In Afghanistan herrschen wieder die Taliban, viele Menschen sind in Lebensgefahr. Deutschland muss die begonnenen Evakuierungen fortführen, den Familiennachzug zu in Deutschland lebenden Afghan*innen beschleunigen, über Landes- und Bundesaufnahmeprogramme eine längerfristige Aufnahme planen und Afghan*innen hier endlich Schutz geben.
Am Sonntag, 15. August 2021, haben nach 20 Jahren die Taliban in Afghanistan wieder die Macht übernommen. Ein bitterer Satz. Für viele Afghan*innen, die sich in den letzten Jahren für Freiheit, Demokratie sowie Frauen- und Menschenrechte eingesetzt haben, bedeutet die Machtübernahme eine akute Gefahr für ihre Sicherheit und ihr Leben.
Auch wenn manche Taliban aktuell Kreide gefressen haben und eine PR-Kampagne fahren: Eine massive Verschlechterung der Menschenrechtslage in Afghanistan ist zu erwarten. Aus Herat wurde beispielsweise nach der Einnahme durch die Taliban berichtet, dass Frauen die Universität oder ihre Büros nicht mehr betreten durften (Meldung vom 14.08.2021). In Jalalabad wurden laut Berichten zwei Journalisten, die bei einer Demonstration berichteten, von Taliban verprügelt. Zudem soll es zu Durchsuchungen bei Journalist*innen gekommen sein (Meldung vom 19.08.2021). Aus Kandahar wurden öffentliche Hinrichtungen gemeldet (Meldung vom 19.08.2021). Amnesty International dokumentierte bereits brutale Tötungen von Hazara, einer ethnischen Minderheit in Afghanistan, nach Machtübernahme der Taliban in der Provinz Ghazni (Meldung vom 19.08.2021).
Während vielen Afghan*innen also vor Ort um ihr Leben und ihre Sicherheit bangen, panisch versuchen, noch über den Flughafen in Kabul das Land zu verlassen und ihre Angehörigen in Deutschland krank vor Sorge sind, haben manche Politiker*innen in Deutschland nichts Besseres zu tun, als das rechtspopulistische Mantra „2015 darf sich nicht wiederholen“ aus der Schublade hervorzukramen. Das ist angesichts des Leids in Afghanistan nicht nur menschenverachtend, es ignoriert auch die Sachlage vor Ort. Denn aktuell droht Afghanistan für viele Menschen zur Falle zu werden. Die Taliban kontrollieren die meisten Grenzübergange und Nachbar- bzw. Transitstaaten wir der Iran und die Türkei machen ihre Grenzen dicht (Bericht vom 19.08.2021).
Was sich von 2015 wirklich nicht wiederholen darf ist, dass Tausende Menschen auf der Flucht sterben. Es müssen jetzt sichere Fluchtwege geschaffen und Afghan*innen geschützt werden.
In ganz Deutschland gibt es Demonstrationen und PRO ASYL ruft zur Beteiligung auf, insbesondere zur Demonstration in Berlin am Sonntag, 22. August, ab 13 Uhr!
Forderungen von PRO ASYL:
1. Evakuierungen fortführen, so lange es geht – ALLE gefährdeten Menschen rausholen
Die aktuellen Szenen am Flughafen in Kabul sind erschütternd. Obwohl eine Aufnahme von sogenannten Ortskräften – allerdings in viel zu begrenztem Umfang – schon im Mai beschlossen wurde und die Bundeswehr Ende Juni das Land verließ, wurde wochenlang in bürokratischen Verfahren die Gefährdung einzelner Menschen geprüft und keine Evakuierung gestartet. Die wenigen Glücklichen, denen die Aufnahme bereits zugesagt wurde, mussten ihre Ausreise selbst organisieren und bezahlen. Dabei war damals schon klar: sobald die Taliban die Macht übernehmen, sind alle Afghan:innen, die für ausländische Einrichtungen gearbeitet haben, akut bedroht. PRO ASYL hatte schon im April Forderungen an die zuständigen Ministerien verschickt, um die Aufnahme auszuweiten und zu vereinfachen.
Nun ist eine Evakuierung angelaufen, die allerdings zunächst auf deutsche Staatsangehörige und wenige Ortskräfte begrenzt ist. Bundesinnenminister Horst Seehofer verkündete auf einer Pressekonferenz am 19. August 2021, dass neben den Ortskräften auch andere »besonders Schutzbedürftige« wie Frauenrechtlerinnen über den § 22 AufenthG aufgenommen werden sollen.
Alle gefährdeten Menschen schützen: Tatsächlich sind sehr viele Menschen akut gefährdet und müssen Teil der Evakuierungsmaßnahme werden, einschließlich aller Familienmitglieder. Eine besondere Verantwortung gibt es für Bedrohte mit Bezug zu Deutschland. Hierzu gehören u.a.:
• Alle Afghan:innen, die für deutsche Ministerien, deutsch finanzierte Organisationen und Einrichtungen gearbeitet haben – unabhängig davon zu welchem Zeitpunkt diese Tätigkeit war. Dies muss auch für bei Subunternehmen Beschäftigten gelten. Es kann nicht sein, dass jemand der jahrelang die deutsche Botschaft geschützt hat, jetzt nicht im Gegenzug von Deutschland geschützt wird!
• Hinzu kommen Familienangehörige von in Deutschland lebenden Afghan:innen, auch sie sind nun akut gefährdet. Zum Teil warten sie bereits seit Jahren auf Visa zum Familiennachzug warten.
• Journalist:innen, die für deutsche Medien gearbeitet oder sich ihn ihnen kritisch geäußert haben.
• Wissenschaftler:innen, die in Deutschland studiert oder geforscht haben;.
Es müssen zudem alle aufgenommen werden, die sich in den letzten Jahren für ein freies und demokratisches Afghanistan eingesetzt haben, wie Frauenrechts- und Menschenrechtsverteidiger:innen, Autor:innen, Künstler:innen, Sportler:innen und deswegen stark gefährdet sind oder besonders schutzbedürftig sind wie Angehörige religiöser, ethnischer und sexueller Minderheiten.
Die gefährdeten Personen müssen mit ihren Familien gerettet werden! Beim Familienbegriff darf nicht auf die deutsche Kernfamilie (Vater, Mutter, minderjähriges Kind) abgestellt werden, denn dies entspricht auch nicht der Gefährdungslage! PRO ASYL liegt der Fall einer jungen Frau vor, die als einziges Familienmitglied in Kabul bleiben musste, weil sie bereits volljährig ist – der Rest konnte mit ihrem Vater als Ortskraft noch Anfang Juli ausreisen. Als alleinstehende junge Frau befindet sie sich nun in einer sehr prekären Lage.
Die Rache der Taliban hat sich auch in der Vergangenheit schon gegen erwachsene Söhne von Ortskräften gerichtet. Auch hierzu kennt PRO ASYL entsprechende Fälle. Wie die Deutsche Welle bekannt machte, wurde ein Familienangehöriger eines DW-Journalisten von der Taliban erschossen, als sie den Journalisten – der inzwischen in Deutschland arbeitet – nicht antrafen.
Transparente Verfahren: Bislang ist das Verfahren sehr intransparent und die oft verzweifelten Menschen wissen nicht wo sie sich hinwenden sollen. Einige Hotlines und Mailadressen sind mittlerweile bekannt – diese müssen aber auch bearbeitet werden und die Menschen eine Rückmeldung erhalten! Es kann zudem nicht sein, dass in der aktuellen Situation auf Formalien wie einen Pass bestanden wird, wenn andere Identitätsnachweise wie eine Tazkira vorliegen.
Sicherer Weg zum Flughafen: Aus Kabul wird berichtet, dass es für viele Afghan:innen kaum möglich ist, sicher zum Flughafen zu kommen oder dass sie dort nicht auf das Gelände gelassen werden. Sie scheitern an den Straßensperren der Taliban oder an der militärischen Absicherung des Flughafens. Die Bundesregierung muss sich – so bitter es ist – gegenüber den neuen Machthabern dafür einsetzen, dass es sichere Wege zum Flughafen gibt! Die Luftbrücke muss so lange wie irgend möglich aufrechterhalten werden! Hier ist jetzt die Solidarität aller NATO-Partner gefragt, vor allem der USA. Niemand darf zurückgelassen werden.
Aufnahme nicht nur aus Kabul: Es war zudem ein gravierender Fehler in der Planung der Aufnahme der Ortskräfte, dass diese nur aus Afghanistan direkt ihre Gefährdungsanzeigen stellen durften und von dort ausreisen sollten. So flohen viele nach Kabul anstatt in Nachbarländern – und sitzen dort nun in der Falle, wie Markus Grotian vom Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte bitter bilanziert. Dies muss jetzt noch geändert werden, um doch in Ausland geflüchtete Ortskräfte aufzunehmen. Auch die Aufnahme von anderen gefährdeten Gruppen muss aus anderen Ländern ermöglicht werden.
2. Familien von hier lebenden Schutzbedürftigen sind in Afghanistan gefährdet: Einfacher und schneller Familiennachzug
Der Familiennachzug zu in Deutschland lebenden Afghan:innen muss dringend vereinfacht werden, um die Menschen sicher zu ihren Verwandten zu holen. Um Visa möglichst schnell zu bearbeiten, sollte über eine sogenannte Globalzuständigkeit das Stellen von Visaanträgen für afghanische Staatsangehörige an allen deutschen Botschaften ermöglicht werden.
Seit dem Bombenanschlag auf die deutsche Botschaft in Kabul im Mai 2017 müssen Afghan:innen mit Familie in Deutschland nach Islamabad oder Neu Delhi reisen, um dort ihren Visumsantrag zu stellen. Allein um diesen Termin zu bekommen, müssen sie über ein Jahr warten. Mit Stand Anfang Mai dieses Jahres sind in Islamabad 1.879 Terminanfragen und in Neu Delhi 1.138 Terminanfragen registriert. Aktuell ist völlig unklar, ob Menschen für solche Termine in die Länder reisen können – und das kann auch nicht erwartet werden! Es muss dringend eine Möglichkeit der digitalen Visumsbeantragung geschaffen werden und auch bei Unmöglichkeit, zu einer Botschaft zu gelangen, eine Bearbeitung digital ermöglicht werden.
Die Kapazitäten zur Bearbeitung dieser Anträge muss sofort gesteigert werden. Angesichts der dramatischen Lage in Afghanistan muss jeder Spielraum genutzt werden und von gewissen Erteilungsvoraussetzungen, wie z.B. Sprachnachweisen, abgesehen werden. Außerdem dürfen beim Familiennachzug ledige erwachsene Töchter und Söhne, die alleine zurückbleibend oft stark gefährdet wären, nicht außen vor bleiben. Über den § 36 Abs. 2 AufenthG können auch Familienmitglieder außerhalb der Kernfamilie aufgenommen werden und dies muss aktiv genutzt werden.
3. Längerfristige Aufnahme auch aus Nachbarstaaten planen
Sollten die Evakuierungen eingestellt werden, darf dies nicht das Ende der aktiven Aufnahme aus Afghanistan sein. Bevor die Hauptstadt von den Taliban erobert wurde, flohen vielen Afghan:innen nach Kabul, weil sie hofften von dort noch auf dem Luftweg fliehen zu können. Perspektivisch werden aber Afghan:innen auch wieder versuchen in die Nachbarländer zu fliehen. In Pakistan und dem Iran lebt schon jetzt eine Vielzahl von Afghan:innen. Entsprechend muss die Aufnahmeaktion, wenn sie nicht mehr über Kabul laufen kann, aus den Nachbarstaaten fortgesetzt werden.
Es müssen darüber hinaus jetzt Landes- und Bundesaufnahmeprogramme für afghanische Flüchtlinge z.B. aus den Anrainerstaaten eingerichtet werden! Anstatt über Zahlen und Kontingente zu diskutieren, muss eine Aufnahme bedarfsgerecht erfolgen und zum Ziel haben, alle gefährdeten Personen zu retten.
Erste Bundesländer haben über eine Zusage, Ortskräfte und Familie aufzunehmen, bereits weitere Aufnahmen erklärt: Schleswig-Holstein hat nun ein Landesaufnahmeprogramm für Angehörige von in Schleswig-Holstein lebenden Afghan:innen beschlossen. In Thüringen soll ein ähnliches Landeaufnahmeprogramm entstehen. Diese Programme ähneln den Landesaufnahmeprogrammen für syrische Flüchtlinge, wie sie bis auf Bayern alle Bundesländer ab 2014 hatten oder zum Teil noch haben. Hier ist wichtig zu beachten, dass nicht wieder sogenannte Verpflichtungserklärungen Teil dieser Programme werden, die bei der Aufnahme syrischer Flüchtlinge zu Problemen für die Verwandten in Deutschland wurden. Denn viele von ihnen hatten bzw. haben nicht die dafür benötigten finanziellen Mittel.
In Brandenburg, Berlin, Nordrhein-Westfalen werden Aufnahmen von Menschenrechtsverteidiger:innen überlegt.
Bei den dringend notwendigen Bundes- und Landesaufnahmeprogrammen zählt das gleiche wie schon bei der ad hoc Evakuierung genannt: Sie müssen für alle gefährdeten Gruppen gelten und dürfen beim Familiennachzug nicht auf einen verengten Familienbegriff abstellen. Wenn Angehörige afghanischer Menschen in Deutschland umfasst sind, muss dies unabhängig vom Aufenthaltsstatus in Deutschland erfolgen und ohne Verpflichtungserklärung.
4. Schutz für Afghan*innen in Deutschland
Viele afghanische Schutzsuchende wurden in den letzten Jahren mit der Behauptung abgelehnt, dass es in Städten wie insbesondere Kabul eine interne Fluchtalternative gäbe. Das war schon vor der Machtübernahme der Taliban falsch, hatten sie doch bereits ein Netzwerk im ganzen Land. Seit dem die Taliban im Präsidentenpalast in Kabul sitzen, ist dieses Konstrukt aber offensichtlich in sich zusammen gefallen.
Die Bundesregierung schreibt in ihrem Antrag für einen militärischen Einsatz zur Evakuierung selbst: „Mit der daraus folgenden Implosion der afghanischen Regierung und der Machtübernahme durch die Taliban sind die örtlichen Sicherheitsstrukturen in der Hauptstadt Kabul weggebrochen.“
Anhängige Verfahren positiv entscheiden: Aber anstatt jetzt afghanischen Asylsuchenden Schutz zu erteilen, hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Entscheidungsstopp erlassen. Da aber mit der Anerkennung als Flüchtling erst Rechte wie das Recht auf Familienzusammenführung einhergehen, ist ein solches Herauszögern unerträglich! Asylanträge von Afghan:innen müssen jetzt positiv entschieden werden! Dies forderte PRO ASYL auch bereits gemeinsam mit Rechtsanwält:innen- und Jurist:innenorganisationen.
Aufenthaltserlaubnis von Amts wegen und Schutz von vormals Abgelehnten statt Widerrufsverfahren: Aufgrund der restriktiven Entscheidungspraxis leben über 26.000 afghanische Menschen nur mit einer Duldung in Deutschland – manche von ihnen dürfen noch nicht einmal arbeiten oder eine Ausbildung absolvieren. Viele haben seit 2016, dem Beginn der Abschiebungsflüge, in Angst vor Abschiebung gelebt. Diese Menschen brauchen endlich Sicherheit und eine Perspektive in Deutschland! Hierfür braucht es nicht nur einen formalen und unbefristeten Abschiebungsstopp: Da bei allen Afghan:innen aufgrund der Machtübernahme keine Ausreise auf absehbare Zeit möglich ist, kann und muss ihnen von Amts wegen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden! Anstatt bei afghanischen Schutzberechtigten Widerrufs- und Rücknahmeverfahren durchzuführen, muss das BAMF bei abgelehnten Afghan:innen die Fälle neu aufrollen und Schutz erteilen.
Eigentlich ist der Vorschlag so absurd, dass man ihn nicht gar nicht kommentieren sollte, aber um es einmal klar zu sagen: Vorschläge wie von Österreich, dass Abschiebungen nun in Drittstaaten erfolgen sollten, sind klar abzulehnen! Die Lage von afghanischen Flüchtlingen in Ländern wir der Türkei (siehe hierzu die Studie von PRO ASYL) oder dem Iran (siehe z.B. hier oder hier) ist äußerst schlecht, viele sind gezwungen in der Illegalität und Rechtlosigkeit zu leben. Entsprechend sind solche Pläne nicht vertretbar und wären rechtswidrig.
Afghaninnen und Afghanen brauchen jetzt Schutz!