Jürg Müller-Muralt für die Online-Zeitung INFOsperber
Für kaum eine andere Bevölkerungsgruppe ist derzeit die Lage in Afghanistan verzweifelter als für die Frauen. Wird es wieder so schlimm wie unter der ersten Taliban-Herrschaft? Werden die Emanzipationsschritte der letzten Jahre alle rückgängig gemacht? Ist das wachsende weibliche Selbstbewusstsein, insbesondere in den grossen Städten, schon wieder vorbei? Gleichzeitig darf trotz der positiven Entwicklung der letzten Jahre nicht vergessen werden, dass Frauenrechte in der patriarchalischen afghanischen Gesellschaft auch unter der westlichen Schirmherrschaft der vergangenen 20 Jahre nie besonders ausgeprägt entwickelt waren: Zwangsehen, Genitalverstümmelung, häusliche und sexuelle Gewalt sowie andere Unterdrückungsformen gehörten für Frauen immer zum Alltag. 80 Prozent der Suizide werden in Afghanistan von Frauen begangen. Afghanistan ist das gefährlichste Land für Frauen weltweit.
Viele Fluchtgründe für Frauen
Frauen sind also besonders schutzbedürftig. Europäische Länder, auch die Schweiz, könnten jetzt afghanischen Frauenrechtlerinnen – die akut bedroht sind – humanitäre Visa anbieten, um einreisen und einen Asylantrag stellen zu können. «Die Verfolgung aufgrund der ‹politischen Gesinnung› wird in der Genfer Flüchtlingskonvention schliesslich ausdrücklich genannt», schreibt der Völkerrechtsexperte Ralph Janik.
Aber nicht nur exponierte politische Aktivistinnen können gemäss Janik als Flüchtlinge anerkannt werden, sondern auch Frauen und Mädchen, die nicht politisch aktiv sind: «Geschlechtsbezogene Verfolgung hat viele Gesichter, die Uno-Flüchtlingshilfe nennt ausdrücklich weibliche Genitalverstümmelung, häusliche Gewalt, Vergewaltigungen (auch in der Ehe, zumal diese oft nicht freiwillig eingegangen oder aufrechterhalten wird) und Menschenhandel. In all diesen Fällen kann von einer Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer ‹sozialen Gruppe› ausgegangen werden.»
Schwarzer mit radikaler Forderung
Ein besonderes Augenmerk auf Frauen ist zwingend. Doch die deutsche Feminismus-Ikone Alice Schwarzer geht einen entscheidenden Schritt weiter: Sie forderte jüngst in der Zeitschrift Emma, ausschliesslich Frauen aufzunehmen: «Afghanische Terroristen werden sehr bald auch bei uns sein. Sie werden sich, gezielter denn je zuvor, unter die zu erwartenden Flüchtenden mischen. Ein Grund mehr, jetzt nur Frauen und Kinder aus Afghanistan aufzunehmen! Da Deutschland eh nicht allen Menschen aus der nächsten Flüchtlingswelle Schutz geben kann, sollte es sich auf die Afghaninnen beschränken. Denn die sind in der höchsten Not.»
Männer unter Generalverdacht
Damit hat Alice Schwarzer eine unappetitliche Grenze überschritten. Sie begibt sich ins argumentative Revier jener islamophoben, weit rechtsstehenden Kreise, die generell von Flüchtlingen nur Negatives erwarten. Aus Afghanistan flüchtende Männer werden unter Generalverdacht gestellt. Mit dem Argument, man dürfe jetzt keine Männer aus dem Krisengebiet aufnehmen, weil sich Terroristen unter die Flüchtenden mischen könnten – «gezielter denn je zuvor» – wird nicht nur Panik verbreitet, sondern die ganze männliche Bevölkerung vorverurteilt und diskriminiert.
Menschenrechte haben kein Geschlecht
Schwarzer entfernt sich mit ihrer Intervention zudem von jener Tradition des Feminismus, die sich immer auch als gesamtgesellschaftliche Emanzipationsbewegung verstanden hat, unter Einschluss der Männer. Ziel sind die gleichen Rechte und Pflichten für alle. «Menschenrechte haben kein Geschlecht», sagte die deutsche Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Hedwig Dohm (1831-1919), eine der ersten feministischen Theoretikerinnen, die geschlechtsspezifische Verhaltensweisen auf die kulturelle Prägung zurückführte statt auf biologische Determination.
Auch rechtlich unhaltbarer Vorschlag
Der Vorschlag von Alice Schwarzer geht auch auf Kollisionskurs mit der Genfer Flüchtlingskonvention. Alle Menschen, die einen Schutzstatus beantragen, müssen gleichbehandelt werden, eben gerade ohne Rücksicht auf Geschlecht, religiöse Überzeugung etc. Im Fall von Afghanistan dürften zudem gerade auch Männer stark gefährdet sein – nämlich all jene, die mit US-, Nato- und anderen westlichen Institutionen zusammengearbeitet haben.
Islamfeindliche Tradition
Überraschend ist Alice Schwarzers Intervention nicht. Schon seit Jahren hat sie eine islamophobe Schlagseite. Nach den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht 2015/2016 in Köln bezeichnete die taz (Tageszeitung) Schwarzer als «Rechtsfeministin», weil sie mit denselben Angstszenarien arbeite wie die Rechtspopulisten. Sie zeigte auch verschiedentlich Verständnis für die islamfeindlichen Pegida-Demonstrationen. In einem von der taz zitierten Text schreibt Schwarzer 2015: «Sollte die Politik das Unbehagen dieser überwältigenden Mehrheit nicht ernst nehmen, statt es weiterhin zu ignorieren, abzustrafen, ja zu dämonisieren? (…) Es ist ja kein Unbehagen an der offensiven islamistischen Agitation, der Propagierung der Scharia. Es ist das berechtigte Unbehagen an dieser neuen Form des Faschismus.»
Feministinnen gehen auf Distanz
Diese Positionsbezüge haben bei jüngeren Feministinnen zu einer gewissen Distanz zu Alice Schwarzer geführt. Ein Beispiel dafür ist die Netzaktivistin und Feministin Anne Wizorek, die 2013 den Hashtag #aufschrei ins Leben rief und dabei eine Debatte über Alltagssexismus anstiess. In einem Spiegel-Interview nach den erwähnten Silvesterereignissen sagte Wizorek, es dürfe «nicht zum Standard der Geschlechterdebatte werden, dass nur männliche Migranten als Verursacher gelten». In diesem Zusammenhang bezeichnete Wizorek indirekt Alice Schwarzer als Rassistin: «Wenn ich mir ansehe, welche Leute jetzt in die Debatte um Frauenrechte einsteigen, dann sind das unter anderem dieselben Politiker, die während der Aufschrei-Debatte 2013 noch sagten, Frauen sollten sich doch nicht so haben. Jetzt, wo Männer mit Migrationshintergrund übergriffig geworden sind, wird das instrumentalisiert, um pauschal Stimmung zu machen. Ich halte das für rassistisch.» Als Der Spiegel fragte: «Ist Frau Schwarzer für Sie eine Rassistin?», antwortete Wizorek: «Es ist rassistisch, so zu tun, als seien nur Männer mit Migrationshintergrund Täter. Ich bin sehr für eine differenzierte Debatte über sexualisierte Gewalt.»