Deutsche Ökonomen dringen zur Sicherung der Exporterfolge auf mehr Arbeitszuwanderung. Ohne Migranten wäre die deutsche Innovationsfähigkeit zuletzt gesunken.

Deutsche Wirtschaftsforscher sehen die Grundlagen der deutschen Exporterfolge vom demografischen Wandel bedroht und dringen auf größere Arbeitszuwanderung in die Bundesrepublik. Aufgrund der Alterung der deutschen Gesellschaft werde der Arbeitsmarkt hierzulande selbst bei „moderaten Annahmen“ bis zum Jahr 2035 mehr als „fünf Millionen potenzielle Arbeitskräfte“ verlieren, heißt es in einer aktuellen Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Selbst wenn man sich bemühe, mehr Über-60-Jährige („Silver Worker“) zur Erwerbsarbeit zu nötigen, führe an einer Ausweitung der Immigration kein Weg vorbei. Diese ist laut dem unternehmensnahen Institut auch nötig, um die Innovationsfähigkeit Deutschlands zu sichern: Der ohnehin „nur moderate Aufwuchs“ bei Patentanmeldungen in den vergangenen Jahren sei „ausschließlich Erfindenden mit ausländischen Wurzeln zu verdanken“. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) schrumpft ohne Immigration nicht zuletzt die Steuerbasis und damit das Potenzial für Investitionen in die Infrastruktur, auf die die deutsche Exportindustrie angewiesen ist.

„Lücke auf dem Arbeitsmarkt“

Das unternehmensnahe Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln warnt in einer jüngst publizierten Studie vor den Folgen des demografischen Wandels in der Bundesrepublik und der damit einhergehenden Überalterung der deutschen Arbeitsgesellschaft.[1] Laut der Untersuchung, die sich mit der Altersstruktur in den Stadt- und Landkreisen Deutschlands beschäftigt, ist die Gruppe der 60- bis 64-jährigen Bundesbürger in allen Regionen größer als diejenige der 15- bis 19-Jährigen. Ohne Migration würden folglich die Renteneintritte die Arbeitsmarkteintritte übersteigen. Die in den Ruhestand gehenden Lohnabhängigen hinterließen „eine Lücke auf dem Arbeitsmarkt“, die von den „ortsansässigen Jüngeren“ nicht vollständig geschlossen werden könne, warnen die Studienautoren. Zwischen 2014 und 2019 sei vor allem Ostdeutschland von Bevölkerungsschwund betroffen gewesen; doch seien inzwischen auch viele Regionen im Westen des Landes dem zunehmenden demografischen Wandel ausgesetzt. Das Phänomen, das zuvor vor allem ländliche Regionen betraf, werde im Zeitraum 2019 bis 2024 auch viele Metropolregionen heimsuchen, sagt das IW Köln voraus; „auch Westdeutschland und alle großen Städte“ würden „auf Zuwanderung“ angewiesen sein, um die Einwohnerschaft „im erwerbsfähigen Alter konstant zu halten“.

Ost und West

Eine „qualifizierte Zuwanderung aus dem Ausland“ sei auch deshalb unabdingbar für die „gesamtdeutsche Stabilisierung des Arbeitskräftepotenzials“, da die Wanderungsbewegungen von Arbeitskräften innerhalb der Bundesrepublik ein „Nullsummenspiel“ seien, heißt es in der Studie. Zwar wiesen die meisten Regionen Deutschlands „ähnliche demografische Voraussetzungen“ auf; doch müssten sich vor allem ostdeutsche Städte und Kreise wie „Greiz, Gera, der Erzgebirgskreis und das Weimarer Land“ besonders intensiv um „Zuwanderung bemühen“. Die dortigen „Abwanderungsregionen“, in denen die extrem rechte AfD oft Wahlerfolge feiert, müssten „für Menschen aus dem In- und Ausland attraktiver werden“. Im Vergleich zum Osten stehe der demografische Wandel in Westdeutschland hingegen „erst am Anfang“.

Fünf Millionen Arbeitskräfte zu wenig

Die Autoren der Studie betonen überdies, es habe zwar in den „letzten zehn Jahren“, also im Zusammanhang mit der Flüchtlingskrise, eine „hohe Nettozuwanderung“ in die Bundesrepublik gegeben; doch sei die Immigration im vergangenen Jahr im Verlauf der Coronakrise deutlich um 29 Prozent zurückgegangen. Solche „Wanderungsbewegungen“ hätten einen „eher kurzfristigen, vorübergehenden Einfluss auf die Bevölkerungsstruktur“. Ohne weiteren Zuzug werde der deutsche Arbeitsmarkt selbst bei „moderaten Annahmen“ zwischen 2020 und 2035 mehr als „fünf Millionen potenzielle Arbeitskräfte im Alter von 20 bis 66 Jahren“ verlieren; bereits in den kommenden fünf Jahren werde rund eine Million Lohnabhängiger aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden.

„Erwerbsorientierte Zuwanderung“

Dabei sei der sich deutlich beschleunigende demografische Wandel, bemängelt das IW Köln, „schon lange absehbar“ gewesen, ohne dass dies zu einer „vorausschauenden Gestaltung der politischen Rahmenbedingungen geführt“ habe. Die Autoren sprechen sich für die Förderung einer „erwerbsorientierten Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte“ aus, da die Folgen der Migration „für den Arbeitsmarkt und die Sozialsysteme“ vor allem davon abhingen, ob die Migranten auch erwerbstätig seien. Eine umfassende und andauernde „Integration der Zuwanderer in den Arbeitsmarkt“ sei entscheidend, um die Folgen der Überalterung Deutschlands abzumildern. Mit Blick auf die Flüchtlingskrise bemerken die Autoren, nur 29,8 Prozent aller seit 2007 Immigrierten hätten die Arbeitssuche als Migrationsgrund angegeben. Die Lohnarbeitsquote liege allerdings unter den Arbeitsmigranten mit 87,2 Prozent wesentlich höher als unter Zuwanderern, die sich etwa „aus familiären Gründen“ sich in der Bundesrepublik ansiedelten – bei diesen seien es 48,4 Prozent.

„Silver Worker“

Parallel fordert das unternehmensnahe IW eine „Erhöhung der Erwerbstätigenquote der über 60-Jährigen“ sowie die „Erhöhung der Jahresarbeitszeit pro Erwerbstätigem“. Teilzeitarbeiter, vor allem Frauen, die sich um Kinder oder um pflegebedürftige Angehörige kümmerten, könnten rasch in Arbeit gebracht werden, wenn Betreuungsleistungen ausgebaut würden. Als Maßnahme, um deutlich mehr „Silver Worker“ in die Betriebe zu bringen, schlägt das IW die Rücknahme der 2012 eingeführten „abschlagsfreien Rente mit 63“ vor. Zudem solle die Beschäftigung von Rentnern deutlich erleichtert werden. Die Potenziale der Digitalisierung und Automatisierung müssten überdies genutzt werden, um eine „Arbeitszeitausweitung“ der verbliebenen Lohnabhängigen zu ermöglichen und Produktivitätssteigerungen zu erzielen. Allerdings reichten auch die damit erzielbaren Potenziale vermutlich nicht aus; an einer Steigerung der Arbeitseinwanderung führe kein Weg vorbei.

Migranten als Innovationstreiber

Arbeitszuwanderung ist laut einer weiteren Untersuchung des IW Köln auch unabdingbar, um die Innovationsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu sichern. Die Migration halte „Deutschlands stotternden Innovationsmotor am Laufen“, betitelte das Institut eine Studie, die Erfinder in der Bundesrepublik auf ihre Herkunft untersuchte.[2] Demnach sei der Anteil von Patentanmeldungen durch Menschen mit Migrationshintergrund zwischen 1994 und 2018 von 3,8 Prozent auf 11,2 aller Erfindungen angestiegen. In der Bundesrepublik lebende „Erfindende mit ausländischen Wurzeln“ stünden somit für rund „jedes neunte in Deutschland entwickelte Patent“. Mehr noch: Die „kumulierte Patentleistung von Erfindenden aus dem deutschen Sprachraum“ habe im 21. Jahrhundert stagniert und sei in den letzten Jahren sogar gesunken. Die Ursachen dafür seien vor allem in der demografischen Entwicklung in Deutschland zu verorten. Konkret seien hierzulande die Patentanmeldungen zwischen 2008 und 2018 insgesamt um 2,9 Prozent gestiegen, während diejenigen von Erfindern mit Vorfahren aus dem deutschsprachigen Raum um 1,8 Prozent gesunken seien. Dies bedeute, dass „der in den letzten zehn Jahren ohnehin nur moderate Aufwuchs“ bei den Patentanmeldungen „ausschließlich Erfindenden mit ausländischen Wurzeln zu verdanken“ sei, schlussfolgert das IW Köln.[3]

Künftige Sparzwänge

Kann der demografische Wandel nicht durch Zuwanderung aufgefangen werden, droht dies laut einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin auch Folgen für die staatliche Leistungsfähigkeit sowie infolgedessen für die Infrastruktur mit sich zu bringen. Das ist das Ergebnis einer Studie zur Entwicklung in Ostdeutschland, die das DIW schon im vergangenen Jahr veröffentlicht hat.[4] Insbesondere in Ostdeutschland seien die staatlichen Haushaltsplaner in den kommenden Jahren mit „großen Herausforderungen“ konfrontiert, heißt es in der Untersuchung: Die schrumpfende Steuerbasis führe zu Sparzwängen, die wiederum „notwendige Investitionen“ in die Infrastruktur hemmten. Damit ist neben dem disziplinierten und gut ausgebildeten Arbeitskräftereservoir auch ein zweiter Konkurrenzvorteil der exportfixierten deutschen Industrie von der Erosion bedroht: die gute Infrastruktur, die stark zu den Exporterfolgen beiträgt.

 

[1] Zitate hier und im Folgenden: Ohne Zuwanderung sinkt das Arbeitskräftepotenzial schon heute. IW-Report 25/2021. iwkoeln.de 24.07.2021.

[2] Migration hält Deutschlands stotternden Innovationsmotor am Laufen. IW-Kurzbericht Nr. 20. iwkoeln.de 29.03.2021.

[3] S. auch „Zu träge, zu konservativ, zu zögerlich“.

[4] Bevölkerungsschwund setzt ostdeutsche Länder und Kommunen dauerhaft unter Sparzwang. DIW Wochenbericht 39/2020, S. 739-745.

Der Originalartikel kann hier besucht werden