Ultranationalistische Fackelmärsche in ukrainischen Städten, die Heroisierung von ukrainischen Nazi-Kollaborateuren und Kriegsverbrechern sowie die Verbreitung der rechtsextremischtischen Ideologie lassen heute mit Sorge auf diesen osteuropäischen Krisenstaat blicken. Mehr als sieben Jahre nach dem „Euromaidan“, einem blutigen Regierungsumsturz in Kiew, bei dem „Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit, Wohlstand und die Integration der Ukraine in die EU“ als Hauptziele gesetzt wurden, besitzen ukrainische Rechtsextremisten offenbar so viel politische Macht und Einfluss, dass sich inzwischen die Frage stellt, ob sie in Wirklichkeit die Politik ihres Landes maßgeblich mitbestimmen.
Von Alexander Männer
Wie im ersten Teil des Artikels „Ukraine auf dem Weg zum Nazi-Staat? Macht und Einfluss von ukrainischen Rechtsextremisten auf postmaidane Politik“ dargelegt, waren Vertreter und Gruppierungen des rechtsextremen Lagers in der Übergangsphase vom Euromaidan zu etablierten Machtverhältnissen in Ukraine auf der politischen Ebene außen vor geblieben. Abgesehen von einigen Posten haben sie es nicht geschafft, fester Bestandteil einer „legitimen“ ukrainischen Regierung zu werden, sind jedoch weiterhin ein ernstzunehmender Akteur auf der politischen Bühne geblieben.
Im Hinblick auf die Machtausweitung begriffen die Rechten, dass sie offizielle Posten innehaben sollten, um sich und der eigenen ultranationalistischen Agenda sowohl politische Legitimität, als auch Absicherung zu gewährleisten. Schon 2014 hatten sie damit begonnen, Machtorgane der Ukraine, vor allem Polizei, Geheimdienst und Armee, zu unterwandern. So war damals beispielsweise Wadim Trojan, Vizekommandeur einer rechtsextremen Miliz und Mitglied der „Volksfront“ von Regierungschef Arsenij Jazenjuk, zum Polizeichef der Region Kiew ernannt worden.
Nach und nach wurden solche „Vorzeige-Patrioten“ der neuen Ukraine auch für anständige Ordnungshüter praktisch unantastbar und konnten so gegen Maidan-Gegner, Oppositionelle, Kritiker und andere Meschen ungehindert vorgehen. Zu erwähnen in diesem Zusammenhang sind die Odessa-Tragödie vom 2. Mai 2014 sowie die anderen zahlreichen politisch motivierten Verbrechen.
Spaltung der Gesellschaft
Solche Zustände spalteten die ukrainische Gesellschaft und und spalten sie auch heute noch immens, da wohl knapp die Hälfte der Ukrainer dem nationalistischen Kurs ihres Landes sowie den Mitgliedern des „Rechter Sektors“ und anderer rechtsextremer Organisationen eher kritisch gegenüber steht. Und doch traut sich kaum jemand, dies offen zuzugeben. Man lehnt solche „Patrioten“ offensichtlich auch deshalb ab, weil sie zum einen die rechtsextremistische Weltanschaung verbreiteten und zum anderem den Bürgern der Ukraine eine abscheuliche Erinnerungskultur des Zweiten Weltkriegs aufzuzwingen versuchen, die die Heroisierung von ukranischen Nazi-Kollaborateuren in den Mittelpunkt stellt und die international anerkannte Ausnahmerolle der UdSSR bei dem Sieg über Hitler-Deutschland stattdessen verurteilt.
Hinsichtlich der Beziehungen zum dem von Kiew erklärten „Hauptfeind“, Russland, bejahen einer Umfrage des ukrainischen Instituts Rejting zufolge 41 Prozent der Ukrainer die historische Einheit von Ukrainern und Russen. Vor allem junge Ukrainer sind der Meinung, dass sie demselben historischen und geistigen Raum angehören wie die Russen.
Dass die Ukraine auch schon vor dem Euromaidan als ein ideologisch tief gespaltenes Land galt – bestehend aus einen pro-europäischen Westen und einem pro-russischen Süden und Osten – wurde im Frühjahr 2014 erneut deutlich. Denn bereits wenige Wochen nach der ersten postmaidanen Regierungsbildung wurden Volksabstimmungen auf der Halbinsel Krim und in den ostukrainischen Regionen Donezk und Lugansk durchgeführt, um eine Unabhängigkeit von Kiew zu erreichen.
Und wenn dieses Unterfangen auf der Krim für die Bewohner der Halbinsel problemlos über die Bühne gegangen war, eskalierte in der Ostukraine die Lage, nachdem der Übergangspräsident Oleksandr Turtschinow am 14. April 2014 eine „Anti-Terror-Operation“ (ATO) gegen die zu dem Zeitpunkt bereits selbsternannten „Volksepubliken Donezk und Lugansk“ begonnen hatte.
Von rechtsradikalen Banden zu bewaffneten Kampfgruppen
Der entfachte Bürgerkrieg im Donbass und die zunehmende Radikalisierung der ukrainischen Politik eröffneten für die Rechtsextremisten neue Möglichkeiten, um in der Machtstruktur des Landes aufzusteigen.
Ein Schlüsselaspekt dabei war die Entstehung von (illegalen) bewaffneten Kampfverbänden, den sogenannten Freiwilligenbataillonen, deren Rückgrat ukrainische Nationalisten und Neofaschisten bilden. Die Finanzierung erfolgte zum großen Teil durch Oligarchen, die Ausrüstung über staatliche Lieferanten. Eine rechtliche Grundlage für diese paramilitärischen Kampfgruppen war durch die ukrainische Verfassung zu Beginn gar nicht gegeben, was die Staatsmacht jedoch nicht davon abhielt, sich dieser Einheiten in der Ostukraine zu bedienen. Später wurden sie entweder unter das Kommando des Innenministeriums oder der Nationalgarde gestellt.
Zwischen April und August 2014 sollen Experten zufolge 37 solcher Kampfverbände mobilisiert worden sein. Als Beispiel zu nennen sind etwa das berüchtigte „Regiment Asow“, das von der extrem rechten „Ukrainische Nationalversammlung“ gegründet wurde, oder die Bataillone „Rechter Sektor“, „Donbass“, „Aidar“ und „Dnipro“. Die damaligen Anführer dieser Verbände wurden bei den Parlamentswahlen 2014 in die „Werchowna Rada“ gewählt und erhielten dadurch politische Immunität und Einfluss auf den politischen Prozess der Ukraine.
Dadurch gewannen die Freiwilligenbataillone rasch an Macht und etablierten sich in der bis dato ohnehin schon sehr vielschichtigen politischen Landschaft der Ukraine. Mit dem Ende der „ATO“-Kampfhandlungen wadten sie sich verstärkt der Politik zu und waren folglich zu einflussreichen sozioökonomischen und -politischen Akteuren aufgestiegen. Erneut haben diese radikalen Kräfte dann damit begonnen, das staatliche Gewaltmonopol informell zu untergraben und den Staat in dessen Rolle als Sicherheitsgarant und Hüter des Gemeinwohls herauszufordern.
Darüber hinaus nutzen die Kampfverbände ihren Status auch dafür, um durch illegale Geschäfte Profit zu machen. Diesbezüglich haben Menschenrechtsorganisationen und Journalisten den Freiwilligenbataillonen immer wieder Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Dazu zählen Morde, Entführungen, rechtswidrige Festnahmen, Misshandlungen und weitere Vergehen.
Machtkonflikt zwischen Poroschenko und den Freiwilligebataillonen
Nach dem militärischen Desaster der ukrainischen Truppen im Donbass 2014/15 kam es wegen des daraus resultieren „Friedensabkommen von Minsk“ 2015 zum offenen Streit zwischen Staatsmacht und den Mitgliedern der bewaffneten Kampfgruppen. Um damals das Blutvergießen zu beenden und den Konflikt im Donbass zu regeln, hatten Deutschland, Frankreich und Russland sowie die Konfliktparteien Ukraine und ihre abtrünnigen Landesgebiete Donezk und Lugansk in der weißrussischen Hauptstadt am 12. Februar 2015 das „Maßnahmenpaket“ des „Minsker OSZE-Protokolls“ ausgehandelt. Dieses Abkommen sieht neben einer Waffenruhe unter anderem Schritte für einen politischen Prozess im Donezbecken und eine Verfassungsreform in der gesamten Ukraine vor.
Das rechtsextreme Lager betrachtet die im Maßnahmenpaket enthaltenen Punkte als Zugeständnisse an die Donbass-Republiken und geht gegen jeden vor, der die „territoriale Einheit der Ukraine“ durch so eine Politik „in Frage stellt“. Die Unterzeichnung der Minsker Vereinbarungen durch den damaligen Präsidenten Petro Poroschenko fiel demnach unter diese Kategorie. Seiner Regierung warfen die Extremisten dann auch noch Korruption, eine pro-russische Haltung und schlechte Regierungsführung vor und übten über Demonstrationen und Kundgebungen aktiv Druck aus.
Den Höhepunkt erreichte der Konflikt zwischen Poroschenko und den Paramilitärs offenbar im Sommer 2015, nachdem es zu einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen der ukrainischen Polizei und mehreren Mitgliedern des „Rechten Sektors“ in der westukrainischen Stadt Mukachewo gekommen war. Poroschenko hat umgehend reagiert und die Entwaffnung der „illegalen bewaffneten Gruppen im Land“ angeordnet. Aus dem Sicherheitsrat hieß es damals, dass „keine politische Kraft bewaffnete Zellen haben sollte“ und dass „keine politische Organisation das Recht hat, über kriminelle Gruppierungen zu verfügen“.
Das Vorhaben Poroschenkos scheiterte kläglich. Die Seiten konnten sich lediglich darauf einigen, dass die Kampfgruppen die Zusammenarbeit mit den Behörden eingehen und formal in die militärischen Strukturen eingegliedert werden sollten. Das „Regiment Asow“ etwa reihte sich in die Nationalgarde ein, behielt aber trotzdem seine Autonomie.
Selenskijs Streit mit „Regiment Asow“
Poroschenkos Nachfolger, Wolodimir Selenskij, bekam es bei seinem Versuch, den Minsker Friedensplan umzusetzen und einen Teil der ukrainischen Truppen von einem Frontabschnitt abzuziehen, ebenfalls mit den Freiwilligebataillonen zu tun.
Als Selenskij diesbezüglich 2019 die ukrainischen Soldaten an der Demarkationslinie bei Zolotoe besucht hatte, verhöhnte ihn der russischen Agentur RBC zufolge der damalige Befehlshaber von Asow, Andrej Biletskij, in den sozialen Medien und warf ihm vor, durch Truppenabzug das ukrainische Territorium aufgeben zu wollen. Der heutige Anführer des extrem rechten „Nationalen Korps“ und der wohl einflussreichste Neofaschist der Ukraine stellte zugleich klar, dass „die Kämpfer von Asow bleiben“, da sie „das Recht auf die eigene Meinung besitzen“ und sie sich dieses Recht durch Kampfeinsätze verdient hätten. Falls dies von dem Präsidenten ignoriert werden sollte, so Biletskij, dann müsste man an dem Frontabschnitt mit zusätzlichen „Tausend oder 10.000 Kämpfern“ rechnen. Selenkijs Vorhaben scheiterte und der Dialog mit den Asow-Kommandeuren endete für ihn mit einer medialen Blamage.
Der Staatschef unternahm im Folgenden mehrere Schritte in Richtung der rechtsextremistischen Interessen, indem er Anfang 2021 etwa die konsequente Durchsetzung des neuen ukrainischen Sprachengesetzes und damit das weitgehende Verbot der russische Sprache gewährleisten ließ, oder als er drei oppositionelle TV-Sender mit einem Sendeverbot belegte. Danach ließ Selenskij Ermittlungen gegen oppositionelle Politiker einleiten und wenig später sogar Sanktionen gegen den Mitvorsitzenden der Partei „Oppositionsplatform“, Viktor Medwedtschuk sowie gegen sieben weitere Personen und 19 Unternehmen verhängen.
Ungeachtet dessen musste der Präsident eine weitere Blamage einstecken, nachdem mehrere tausend Rechtsradikale sich am 21. März 2021 eine Auseinandersetzung mit der Polizei vor dem Präsidentenbüro in Kiew geliefert hatten, um einen wegen Entführung und Misshandlung verurteilten Verbrecher aus den eigenen Reihen aus dem Gefängnis freizupressen. Bei dieser offenen Provokation haben sie unter anderem die Fassade und die Eingangstür des Präsidentenbüros medienwirksam mit beleidigenden Äußerungen beschmiert und damit Selenkij wegen seinem unrühmlichen Auftritt an der Demarkationslinie erneut auf herabwürdigende Weise beschimpft.
Der offenen Konfrontation mit Regiment Asow zog der ukrainische Staatschef letzten Endes einen Weg der Beschwichtigung vor: So in etwa kann man das umstrittene Gesetz „Über die indigenen Völker der Ukraine“ deuten, dass Selenskij im Juli 2021 absegnete. Absurderweise werdem dem Gesetz nach unter anderem Russen, Weißrussen, Juden und Polen, also diejenigen Völker, die seit Jahrhunderten auf dem Gebiet der heutigen Ukraine leben, nicht in die privilegierte Klasse der „Indigenen“ einbezogen – ganz im Sinne der ukrainischen Nationalisten.
In einem Fersehinterview, im Vorfeld des 30. Jahrestages der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine von der Sowjetunion, wandte sich Selenskij dann auch noch an die Donbass-Bevölkerung und sagte, dass die „unkontrollierten Territorien“ künftig unausweichlich in die Ukraine zurückkehren würden und dass diejenigen, die „die Ukraine nicht mögen“, nach Russland auswandern sollten. Zuvor im August seien von Kiew zudem nach Angaben Moskaus weitere Gesetzesentwürfe auf den Weg gebracht worden, die sich eindeutig gegen die Minsker Vereinbarungen richten würden und die Umsetzung des Friedensplans praktisch unmöglich machen sollen.
Im Hinblick auf dieses Abkommen steht Selenskij daher weiterhin vor einem unlösbaren Dilemma: Die Ukraine hat sich international zu dem multilateralen Friedensvertrag verpflichtet, wobei die Umsetzung des besagten Maßnahmenpakets von den westeuropäischen Partnern Deutschland und Frankreich auch dementsprechend verlangt wird. Das extrem rechte Lager hingegen hatte „Minsk“ und den Waffenstillstand jedoch als klare rote Linie der ukrainischen Politik gesetzt, zum Nachteil der Regierung in Kiew.
Wie geht es weiter?
Ob der ukrainische Präsident künftig dazu in der Lage sein wird, mit seinen Widersachern in Bezug auf den Donbass-Konflikt oder auf klare verfassungskonforme Machtverhältnisse fertig zu werden, ist fraglich. Dass er deswegen auf Rechtsextremisten offenbar Rücksicht nimmt, verdeutlicht, wie viel Einfluss diese Akteure auf die Politik der Ukraine bereits haben.
Stattdessen ist eher ist davon auszugehen, dass der ukrainische Staat, ungeachtet der offenkundig regierungsfeindlichen Haltung der extremen Rechten, auch in naher Zukunft es kaum schaffen wird, sich dieser Gruppierungen zu entledigen. Einerseits weil die Eliten „physisch“ nicht dazu in der Lage sind, andererseits weil sie die Radikalen für ihre eigenen Ziele brauchen. Diese wiederum sind zu einer Regierungsführung nicht fähig und haben in der Bevölkerung weitaus weniger Rückhalt, als die ohnehin längst verhassten Systempolitiker.
Zu guter Letzt scheint das postmaidane System inzwischen dermaßen in die ukrainische Wirklichkeit integriert zu sein, dass keine Alternative dazu öffentlich in Betracht gezogen wird.
Deshalb ist zu befürchten, dass bewaffnete Rechtsextremisten ihre Stellung innerhalb der Machtstruktur nicht nur festigen, sondern auch ausweiten werden, auf Kosten der Eliten und der Bevölkerung. Die Methoden, um das zu erreichen, sind bekannt: Mord, Misshandlung, Erpressung sowie andere Mittel der Gewalt, die längst fester Bestandteil der postmaidanen Ukraine sind.