Der Theologe Norbert Lüdecke rechnet in einem neuen Buch mit der Kirche ab. Auch mit dem sogenannten »Synodalen Weg«. Der ist nichts anderes als eine große Selbsttäuschung der katholischen Laien – und ein Täuschungsmanöver der Kirchen-Obristen. Bleibt die Frage: warum machen die Gläubigen das eigentlich mit?
Von Helmut Ortner
Das katholische Bodenpersonal ist Männersache. Etwa 1,2 Milliarden Menschen unterstehen einem rein männlichen Kleriker-Kartell, der gerade einmal 0,4 Prozent der Katholiken ausmacht. Das Epizentrum der Macht ist an Papst, Kardinäle und Bischöfe gebunden: ganze 0,00041 Prozent. Sie allein deuten und verkünden die verbindlichen Lehrgrundlagen, setzen sie um in kirchliche Dogmen und Gesetzgebung. Die Mehrheit der Gläubigen schulden ihnen Folgsamkeit und Gehorsam – umgekehrt sind die Kirchenmänner ihren gläubigen Laien in keiner Weise rechenschaftspflichtig. Ein klares Machtgefüge: Laien dürfen beten und hoffen, Kleriker bestimmen und entscheiden. Von Demokratie mag man hier nicht unbedingt sprechen. Die katholische Kirche ist eine weltabgewandte, grundrecht-verletzende Männer-Domäne: starr, autoritär, machtbewusst. Doch die Gläubigen wollen glauben und sie tun das gerne gemeinsam – trotz allem. Das »Haus Kirche« als sinnstiftende Heimstatt im Hier & Jetzt mit allen Versprechungen ins Jenseits.
Doch es rumort im Katholen-Kosmos. Kirchlich gebundene und organisierte Gläubigkeit schwindet, das belegen jedenfalls rückläufige Mitgliederzahlen. Das hat mit aktuellen Skandalen zu tun (Missbrauchs-Skandalen, Finanz-Skandalen), auch mit einem Gesellschafts- und Menschenbild, das an Bindekraft verliert. Allein im vergangenen Jahr haben mehr als 440 000 Menschen die beiden großen Kirchen verlassen. Bei den Katholiken kehrten 221.000 Menschen der Kirche den Rücken, bei den Protestanten waren es rund 220.000 Menschen. Nun fällt nicht jeder, der das »Haus Kirche« verlässt, gleich von Gott und Glauben ab. Eines aber wird deutlich: das Vertrauen in das göttliche Bodenpersonal bröckelt rasant.
Die Vertrauenskrise dürfte sich vor wegen der stockenden Aufarbeitung von Missbrauchsskandalen weiter fortsetzen. Im Erzbistum Köln etwa führte der Umgang mit den Missbrauchsfälle zu einer Welle von Kirchenaustritten. Wochenlang gab es wegen Überlastung der Ämter Anfang dieses Jahres keine Termine mehr. Zweifelnde Mitglieder wenden sich ab, denken über einen Austritt nach. Engagierte klerikale Laien wollen endlich Änderungen, Mitsprache und Transparenz. Sie wollen sich nicht mehr mit den üblichen »Dialog«-Inszenierungen befrieden lassen, wo in »gemeinsamen Beschlüssen« Partizipation simulieren wird, ihnen aber in Wahrheit nur eine unverbindliche Meinungsäußerung eingeräumt wird: ein Stimmrechts-Placebo.
Mittlerweile hat die klerikale Machtzentrale in Rom die Aufmüpfigkeit ihrer engagierten Schäfchen wahrgenommen. Papst Franziskus hat verlauten lassen, er wolle die Kirche für mehr Mitsprache von Laien öffnen und dazu einen »synodalen Prozess« anstoßen. »Die Kirche Gottes ist zu einer Synode zusammengerufen«, heißt es in einem im Vatikan vorgestellten Dokument in Vorbereitung auf die Weltbischofssynode 2023. Alle Gläubigen seien dazu aufgerufen, an der Weiterentwicklung der Kirche mitzuarbeiten. Von »Synodalität« ist die Rede. Darunter wird verstanden, dass auf möglichst breiter Basis unter Einbeziehung von Nicht-Klerikern über die Zukunft der Kirche beraten wird.
Das »Zentralkomitee der deutschen Katholiken« (ZdK) applaudierte pflichtbewusst. Seit Jahren übt sich das Laien-Forum im braven Gehorsam. Ein pflegeleichtes Laien-Forum, finanziell und personell abhängig von den Bistümern, das in der Vergangenheit vor allem die Interessen des Klerus vor allzu vehementen Zugriffen der Gläubigen schützte. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, sprach denn auch von einem »Meilenstein«. Eine fromme Lüge. Es geht schlichtweg darum, den aktuellen Kritik-Hochdruck durch allerlei Gesprächs-Inszenierungen zu kanalisieren, indem sich Laien weiterhin beteiligt fühlen sollen, ohne entscheiden zu können. Die Ausrufung von Offenheit und Teilhabe als klerikale Marketing-Strategie. Der Claim: »Synodaler Weg«. Dabei bringt es inhaltlich nicht Neues, verfestigt das Vorhandene: die Position der Frau, die kirchliche Sexualmoral, den Umgang mit Macht und die priesterliche Ehelosigkeit, Missbrauch und Korruption. Alle Themen werden seit Jahren diskutiert – ohne nennenswerte Änderungen.
Es braucht ein solides Resilienz-Polster, viel Verdrängungskunst und große Demütigungsbereitschaft, um sich in dieser machtbewussten Männer-Diktatur heimisch zu fühlen. Für einen Außenstehenden, gar Ungläubigen, ist nicht zu übersehen, dass hier eine autoritär-hierarchische Struktur als »Gemeinde« und »Christengemeinschaft« rhetorisch vernebelt wird. Trotz allem: das Kirchenvolk bleibt mehrheitlich noch hoffnungsfroh, gehorsam und duldsam. Auch die engagierten klerikalen Laien.
Darüber hat der Theologe Norbert Lüdecke nun ein erhellendes Buch geschrieben, das Struktur und Systematik der kirchlichen Placebo-Debatte eindrucksvoll seziert. Der sogenannte »Synodale Weg« – so urteilt der Autor – ist nichts anderes als eine große (Selbst)-Täuschung der katholischen Laien – und ein Täuschungsmanöver der Kirchen-Männer, kompromisslos inszeniert, um innerkirchlichen Protest und Reformgedanken zu neutralisieren. Bleibt die Frage: warum machen das die engagierten Laien und die hoffnungsfrohen Gläubigen eigentlich mit?
Lüdecke, Professor für Kirchenrecht an der Universität Bonn, spannt einen weiten Bogen: von der »hierarchischen Einhegung« des Laien-Engagements etwa mit der Gründung des »Zentralkomitees der Deutschen Katholiken« in den frühen Fünfzigerjahren, über die Würzburger Synode in den Siebziger Jahren, als westdeutsche Bistümer die Laien zum Dialog einluden, wo es dann viele Beschlüsse und Abstimmungen gab, aber nicht jede Stimme gleiches Gewicht besaß, bis zum heutigen »Synodalen Weg«. Dort – so Lüdecke beinahe ketzerisch – lassen sich „engagierte Laien auf ein betreutes Diskutieren ein, bei dem sich in den ohnehin überschaubaren Debattenphasen noch von liturgischen Feiern und sogenannten »EinHalten« unterbrechen lassen.“
Lüdecke ist ein scharfsinniger Autor. Schon 2018 veröffentlichte er einen Aufsatz über den Umgang der Kirche mit ihren Missbrauchs-Verbrechen, der weithin Beachtung fand. Darin führte er auch eine Mängelliste auf, die das skandalöse Beharren der Kirche auf Bestimmungen und Strukturen belegt, die sexuellen Missbrauch nicht nur nicht verhindern helfen, sondern ihn begünstigen oder gar fördern. Er nannte das Katholische Kirchenrecht, das den sexuellen Missbrauch Minderjährigen immer noch als „vergleichsweise leichten Verstoß gegen die Zölibatspflicht“ wertet und die kanonische Strafe weitgehend dem Ermessen eines kirchlichen Richters überlässt. An die Kleriker, aber auch an alle Katholiken, appellierte er eindringlich: „Sie müssen sich entscheiden, was für Sie mehr zählt … Wenn Sie sich effektive Mittel scheuen, etwas an dem zu ändern, über das Sie sich empören, dann sollten sie aufhören und sich mit der »Übergriffigkeit des Systems« abfinden.“
Es gäbe innerkirchlich keine Kultur politischer Verantwortung, kritisierte er: „Die derzeitigen deutschen Diözesanbischöfe haben ihr Amt mehrheitlich nach 2010 angetreten. Fast alle waren sie vorher in anderen diözesanen Ämtern verantwortlich tätig, überwiegend mit Zuständigkeiten für Personal- und insbesondere Kleriker-Angelegenheiten. Und dennoch will keiner so viel gewusst haben, dass er sich verantwortlich zu fühlen hätte?” Daran hat sich bis heute wenig geändert. Ein klerikales Täter-Kartell hat ein System aus Verschweigen, und Vertuschen etabliert. Und die Mehrzahl der katholischen Gläubigen hat es hingenommen.
In seinem neuen Buch fragt Lüdecke: Warum machen die Gläubigen bei dieser aktuellen Partizipations-Simulation, die diesmal unter dem Claim »Synodaler Weg« firmiert, erneut mit? „Gibt es Faktoren, die Katholiken den Blick auf die kirchliche Realität verstellen, oder vielleicht eine spezifisch katholische Disponierung, diese Realität gar nicht sehen zu wollen? …
Ist ihre Angst, sich von einer reformunfähigen Kirche distanzieren zu müssen, größer als ihr Leiden an der real existierenden Kirche?“ Beinahe lakonisch konstatiert er, dass das Kirchenvolk auf diese Weise weiterhin gut betreut durch ein „potemkin´sches Sydonaldorf« schreitet, „in dem vor allem eines praktiziert wird: die alte katholische Unterwerfungshaltung gegenüber den Kirchenherren.“ Kurzum: es wird alles bleiben, wie es ist. Die Kirche ist unreformierbar. „Sie reden über die Glückseligkeit im Jenseits, wollen aber die Macht im Diesseits”, sagt Christopher Hitchens. Es könnte als Motto für die angekündigte »Synodalität« des Vatikans stehen.
Im Untertitel des Buches wird gefragt: Haben Katholiken die Kirche, die sich verdienen? Ja!, möchte man da antworten. Niemand muss freiwillig an der Kirche leiden. Die Seelenpein kann ein Ende finden – durch Kirchenaustritt. „Wer diesen Weg aus der selbst gewählten Unmündigkeit heraus scheut, der sollte mit Klagen aufhören und sich dem Systems abfinden“, schreibt Lüdecke. Allen katholischen Gläubigen, die auf das warme All-inclusive-Sinnstiftungsangebot ihrer Kirche nicht verzichten wollen, verweist er auf Esther Vilar, die schon vor vielen Jahren von katholischen Frauen verlangt hatte: „Werdet erwachsen und seid religiöse Selbstsorger und Sinnfinder“.
Norbert Lüdecke ist ein kluges, kenntnisreiches und argumentstarkes Buch gelungen. Es beschreibt schonungslos die Schieflage der Kirche. Das ist aufklärender Lesestoff im besten Sinne und erhellende Lektüre für alle, die an der Kirche zweifeln und verzweifeln. Wer freilich eine Anleitung für das Verlassen aus diesem Unterdrückungs- und Täuschung-Labyrinth erwartet, der wird enttäuscht. Das Drama seiner Selbsttäuschung muss er selbst beenden. Das Buch kann dabei von großem Nutzen sein.
Norbert Lüdecke, Die Täuschung – Haben Katholiken die Kirche, die sich verdienen?
303 Seiten, 20 Euro im Theiss Verlag