Amnesty International kritisiert westliche Impfstoffhersteller, weil sie vor allem reiche Länder beliefern. BioNTech vermeldet erneut Rekordgewinn und wird zum Wachstumstreiber.
Scharfe Kritik an den westlichen Herstellern von Covid-19-Impfstoffen, insbesondere an dem deutschen Unternehmen BioNTech, übt Amnesty International. Wie die Menschenrechtsorganisation in einer heute erscheinenden Studie konstatiert, liegt die Verantwortung dafür, dass bisher nur 0,3 Prozent der weltweit verabreichten Covid-19-Impfdosen armen Ländern zugute kamen, nicht bloß bei den wohlhabenden Staaten des Westens, die die Märkte leerkaufen, um Kinder zu impfen sowie Vakzine zu horten. Schuld daran tragen darüber hinaus die großen Impfstoffproduzenten: Sie verweigern die zumindest zeitweilige Freigabe ihrer Patente und vernachlässigen dramatisch notwendige Lieferungen an die internationale COVAX-Initiative – um zum Teil riesige Gewinne zu erzielen. BioNTech etwa gelang es, seinen Profit im zweiten Quartal 2021 auf 3,92 Milliarden Euro zu steigern – bei einem Gesamtumsatz von 7,36 Milliarden Euro. Das könne die Wende für die zuletzt schwächelnde deutsche Pharmabranche bringen und das deutsche Wachstum beschleunigen, urteilen Experten. Die Versorgung ärmerer Länder leistet derzeit vor allem China.
Wer hat, dem wird gegeben
Amnesty International übt scharfe Kritik an den sechs großen westlichen Produzenten von Covid-19-Impfstoffen – Pfizer, Moderna, Johnson & Johnson, Novavax (alle aus den USA), AstraZeneca (Großbritannien) und BioNTech (Deutschland).[1] Wie die Menschenrechtsorganisation erklärt, wurden von den 5,56 Milliarden Impfdosen, die bis Mitte September verabreicht wurden, über 71 Prozent in Ländern mit hohem oder gehobenem mittlerem Einkommen gegeben, während in Ländern mit niedrigem Einkommen nur dürftige 0,3 Prozent davon verimpft werden konnten. Das liegt laut Amnesty International nicht nur daran, dass wohlhabende Länder Vakzine in riesigen Mengen vom Markt kaufen, um nicht nur Erwachsene, sondern zunehmend auch Jugendliche und Kinder – teils ausdrücklich gegen ärztlichen Rat – zu immunisieren, Auffrischungsimpfungen zu verabreichen und erhebliche Mengen für die Zukunft zu horten. Immer häufiger müssen auch Impfdosen vernichtet werden, weil sie in reichen Ländern ungenutzt liegenbleiben, bis ihr Haltbarkeitsdatum überschritten ist. Berichten zufolge könnten auch in Deutschland in Kürze über drei Millionen Dosen verdorben sein.[2] Die Behauptung, mit Spenden an die COVAX-Initiative versorge die reiche Welt auch ärmere Länder, läuft ins Leere: Von den zwei Milliarden Impfdosen, die COVAX bis Jahresende bereitstellen wollte, wurden bis Anfang September lediglich 243 Millionen ausgeliefert.
Die Reichen impfen
Es kommt laut Amnesty International noch hinzu, dass die großen Impfstoffhersteller mit einer partiellen Ausnahme einer besseren Verteilung von Vakzinen an ärmere Länder implizit, zum Teil aber auch gezielt entgegenwirken. So verkaufen sie ihre Impfstoffe in der Regel mit hohem Profit, was ärmere Staaten stark benachteiligt. Sie weigern sich nach wie vor, Patente und technisches Know-how zumindest für die Dauer der Pandemie freizugeben, und verhindern so die Ausweitung der Produktion vor allem in ärmeren Ländern. Eine Ausnahme stellt laut Amnesty International AstraZeneca dar: Der Konzern mit Hauptsitz in Cambridge (Großbritannien) verkauft seine Impfdosen laut Eigenangaben zum Herstellungspreis und hat laut Amnesty Lizenzvereinbarungen mit Herstellern in Brasilien, China, Indien und Russland getroffen; dafür verdiene der Konzern, wenngleich auch er jegliche Patentfreigabe ablehne, „Anerkennung“, urteilt Amnesty. Tatsächlich hat AstraZeneca bisher fast zwei Drittel seiner Impfdosen an Länder mit niedrigem mittlerem oder mit geringem Einkommen geliefert, während etwa 79 Prozent der Lieferungen von Johnson & Johnson sowie 88 Prozent der Lieferungen von Moderna in Länder mit gehobenem mittlerem oder mit hohem Einkommen gingen.
Milliardenprofite
In besonderem Maß trifft die Kritik von Amnesty International BioNTech (Mainz) und dessen US-Partnerkonzern Pfizer (New York). Wie die Menschenrechtsorganisation berichtet, sind bisher 79,9 Prozent der von den beiden Unternehmen ausgelieferten Impfdosen an Länder mit hohem Einkommen gegangen, weitere 18,0 Prozent an Länder mit gehobenem mittlerem Einkommen, nur zwei Prozent an Länder mit niedrigem mittlerem und verschwindende 0,1 Prozent an Länder mit geringem Einkommen; das ist die exzessivste Bevorzugung reicher Länder unter sämtlichen Covid-19-Impfstoffherstellern. Pfizer und BioNTech verkaufen ihren Impfstoff zudem so teuer, dass sie gewaltige Profite erzielen – dies, obwohl massive staatliche Vorleistungen Entwicklungskosten gedeckt und Geschäftsrisiken minimiert haben: So hat die Bundesregierung BioNTech mit 375 Millionen Euro gefördert; BioNTech und Pfizer erhielten zudem feste Abnahmezusagen der Vereinigten Staaten und der EU für Impfdosen im Wert von 17,3 Milliarden US-Dollar. Die Profite sind enorm: Allein BioNTech konnte den Umsatz von 2,05 Milliarden Euro im ersten Quartal 2021 auf 5,31 Milliarden Euro im zweiten Quartal steigern, den Gewinn von 1,13 Milliarden Euro auf 2,79 Milliarden Euro. Allein im ersten Halbjahr 2021 erzielte der Mainzer Konzern damit bei Umsätzen von 7,36 Milliarden Euro einen Profit von 3,92 Milliarden Euro. Er beruht fast ausschließlich aus dem Impfstoffverkauf.[3]
Wachstumstreiber
Für das Gesamtjahr 2021 peilt BioNTech einen Umsatz von rund 16 Milliarden Euro an; das wäre rund ein Drittel des Gesamtumsatzes der deutschen Pharmabranche im Jahr 2020. Damit könne es gelingen, dem zuletzt schwächelnden Sektor wieder Auftrieb zu verleihen, urteilen Experten. Der Umsatz der deutschen Pharmabranche war jüngst von 54 Milliarden Euro im Jahr 2018 auf 47,2 Milliarden Euro im Jahr 2020 gefallen, während der globale Sektor deutlich gewachsen war. „Die Corona-Pandemie und der Mainzer [BioNTech-]Erfolg im Bereich der mRNA“ biete nun „die Chance, auch im internationalen und europäischen Standort-Wettbewerb Boden gutzumachen und ihren Anteil an der globalen Pharma-Wertschöpfung wieder zu erhöhen“, heißt es.[4] Investoren urteilen bereits, mit BioNTech entstehe endlich „wieder ein eigenständiger Pharmakonzern in Deutschland“.[5] Darüber hinaus wirkt sich der BioNTech-Geschäftserfolg gesamtwirtschaftlich aus. Die Firma „könnte in diesem Jahr rund 0,5 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beitragen“, erklärte kürzlich Sebastian Dullien, Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in Düsseldorf.[6] Er könne sich, sagte Dullien, „an keinen Fall erinnern, in dem ein Unternehmen einen solchen Einfluss auf das deutsche BIP hatte“.
Die Versorgung ärmerer Länder
Während BioNTech Profite anhäuft, um zu einem breiter aufgestellten, auch jenseits der Covid-19-Impfstoffproduktion bedeutenden Pharmakonzern aufzusteigen, werden ärmere Länder vor allem von China mit Vakzinen versorgt. Die Volksrepublik hat laut Statistik des Unternehmens Bridge Consulting aus Beijing inzwischen 831 Millionen Impfdosen ins Ausland geliefert; darunter waren 66 Millionen Impfdosen, die gespendet wurden.[7] Gut 61 Millionen Dosen gingen nach Afrika, mehr als ein Drittel der insgesamt 177 Millionen Dosen, die bislang dort eintrafen; 12,8 Millionen Dosen wurden von Beijing gespendet. In Marokko hat zudem die Teilproduktion des Vakzins von Sinopharm begonnen. Chinesische Konzerne lieferten bislang mehr als 236 Millionen Dosen nach Lateinamerika, darunter 96 Millionen Dosen nach Brasilien. Über 480 Millionen Dosen gingen in die Asien-Pazifik-Region – 191 Millionen nach Indonesien, 34 Millionen auf die Philippinen, 48 Millionen nach Pakistan, knapp 30 Millionen nach Bangladesch. Eine Teilproduktion chinesischer Impfstoffe findet unter anderem in Indonesien und in Brasilien statt. Vakzine aus China wurden außerdem in einige Länder Ost- und Südosteuropas geliefert, so etwa nach Ungarn (4,5 Millionen Dosen), Serbien (4,2 Millionen Dosen) und in die Türkei (31,4 Millionen Dosen). Die Lieferungen chinesischer Vakzinproduzenten ins Ausland erreichten zuletzt ein Volumen von mindestens 30 Millionen Impfdosen pro Woche.
Mehr zum Thema: Die Pandemieprofiteure.
[1] Amnesty International: A Double Dose of Inequality. Pharma Companies and the Covid-19 Vaccine Crisis. London, September 2021.
[2] Christina Berlinghof: Warum landen weltweit so viele Corona-Impfstoffdosen im Müll? web.de 05.09.2021.
[3] BioNTech Announces Second Quarter 2021 Financial Results and Corporate Update. investors.biontech.de 09.08.2021. S. auch Die Pandemie als Chance.
[4] Siegfried Hofmann: Biontech wird zum Booster für den Pharmastandort Deutschland. handelsblatt.com 08.09.2021.
[5] Eva Müller, Martin Noé: „Mit Biontech entsteht wieder ein eigenständiger Pharmakonzern in Deutschland“. manager-magazin.de 16.09.2021.
[6] Impfstoff kurbelt Wirtschaft an: Biontech sorgt allein für ein halbes Prozent Wachstum in Deutschland. handelsblatt.com 10.08.2021.
[7] China Covid-19 Vaccine Tracker. bridgebeijing.com. Updated as of September 13, 2021.