Seit dem Ausbruch der Covid-19 Pandemie im Winter 2019 ist die Anzahl der Hungernden weltweit drastisch angestiegen. Umweltkatastrophen häufen sich, die Klimakrise spitzt sich weiter zu, es gibt immer mehr bewaffnete Konflikte und Kriege. Zusammen führen sie zur vermehrten Hungerkatastrophen der Zivilbevölkerung. Die UN hätte längst die überfällige Trendwende einleiten müssen, doch der am 23. September 2021 ausgerichtete Welternährungsgipfel des UN-Generalsekretärs António Guterres (UN-Food Systems Summit, UNFSS) in New York hat dieses Ziel deutlich verfehlt.
Der Gipfel hat weder das Recht auf Nahrung aller Menschen ins Zentrum gestellt noch gezielt die von Hunger und Armut betroffen Gruppen angehört. Entscheidungen mit den Menschen zu treffen hätte bedeutet, alle Energie in die globale Koordinierung der Bewältigung der Covid-19-Pandemie und ihrer Folgen zu stecken – etwa durch die Hilfe für 120 Millionen Menschen, die seit dem Jahr 2020 zusätzlich an chronischem Hunger leiden. Mit den Menschen Entscheidungen zu treffen hätte auch bedeutet, denen eine prominente und kritische Stimme zu geben, die von Umweltkatastrophen, der Klimakrise sowie von Konflikten und Kriegen aktiv bedroht sind und von der internationalen Staatengemeinschaft viel zu lange im Stichgelassen wurden und nun weiter werden.
Stattdessen hat der Gipfel noch mehr Platz für die profitorientierten Interessen von Konzernen und Banken geschaffen und philanthropische Organisationen in erster Reihe die Agenda mitbestimmen lassen. Dabei sind sie häufig genau die Akteure, die ein intensives industrielles Landwirtschaftsmodell und eine wachsende Konzernmacht fördern und verantworten – und damit gleichzeitig zu den Hauptverursachern der globalen Ernährungs- und Klimakrise zählen.
Wir, Mitglieder der Arbeitsgruppe Landwirtschaft und Ernährung (AGLE) des Forums Umwelt und Entwicklung (FUE) kritisieren die Struktur, Leitung, Gestaltung und Durchführung des Gipfels sowie die geplante Fortführung der Gipfelagenda und -strukturen, sowohl in der UN wie auch auf regionalen und nationalen Ebenen. Als Teil des internationalen Zivilgesellschaftsmechanismus (CSM) haben wir die Bundesregierung über zwei Jahre hinweg kontinuierlich dazu aufgefordert, sich gegen den Ausbau einer Multi-Stakeholder-Struktur stark zu machen und sich für den Erhalt einer inklusiven, menschenrechtsbasierten Steuerung der UN-Ernährungs- und Nahrungsmittelpolitik durch den Welternährungsausschuss (CFS) einzusetzen – vergeblich.
Basierend auf unseren Beobachtungen, der offiziellen Abschlusserklärung des UN-Generalsekretärs sowie den verschiedenen Absichtserklärungen im Rahmen des UN FSS kommen wir zu folgenden ersten Bewertungen:
- Der Gipfel war der erste UN-Ernährungsgipfel, der ohne Mandat der UN-Vollversammlung Seine Ergebnisse haben damit keine normative Verbindlichkeit und sollten dementsprechend als Empfehlungen des UN-Generalsekretärs – nicht mehr und nicht weniger – bewertet werden.
- Der Gipfel hat die starken Machtgefälle zwischen den unterschiedlichen Akteuren im vorherrschenden industriellen Ernährungssystem und die Ursachen dafür missachtet. Es wurde versäumt, Maßnahmen zu deren Überwindung – wie die Regulierung von Konzernmacht und eine grundlegende Umgestaltung des unfairen Handelssystems zu thematisieren.
- Stattdessen liegt der Fokus auf Produktionssteigerungen und Investitionsmöglichkeiten. Das soll mittels konzerngeprägter digitaler Technologien und Innovationen sowie der sogenannten nature-based-production – also Intensivlandwirtschaft mit einem Nachhaltigkeitslabel – geschehen. Deren Finanzierung könnte strukturelle Probleme wie die Sicherung geistiger Eigentumsrechte an Saatgut und Wissen, Daten- und Landraub, insbesondere im globalen Süden, noch weiter verschärfen.
- Der Gipfel hat es insbesondere autokratischen Staaten einfach gemacht sich hinter den Multi-Stakeholder-Strukturen zu verstecken, um sich ihrer Verantwortung für die Umsetzung des Rechts auf Nahrung zu entziehen. Dies gilt auch für die nationalen Dialoge.
- Die Organisator*innen des Gipfels beabsichtigen, die Multi-Stakeholder-Struktur des Gipfels durch einen Folgeprozess in der UN weiter auszubauen. Damit schwächen sie die Rolle der Staaten, als gegenüber der Öffentlichkeit rechenschaftspflichtige Institutionen, und entlassen sie aus deren primärer Verantwortung, die kaum thematisiert wird. Stattdessen werden private Akteure, die im kommerziellen Interesse handeln und Einfluss auf öffentliche Politiken nehmen, als Teil der Lösung anerkannt. Es wird missachtet, dass sie großenteils die Verantwortlichen für zentrale globale Probleme sind, wie die Klimakrise und Machtungleichgewichte. Damit verbundene, offensichtliche Interessenskonflikte werden nicht thematisiert.
- In der Abschlusserklärung des Generalsekretärs ist vorgesehen, eine Koordinierungsstelle (hub) für die Umsetzung der Konferenzergebnisse bei den in Rom ansässigen UN-Organisationen (FAO, IFAD, WFP) einzurichten. Zusätzlich soll diese Koordinierungsstelle auch noch von einer intransparenten Champions-Gruppe beraten werden, was eine Fortsetzung der intransparenten und willkürlichen Gipfelstrukturen bedeutet. Solch eine Koordinierungsstelle (hub) steht in direkter Konkurrenz zum erfolgreich arbeitenden UN-Welternährungskomitee (CFS) – dem inklusivsten UN-Gremium, welches für die Koordinierung von Ernährungsfragen in der UN zuständig ist. Denn das CFS ermöglicht durch die darin selbstorganisierte Zivilgesellschaft (CSM) wie Bäuer*innen Fischer*innen, Indigene, ärmeren Gemeinschaften und weitere Rechtsträger*innen aus Betroffenengruppen, ein Mitspracherecht über die Inhalte zu Ernährungsproblemen und zum Menschenrecht auf Nahrung. Die Errichtung eines parallelen Gremiums würde dieses Mitspracherecht stark untergraben.
- Außerdem wird aktuell im CFS über die Errichtung einer internen Arbeitsgruppe diskutiert, die Antworten auf die Vorschläge und Ergebnisse im UNFSS geben soll. Diese würde bereits eine Weiterführung des Gipfels in der UN darstellen.
Die Rolle der Bundesregierung
- Die deutsche Bundesregierung hat es bedauerlicherweise verpasst, sich auf dem Gipfel für den Erhalt und die Stärkung des CFS auszusprechen. Im Gegenteil scheint sie die Bildung neuer, mit dem CFS konkurrierender Parallelstrukturen zu unterstützen. Auch das Menschenrecht auf Nahrung, wichtige Grundlage des CFS, wurde von der Bundesregierung beim Gipfel nicht als Handlungsgrundlage genannt.
- Gleichzeitig beteiligt sie sich – inhaltlich und finanziell – an sogenannten Aktionsbündnissen, die im Laufe der Gipfelvorbereitungen entstanden sind. Diese äußerst undurchsichtigen Multi-Stakeholder-Bündnisse beruhen auf einem willkürlichen Zusammenschluss verschiedener Akteure und sollen die Regierungen zu bestimmten Gipfelthemen im geplanten Folgeprozess des UNFSS beraten. Jedoch entstammt weder die Wahl der Gipfelthemen noch die Entstehung dieser Aktionsbündnisse einem legitimen und transparenten Prozess. Diese Aktionsbündnisse sind kontrovers und untereinander widersprüchlich. Ein Beispiel hierfür ist das von der USA vorgeschlagene Aktionsbündnis, Sustainable Productivity Growth for Food Security and Resource Conservation, welches sich aktiv gegen die von der EU im UNFSS beworbene Farm-to-Fork Strategie der EU richtet[1]. Darüber hinaus sind wichtige Verfahrensfragen der Aktionsbündnisse unklar, etwa wie sie von Selbstverpflichtungen zu Handlungen kommen wollen und wie die Rechenschaftslegung funktioniert.
[1] Den USA und vielen an der Allianz beteiligten Staaten, insbesondere aus Nord- und Südamerika, gehen die Nachhaltigkeitsziele der Farm-to-Fork Strategie (für die USA zu viel Ökolandbau und Pestizidreduzierung) – die allein von der EU beschlossen wurden, aber global durchgesetzt werden sollen – zu weit. Sie sehen ihre Exportinteressen bedroht. Gleichzeitig verfolgt auch die Farm-to-Fork Strategie einen Multi-Stakeholder-Ansatz, der stark nach den Interessen der europäischen Agrar- und Ernährungskonzerne ausgerichtet ist. Diese trägt auch dazu bei das insbesondere für die Zivilgesellschaft wichtige Konzept der Agrarökologie zu verwässern. Grundsätzlich ist auch zu hinterfragen, auf welcher Basis die EU interne Beschlüsse zum globalen Standard erheben will.
Die Mitglieder der AGLE – wie auch zahlreiche soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Organisationen auf der ganzen Welt – sprechen sich bereits seit Jahren für eine grundlegende Transformation der bestehenden Ernährungssysteme aus, die auf agrarökologischen und menschenrechtsbasierten Prinzipien beruhen.
Wir erwarten daher von der Bundesregierung, dass sie sich im Folgeprozess des Gipfels und auch in der nächsten CFS Plenarsitzung vom 11. – 14. Oktober 2021 gegen die Finanzierung und Weiterführung der Aktionsbündnisse des UNFSS sowie gegen die Etablierung von neuen und parallelen Organisationstrukturen in Rom wie auch einer möglichen Arbeitsgruppe innerhalb des CFS zum UNFSS ausspricht. Dagegen soll sich die Bundesregierung für eine gestärkte Rolle und verbesserte Finanzierung des CFS sowie einem Arbeitsstrang zum Umgang mit den Folgen der Covid-19 Pandemie einsetzen.
Lena Bassermann, INKOTA-Netzwerk
Mireille Remesch, Agrarkoordination
Paula Gioia, Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft
Benedikt Härlin, Save our Seeds
Roman Herre, FIAN Deutschland
Stig Tanzmann, Brot für die Welt