten angegriffen hatte. Dem vorausgegangen war eine Gesetzesänderung, vorgeblich um Polizeibeamte umfassend zu schützen. Das Vereinigte Königreich, die Schweiz, Frankreich und Deutschland haben in letzter Zeit strengere Gesetze erlassen, die Proteste noch riskanter machen.
Dennoch wissen wir, dass friedliche Sabotage wirksam sein kann, wenn sie zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt wird. Bei einer Aktion im Juni dieses Jahres in Frankreich, die von Soulèvements de la terre (Die Erde erheben) und Extinction Rebellion organisiert wurde, wurde ein Zementwerk von La Farge-Holcim an einem Wochenende mit etwa 200 Teilnehmenden effektiv lahmgelegt und die Ausrüstung von Affen zertrümmert, so dass die Leute nicht ins Gefängnis mussten! In Chile kam es nach mehreren Aufständen im Laufe vieler Jahre aufgrund zunehmender Ungleichheit und steigender Lebenshaltungskosten zu dem Aufruf der Student:innen, zur #EvasionMasiva , dem Überspringen von Drehkreuzen, um die Fahrpreise zu umgehen. Die Proteste trafen den Nerv der Zeit und entwickelten sich, nachdem sie mit staatlicher Gewalt und Repression konfrontiert wurden, zu einer unorchestrierten friedlichen Sabotage, bei der U-Bahn-Stationen in Brand gesetzt und Infrastruktur zerstört wurden. Diese Aktionen lösten keine Gegenreaktion unter den Anhänger:innen aus und waren ebenfalls ein Ergebnis der breit angelegten Proteste; im Wesentlichen war die Macht des Staates aufgrund des massenhaften zivilen Ungehorsams bereits geschwächt, was bedeutet, dass die Bedingungen für die friedliche Sabotage günstig waren – die mit solchen Aktionen verbundenen Konsequenzen waren geringer und die Wirksamkeit größer.
Wir glauben, dass eine Massenbewegung am stärksten ist, wenn sie zahlenmäßig stark ist und über einen Kader verfügt, der darin geschult ist, sich strategisch zu engagieren, um kollektive Macht aufzubauen. Das bedeutet, dass die Menschen auf der Leiter des Engagements aufsteigen und bereit sind, immer mehr für den Kampf für Gerechtigkeit zu tun. Wenn wir dies erreichen, gibt uns das die Fähigkeit zur massenhaften Nicht-Kooperation, der vierten der fünf Stufen der Strategie für eine lebendige Revolution, die George Lakey, der US-amerikanische Friedensaktivist, entwickelt hat. Natürlich sollte und könnte friedliche Sabotage ein Teil der Mischung sein, insbesondere wenn wir unser Bestes tun, um Verhaftungen oder schwere Strafen zu minimieren und eine giftige Sicherheitskultur zu vermeiden, die oft Misstrauen sät. Selbst wenn man deutlich macht, was getan werden soll, weiß der Staat nicht, wann und wie!
Wenn wir unseren Verstand einschalten, sind der Eskalation keine Grenzen gesetzt – friedliche Sabotage ist nicht die einzige Option. Erweitern wir also unseren Eskalations-Werkzeugkasten, so dass wir die Instrumente auswählen, die in dem Kontext, in dem wir uns gerade befinden, die besten Erfolgschancen haben.
Schlussfolgerung
Die Klimakrise ist beängstigend, weil wir bereits einen Vorgeschmack auf ihre zerstörerische Kraft bekommen haben. Es steht viel auf dem Spiel, und die Veränderungen, für die wir kämpfen, sind für unser Überleben unerlässlich, denn sie betreffen alles und jeden, der uns wichtig ist. Der gesellschaftliche Wandel vollzieht sich nicht schnell genug, trotz der Anstrengungen, die viele von uns unternommen haben, um den Wandel zu bewirken. Dennoch haben wir Fortschritte gemacht: Die Industrie für fossile Brennstoffe hat einen Rückzieher gemacht und beginnt zu wanken. Die Frage ist nicht, ob die Gewinnung fossiler Brennstoffe der Vergangenheit angehören wird, sondern ob wir dies erreichen werden, bevor ein unumkehrbarer Klimakipppunkt erreicht wird. Aus diesem Grund müssen wir unsere Strategien schärfen und unsere Taktik mit viel Fantasie umsetzen. Wenn wir erfolgreich sind, können wir die Gesellschaft so umgestalten, dass sie gerechter, ausgeglichener und fairer wird. Wählen wir die Taktiken, die zu unseren Träumen passen, und machen wir den fossilen Kapitalismus zur Geschichte!
Danksagung: Wir möchten uns bei allen bedanken, die mit uns über Strategien zum Erfolg diskutiert haben. Ein großes Lob geht auch an diejenigen, die Entwürfe des Manuskripts gelesen und wichtige Kommentare zur Verbesserung geliefert haben.
Gastbeitrag von Payal Parekh & Carola Rackete erschienen bei Wald statt Asphalt am 11.10.2021. Wir danke für die freundliche Genehmigung für die Veröffentlichung.