Jürg Müller-Muralt für die Online-Zeitung INFOsperber
Es war viel die Rede von gemeinsamen Werten, von Wertepartnern, Solidarität, offenen Seewegen und von einer regelbasierten internationalen Ordnung an jenem 2. August 2021. Anlass zur breitbeinigen Wortwahl war ein schwimmendes Monstrum aus grauem Stahl: die Fregatte «Bayern», die vom deutschen Marinestützpunkt Wilhelmshaven aus Richtung Indo-Pazifik in See stach und von Deutschlands Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) verabschiedet wurde. Erstmals seit rund zwanzig Jahren ist damit wieder einmal ein deutsches Kriegsschiff in dieser Weltgegend unterwegs. Ungefähr sieben Monate wird die «Bayern» durch die Weltmeere kreuzen. Via Atlantik, Mittelmeer, Suezkanal, Horn von Afrika geht es nach Singapur, Japan, Südkorea und Australien und zurück in den heimischen Hafen.
Flagge zeigen
Was soll das Ganze? Das Verteidigungsministerium legte Wert auf die Feststellung, dass es sich nicht um einen Einsatz handle, sondern um eine «Präsenz- und Ausbildungsfahrt». Mit anderen Worten: Man zeigt Flagge, besucht am Weg liegende Flottenstützpunkte und beteiligt sich an diversen Übungen mit anderen Staaten. So etwa an der Nato-Mission «Sea Guardian» im Mittelmeer, an der EU-Mission «Atalanta» gegen Piraterie, Waffenschmuggel und Terrorismus am Horn von Afrika und an der Uno-Mission zur Seeraumüberwachung vor Nordkorea.
Es geht um Chinas Besitzansprüche
Es sei kein so genannter mandatierter Einsatz mit einer konkreten Einsatzdoktrin, denn dazu müsste das Parlament konsultiert werden. Deshalb würden auch keine expliziten «Rules of Engagement» – etwa für eine unfreundliche Begegnung mit der chinesischen Marine im Südchinesischen Meer – herausgegeben, wie das deutsche Marinekommando in Rostock präzisiert. Allerdings sei das «Recht auf Selbstverteidigung hier ausgenommen», hält das Marinekommando fest.
Es kann also durchaus heikel werden. Denn im Kern geht es bei der ganzen Übung um China und seine Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer, die der Ständige Schiedshof in Den Haag 2016 für völkerrechtswidrig erklärte. In den Worten von Kramp-Karrenbauer tönt das so: «Die Botschaft ist klar: Wir zeigen für unsere Werte und Interessen Flagge, gemeinsam mit unseren Partnern und Verbündeten! Das ist wichtig, denn für unsere Partner im Indo-Pazifik ist es Realität, dass die Freiheit der Meere eingeschränkt wird und Seewege nicht mehr sicher sind. Sie erleben, wie versucht wird, Gebietsansprüche nach dem Recht des Stärkeren durchzusetzen.» Aber «unser Engagement im Indo-Pazifik bedeutet, nicht gegen etwas oder jemanden zu sein, sondern gemeinsam für etwas einzustehen: Es geht um gemeinsames Handeln. Und darum, mögliche Konflikte friedlich und partnerschaftlich zu lösen. (…) Wir arbeiten mit China zusammen, wo wir können und wir halten dagegen, wo wir müssen. Denn wer versucht internationale Gesetze zu umgehen und uns und unseren Partnern eigene Spielregeln aufzuzwingen, dem stehen wir geschlossen entgegen.»
Den Wünschen der USA nachkommen
Auch der deutsche Aussenminister Heiko Maas (SPD) äusserte sich zur grossen Fahrt des Kriegsschiffs Richtung Asien. Im Indo-Pazifik entscheide sich die internationale Ordnung der Zukunft. «Wir wollen diese mitgestalten und Verantwortung übernehmen für den Erhalt der regelbasierten internationalen Ordnung», sagte Maas. Doch Deutschlands Flagge wird nicht allein der internationalen Ordnung halber hochgehalten. Der Flottenbesuch fällt in die Zeit wachsender Spannungen zwischen China und den USA – und die USA erwarten von Nato-Bündnispartnern wie Deutschland auch in Asien mehr Unterstützung. Berlin will wohl auch unterstreichen, dass man den Wünschen Washingtons wieder etwas bereitwilliger Folge leisten will als in der Ära Trump.
Krasser Schönheitsfehler
Die Schiffsreise hat allerdings punkto «regelbasierter internationaler Ordnung» einen krassen Schönheitsfehler. Denn die Route führt auch über den völkerrechtlich äusserst umstrittenen US-Militärstützpunkt Diego Garcia im Indischen Ozean. Logistisch liegt ein Versorgungsstopp beim Nato-Partner USA auf der Hand, weil das Auftanken und das Nachbunkern von Lebensmitteln und anderen Gütern unkompliziert und ohne grossen diplomatischen Aufwand möglich wären. Aber die Proklamation der Schiffsreise als Demonstration einer «regelbasierten internationalen Ordnung» nimmt dadurch wohl Schaden.
Bewohnerinnen und Bewohner deportiert
Warum das so ist, zeigt eine Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Die SWP gehört zu den einflussreichsten deutschen aussen- und sicherheitspolitischen Forschungseinrichtungen und ist die grösste europäische Denkfabrik in diesen Bereichen; sie berät nicht nur die deutsche Regierung und den Bundestag, sondern auch EU- und Nato-Stellen. «Diego Garcia, die grösste Insel des Chagos-Archipels im Indischen Ozean, gehörte einst zur britischen Inselkolonie Mauritius. Im Jahr 1965 wurde sie völkerrechtswidrig zu einer separaten Verwaltungseinheit umgewandelt, um dort den Bau eines britischen Militärstützpunktes zu ermöglichen. London erklärte den gesamten Archipel zum militärischen Sperrgebiet und deportierte die Bewohner nach Mauritius und auf die Seychellen. Auf der Militärbasis sind seither überwiegend US-Soldaten stationiert. Das Vereinigte Königreich hat die Insel bis 2036 an die USA verpachtet», schreibt die SWP.
USA folterten geheim auf Diego Garcia
Seit den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts versucht Mauritius wieder die Souveränität über den Chagos-Archipel zu erreichen. Der Internationale Gerichtshof (IGH) stufte den Anspruch Londons auf den Archipel als völkerrechtswidrig ein und rief gar die Uno-Mitgliedstaaten auf, die Dekolonisierung zu unterstützen. 2021 schloss sich der Internationale Seegerichtshof (ISGH) in Hamburg in einem Urteil der Einschätzung des IGH an. «Daneben geht es aber auch um grundlegende Menschenrechte: Auf Diego Garcia befand sich nachweislich ein US-Gefangenenlager, in dem mutmassliche Terroristen gefangen gehalten, verhört und gefoltert wurden. Bis zur Aufdeckung durch Medienrecherchen 2003 war das Lager anders als zum Beispiel Guantanamo Bay komplett geheim.»
Deutsche Doppelmoral
Bleibt es bei der geplanten Route, liesse sich gemäss der SWP-Analyse «mit Blick auf die Verteidigung der regelbasierten Ordnung und des internationalen Rechts eine gewisse Doppelmoral kaum von der Hand weisen. Aus der offenen Weigerung Londons, der Uno-Resolution und dem IGH-Urteil Folge zu leisten, folgt, dass durch Besuche des Archipels der völkerrechtlich mindestens problematische Status quo wenn nicht offen unterstützt, so doch de facto akzeptiert würde.»
China könnte also in Sachen «regelbasierter internationaler Ordnung» Deutschland mit Recht doppelte Standards vorwerfen. «In einer Zeit, in der im Kontext der sich weiter verschärfenden chinesisch-amerikanischen Großmächterivalität internationale Normen und Regeln zunehmend in Frage gestellt werden, ist all dies sicherlich nicht im strategischen Interesse Deutschlands», gibt die SWP zu bedenken. Würde Deutschland etwas weitere Wege in Kauf nehmen, könnte es gemäss SWP auch zeigen, dass es bereit ist, dem Völkerrecht auch dann zu entsprechen, «wenn es den eigenen kurzfristigen operativen Interessen wie auch den Erwartungen von Partnerländern ein Stück weit widerspricht.»