Die Wahlen sind vorbei. Was bedeuten sie für die gesellschaftliche Linke? Hier folgen einige Überlegungen als Momentaufnahme und ohne jeden Anspruch auf analytische Vollständigkeit und Tiefe. Dazu ist es noch zu früh.
Dennoch ist es mir wichtig, erste Überlegungen als Diskussionsangebot, subjektiv und vielleicht hier und da auch flapsig festzuhalten.
Wahlsieger SPD – weiter so!
Wahlsiegerin ist die SPD. Ihr Generalsekretär und Kampagnenmanager Lars Klingbeil sorgte bei „Anne Will“ für den lichtesten und interessantesten Moment der Diskussion, was seiner Rolle als Kronprinz der ehemaligen „Schutzmacht der kleinen Leute“ ja auch entspricht. Er brachte im Stil eines Werbetexters die Idee ein, ein neues Kabinett könne deshalb nur von einer Ampelkoalition getragen werden, weil nur ein solches Kabinett „einen Narrativ“ vertreten könne. Das sei seines Wissens nach dem Kabinett von 1998 nie mehr der Fall gewesen.
Zur Erinnerung: als Beispiel und Vorbild brachte er damit das rot-grüne Kabinett Schröder-Fischer ins Spiel. Dessen „Narrativ“ bestand in der deutschen Beteiligung bei der Bombardierung Belgrads 1999, dem Eintritt in den Afghanistan-Krieg 2001, und vor allem in den Sozialabbau-Gesetzen Hartz I – IV, die der SPD eine Quasi-Spaltung brachte, die „Montagsdemonstrationen“ hervorrief und am Ende zur Gründung der LINKEN führte. Das „Narrativ“ dieses Kabinetts hinterliess der Welt die vielleicht ekelhafteste Instrumentalisierung des Holocaust als Legitimierung eines imperialistischen Kriegs zur Zerschlagung Jugoslawiens: Rudolf Scharpings Fuchteln mit einem leeren Blatt, auf dem, wie er später selber zugeben musste, das von ihm frei erfundene serbische Kriegsprojekt („Hufeisenplan“) dokumentiert sei, Vizekanzler Josef Fischers Begründung, der Krieg mit Serbien sei eine notwendige Konsequenz der Erfahrung „Auschwitz“ und die NATO die historische Erbin des bewaffneten antifaschistischen Widerstands. Deutsche Bomben auf Belgrad als Fortsetzung des Antifaschismus –das gehört vorbildlich zu Klingbeils Narrativ, also zur Zukunftsprojektion der SPD.
Vielsagend, dass ein Aufschrei im Studio unterblieb.
All das rief Klingbeil ja auch nicht explizit auf. Aber es ist objektiv zentraler Bestandteil des von ihm gepriesenen „Narrativ“-Projekts im Kabinett Schröder-Fischer, Vorbild einer Ampelkoalition unter Kanzler Scholz. Unter Scholz, also einem Mann, der politisch den Tod eines Menschen durch von ihm gegen ärztlichen Rat befürworteten Brechmitteleinsatz im Polizeigewahrsam verantwortet, den brutalsten und reaktionärsten Polizeieinsatz in der Geschichte Hamburgs (gegen den dortigen G20-Gipfel) anordnete und tief in die Korruptionsnetzwerke um den Wirecard- und CumEx-Skandal verstrickt ist.
Klingbeils Aussage geschah wahrscheinlich in einem Moment aus Triumpfgefühlen schwächerer Selbstkontrolle – sie ist umso signifikanter. Ihm rutschte für einen kurzen Moment heraus, was die SPD vorhat, allem Werbe-Gerede zum Trotz, mit dem sich die Partei seit Jahren von dem wie Hundekot am Schuhabsatz stinkenden Begleitgeruch von Krieg und Sozialabbau zu distanzieren sucht, und der sich trotzdem überall ausbreitet, wo sie auftaucht. Das gilt auch für ihren linken Flügel, vertreten zB. durch Kevin Kühnert, dessen ablehnende Haltung zum erfolgreichen Berliner Enteignungsreferendum gegen „Deutsche Wohnen“ und „Vonovia“ der Ablehnung von Franziska Giffey, rechter Parteiflügel, gleicht wie ein Ei dem andern. Wer Kühnert will, bekommt Giffey – so funktioniert die SPD.
Die Grünen – zu allem bereit!
„Mein Ja war eigentlich ein Nein“ sagte die GRÜNE Parlamentarierin Antje Vollmer, nachdem Gerhard Schröder 2001 die Zustimmung der von ihm geführten Koalition zum Afghanistan-Krieg („unbedingte Solidarität mit den USA“) mit der Vertrauensfrage erzwungen hatte. Auch das war ein bis heute repräsentativer lichter Moment, in dem deutlich wurde, wozu diese Partei im Ernstfall in der Lage war und ist. An zB. gegen Russland gerichtetem Bellizismus lässt sie sich seit langem von niemandem überbieten – ein Höhepunkt dessen war ihre Haltung zum neoliberal-faschistischen Putsch in der Ukraine 2014.[1] Dass diese Art Politik stets von passenden Argumenten aus der Heinrich-Böll-Stiftung parfümiert sein werden ist sicher – Vollmers eingangs zitierter Satz bringt es auf den Punkt.
Gewählt wurden die GRÜNEN aber diesmal für ihr Wahlversprechen, die Klimakrise als zentrales Thema des nächsten Kabinetts auf die Tagesordnung setzen zu wollen. Das absehbare Scheitern dieses Vorhabens dürfte sich wie im Politiklabor in den nächsten Jahren an der Frage zeigen, dass eine Partei, die wahrhaft bombenfest auf dem niemals und nirgendwo von ihr in Frage gestellten Fundament des Kapitalismus steht, zur Lösung der selbstgestellten Aufgabe, in letzter Minute das Überschritten der Kippunkte hin zur Klimakatastrophe zu verhindern, einfach objektiv nicht in der Lage ist. Luisa Neubauer wird die künftige Antje Vollmer werden, was diese Frage angeht.
FDP – mit dem SUV in die Klimakatastrophe
Die Partei der Porsche-Fahrer und der – Nicola Beer – Klimakrisen-Leugner*innen profilierten sich als das innovative Gesicht derjenigen schon Besserverdienenden oder hoffungsvollen Aufsteiger*innen in spe, die alles gleichzeitig wollen: Steuersenkungen für Reiche und Wohlstand für sich, gute Exportgeschäfte für die von ihnen vertretenen Kapital-Fraktionen, eine von irgendwem irgendwann noch zu erfindende Klimakrisenbewältigungstechnologie, mit der „Deutschland“ natürlich Weltmarktspitze werden soll, Toleranz für Veganer*innen und die queere Community („Bürgerrechte“) und überhaupt einen flauschig-smarten, im richtigen Moment dann aber auch toughen Kapitalismus.
Da weite Teile dieser von der FDP in den letzten Wochen erfolgreich besetzten kulturellen Komponenten weit über die Klientel von Rechtsanwält*innen und Zahnärzt*innen hinaus gesellschaftliche Akzeptanz und Sympathie geniesst, gelang es der FDP besonders unter Erstwähleri*nnen, sie vor den Karren ihrer „enrichissez-vous“ Politik zu bringen. Wie wenig ernsthaft diese Komponenten gesellschaftlich irgendeine reale, strukturelle Rolle spielen, wird schlaglichtartig daran deutlich, dass der öffentliche Wahlkampf der FDP einzig und allein auf das Argument „Christian Lindner“ zugeschnitten war.
Mir ist keine feministische oder linke Kritik daran bekannt, obwohl es sie gegeben haben mag. Es ist wird spannend, zu beobachten, wie sich GRÜNE und FDP auf einen künftigen Pfad der Entwicklung einigen wollen, der nicht nur den oben karikierten Cocktail der FDP-Ziele, sondern auch noch „radikalen Klimaschutz“ auf einen Nenner bringt. Da wird noch so manches Ja zum Nein werden und umgekehrt.
CDU – Armins Zeugen
Die CDU hatte das Problem Armin Laschet und ist an ihm gescheitert. Mit seiner Selbstfestlegung auf den Anspruch, nun auch als Verlierer noch Bundeskanzler werden zu wollen, hat sich Laschet einen festen Platz in der Politikgeschichte der BRD gesichert. Fragt sich nur, in welcher Abteilung. Auch aufgrund ihrer politischen wie medialen Doppelrolle als CDU plus CSU hat die Partei des Monopolkapitals so etwas wie Staatspartei-Charakter: in jeder Diskussionsrunde zB. hat sie mehr oder weniger doppelt so viel Rederecht als alle andern. Eine Regierung an ihr vorbei zu wollen, riecht von vornherein nach Verfassungsfeindlichkeit.
Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie es diesmal nicht mehr schafft, sich an diesen Status zu klammern – die selbstüberschätzenden Machtansprüche Laschets drückten genau das aus – ist nicht klein. Es könnte sein, dass Laschet im Prozess der Herstellung irgendeiner Art von Rettungskapsel für die Machtansprüche der CDU (Stichwort GroKo) noch rechtzeitig über Bord geworfen wird. Leider besetzt derzeit Annette Schavan bereits den Posten als Botschafterin beim Vatikan.
LINKE – ?
Wofür braucht es diese LINKE? Die Partei konnte und kann sich noch immer nicht wirklich entscheiden, wofür sie da sein will. Ist sie Regierungspartei in spe im Staat des deutschen Imperialismus? Oder parlamentarischer Arm auch radikaler Opposition, einer Opposition, die vielleicht sogar über den Tellerrand des Kapitalismus hinausschaut? Solange es sie gibt, streitet sich die Partei intern darüber. Die Schein-Lösung, paritätisch (Wissler neben Bartsch usw.) irgendwie beides sein zu wollen, ohne den strategischen inneren Konflikt gelöst zu haben, hat jetzt zur Halbierung der Bundestagsfraktion geführt.
Sollte es je rotgrünrote Hoffnungen gegeben haben (für manche Linken in Berlin und Thüringen klingt das allerdings eher wie eine Drohung), sind sie auf Jahre hinaus beerdigt – abgesehen von der Frage, wozu die gesellschaftliche Linke eine Partei braucht, die sich neben der SPD als zweite sozialdemokratische Organisation bereithält. Als Ärztin für den Arzt am Krankenbett des Kapitalismus? Dieses Konzept ist nun krachend gescheitert. Ein neues ist bislang nicht in Sicht.
Koalitionsfragen
Während derzeit überall diskutiert wird, ob die künftige Bundesregierung von einer Jamaika- oder einer Ampel-Koalition gestellt wird, gibt es rechnerisch auch noch die andere Möglichkeiten einer Groko-Regierung. Sie ist nicht so unwahrscheinlich, wie es klingt. Natürlich ist es im allerhöchsten Interesse des Kapitals und der Herrschenden, die Grünen JETZT in die Regierung einzubinden, um sie daran zu hindern, aus der Oppositionsrolle am Ende wirksameren Druck auf Regierung und Industrie ausüben zu können, was die verbleibende Zeit angeht, Klimaschutz noch wirksam verankern zu können. Aber die FDP wird da nicht nur möglicherweise weniger mitmachen als erforderlich.
Die grünen Verhandler:innen aber, die werden mehr oder weniger alles mitmachen, was ihnen zugemutet wird – Kretschmann, al-Wazir und Özdemir werden das schon hinbiegen. Der Danni wird nicht das letzte schwarz-grüne „Opfer“ deutscher Staatsräson in Gestalt der KFZ-Industrie und ihrer angeblichen Strukturnotwendigkeiten bleiben. Aber es bleibt ein Risiko, über solche Pläne irgendwann einen grünen Parteitag abstimmen zu lassen. Da ist die Idee, jetzt erstmal FDP und Grüne verhandeln zu lassen, und den Grünen dann mit der Drohung der GroKo weitere Zugeständnisse abzupressen eine mögliche Option, wenn man sie nicht zu weit treibt.
Sollte das nicht klappen, könnte es eine seufzend in Kauf genommene GroKo sein. Für die eigentliche Regierung im Land, das Monopol- und Finanzkapital, könnte das eine Reserve-Variante sein, zu sichern, dass alle auch widersprüchlichen Klasseninteressen der Herrschenden im Regierungshandeln der nächsten Legislaturperiode angemessen vorkommen.
Angesichts dieser denkbaren Möglichkeiten erscheint die an sich naheliegende einer Ampel unter Führung von Scholz nicht ganz so wahrscheinlich, wie es jetzt aussieht.
Das Problem heisst Kapitalismus
Und dieses Problem stand nur in einzelnen System-Konsequenzen und Erscheinungsvarianten zur Abstimmung. Kapitalistische Warenproduktion, die Systemnotwendigkeit zur erweiterten Reproduktion des Kapitals, also zu sogenanntem „Wachstum“ , die eiserne Systemnotwendigkeit, mit der im Rahmen des Kapitalismus die Klimakrise zur Klimakatastrophe geworden ist und sich weiter steigern muss, die drohenden „Ausweichmanöver“ angesichts der sich daraus wie aus den ergebenden Krisen: Krieg gegen Russland, globale Konfrontation des „Westens“ mit China – also klassische innerimperialistische Interessenkämpfe – sie alle standen nicht zur Wahl. Wäre es anders – die Herrschenden könnten mit dem Ergebnis nicht so bequem leben.
Umgekehrt: nicht zur Wahl stand eine explizite Alternative zur kapitalistisch-imperialistischen Gesamtverfassung der bundesdeutschen Gesellschaft. Rätemacht, gesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln, wirkliche Demokratie durch Planung und Lenkung der Ökonomie in Produktions- und Reproduktionssektor und durch die Produzent*innen als der Rahmenbedingung des künftigen gesellschaftlichen Lebens, gesellschaftliche Planung im Rahmen eines demokratisch beschlossenen Gesamtplans, zu dessen Grundbedingungen die Vermeidung der Klimakatastrophe gehört, aber auch Abrüstung und Frieden, formale und reale Gleichberechtigung aller Menschen, Bildung und Teilhabe an allen Sektoren des gesellschaftlichen Lebens für alle, die hier leben und arbeiten, umfassende antipatriarchale, antinationalistische, antirassistische Kulturrevolution, Ende der Dauerkonkurrenz aller gegen alle als Schlüssel zur je eigenen Position im gesellschaftlichen Überlebenskampf – eine sozialistische Gesellschaft als erster Schritt zum Kommunismus also, sie stand nicht zur Wahl.[2]
Denn ihre Voraussetzung und der Prozess ihrer Entwicklung – das wäre die Revolution. Und Revolutionen werden weder im Fernsehen gesendet noch in Wahlen entschieden. Die Voraussetzung für sie heisst: Organisierung aller, die sie wollen, Diskussion und Klarheit über die Alternative zum Kapitalismus, Kampf um seine Beseitigung. Dafür hat die gesellschaftliche Linke keine geeignete Plattform strittiger und solidarischer Diskussion, ja diese ist vermutlich auch mehrheitlich nicht wirklich gewollt.
Strategie für ein Leben jenseits des Kapitalismus
Denn die entscheidende Schwäche der gesamten Linken in der BRD ist, dass sie sich über die Zugangsfragen zu Revolution und der Gesellschaft jenseits des Kapitalismus nicht so intensiv und so solidarisch wie möglich streitet.
Sehr viele wollen (schon) gar keine Revolution (mehr), sondern hoffen auf, arbeiten für eine Transformation, also einen Vorgang, in dessen Verlauf die Herrschenden angeblich gar nicht anders können sollen, als ihre Staats- und Klassenmacht zu verlieren, ohne es zu bemerken oder ohne etwas dagegen tun zu können.
Andere meinen, ihre mit grosser Leidenschaft und sympathischem Ernst gelebten Utopien auf zeitweiligen Inseln im Meer des deutschen Imperialismus könnten irgendwann und irgendwie die Lösung sein.