Jeder weiß, dass Obdachlosigkeit “irgendwie” ein Problem darstellt. Was viele jedoch nicht wirklich wissen wollen, ist, dass es sich in den letzten Jahren zu einem zunehmend ernsthaften Problem in vielen, großen europäischen Städten gewandelt hat.[1] Dies wurde durch die COVID-Pandemie erschreckend offensichtlich, welche zum einen die Situation für bereits Obdachlose verschlimmerte, wie z.B. Debora Ruppert anschaulich für Obdachlose in deutschen Städten beschreibt.
Zum anderen fanden sich dadurch aber auch so manche Menschen, die vorher in völlig normalen Berufen gearbeitet hatten, auf der Straße wieder. [2] Die Frage nach einer Lösung für das offensichtliche Problem wird oftmals vorschnell an Politiker und humanitäre Organisationen weiter-/abgegeben. Was kann denn auch schon ein bescheidener kleiner Beitrag von Individuen am Ende wirklich bewegen? Eine Menge, behaupte ich, nachdem ich die Studentin Toni getroffen habe, die Muffins für Obdachlose in London backt.
Wie kam es zu der Idee, Muffins für Obdachlose zu backen?
Eigentlich entstand diese Idee sehr spontan während und teils durch die Coronapandemie. Als während des ersten Lockdowns alles geschlossen wurde, hatten meine Freunde und ich mehr Zeit, mit der wir nichts anzufangen wussten – wir hatten bereits alle interessante Netflix-Serien angeguckt. Gebackt haben wir zu dieser Zeit nur im kleinen Rahmen. Die Idee für Obdachlose zu backen entstand mehr oder weniger zufällig. Eines Tages haben wir uns scherzhaft darüber unterhalten, dass wir zunehmen, weil die Backwaren im Ofen auch gegessen werden müssen. Zur gleichen Zeit erzählte uns ein Nachbar, der bereits bei einer Food Bank mitwirkte, dass die Zahl der Gäste dort seit Corona einen Höchststand erreicht hatte. Da haben wir nicht lange nachgedacht und beschlossen ab jetzt unsere Muffins für diese Food Bank und Leute zu backen, die hungriger als wir sind.
Das ist in der Tat eine großartige Idee! Inwiefern engagiert Ihr Euch dort freiwillig? Was genau macht ihr vor Ort?
Im Grunde versuchen wir mindestens alle zwei Woche zu Hause für die Food Bank zu backen und helfen außerdem das Essen to go vorzubereiten und auszuteilen. Eigentlich machen wir nichts anderes als das, was wir gerne machen und helfen dadurch anderen ein bisschen, die den zusätzlichen Muffin – und die Positivität! – sehr zu schätzen wissen. Wenn man tatsächlich mit den Gästen, ungefähr 80 bis 120 Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen, in Kontakt kommt, zeichnet sich ein Bild von Obdachlosigkeit ab, das so ganz und gar nicht den gerne angenommen Vorurteilen von Obdachlosigkeit entsprechen mag. Nicht jeder ist faul oder nicht „normal“ genug oder sogar ein Krimineller. Die Geschichte vieler Gäste, die man manchmal nur teilweise verstehen kann, ist tragisch. COVID, zum Beispiel, ließ vielen Leuten, die sich vor kurzem noch in einem ganz „normalen“ Leben dachten, keine andere Wahl, als sich in die Schlange zur Essensausgabe einzureihen – eine Situation, die sie sich nie erträumt hätten. Es ist manchmal schockierend zu sehen, wie Leute auf der Straße enden und wie schnell das manchmal gehen kann: durch eine zermürbende Scheidung, durch einen Unfall, Pech oder COVID, zum Beispiel.
Viele behaupten, dass “Small-scale Freiwilligenarbeit“ nicht wirklich langfristig hilft, um Obdachlosigkeit anzugehen und befürworten politische top-down Ansätze. Was ist Eure Meinung dazu, da Ihr tatsächlich das Gegenteil verfolgt?
Warum sollte man nur einem Ansatz folgen? Meiner Meinung nach brauchen wir beides. Es kann nicht abgestritten werden, dass Politik und beispielsweise Sozialversicherung effektive Mittel sind, ein System zu errichten, dass Obdachlosigkeit angreift, wenn nicht sogar abschafft. Nachdem ich jedoch im Kontakt mit Obdachlosen selbst war, bin ich der festen Überzeugung, dass es darüberhinaus wichtig ist mit dem Menschen selbst zu arbeiten. Man kann diese nicht nur wie “sozialen Output” ansehen, der ähnlich wie Produktionsprozesse nur anhand von Plänen und Agendas beinflusst wird – Agendas, die von Menschen, vermutlich selbst nie in Kontakt mit Obdachlosen, erstellt wurden.
Außerdem vertrete ich die Ansicht, dass es gerade auch die kleinen Dinge sind, die mehr beitragen als wir denken und in Zahlen erfassen können. Ich würde nicht sagen, dass ein kleiner Schokoladenmuffin nachhaltig die Ursachen für Obdachlosigkeit beseitigen kann. In Kombination mit ein paar aufbauenden Worten und Zeit kann er aber definitiv Positivität in das sonst so triste Leben eines Obdachlosen bringen – eine Person, die vermutlich als Alternative Alkohol wählt. Macht dieser Ansatz Menschen helfen nicht an sich menschlicher?
Eine Aktivität wie diese nimmt eine gewisse Zeit in Anspruch. Viele führen an, dass sie dazu nicht wirklich Zeit haben. Was denkt Ihr dazu?
“Das Argument keine Zeit zu haben, etwas – in welcher Form auch immer – an die Gesellschaft zurückzugeben ist relativ schwach, wenn man bedenkt, dass unsere Zeiteinteilung nur auf unsere Prioritäten schließen lässt. Am Ende haben wir doch alle 24 Stunden sieben Tage die Woche, die wir frei sind zu gestalten, wie wir es für richtig empfinden. Wenn jemand nicht für ein paar Stunden in der Woche Zeit findet, bei gleichzeitig schier unendlichen Möglichkeiten, der Familie, Freunden oder über ehrenamtliches Engagement zurückzugeben, dann ist es an der Zeit, generell zu überdenken. Wie viel Zeit vergeuden wir mit eigentlich doch so bedeutungslosen Aktivitäten und merken es nicht einmal? Rauben wir uns dadurch nicht auch die Zeit für wirklich wichtige Dinge oder eben oftmals einen kleinen, aber wesentlichen sozialen Beitrag?
[1] Duxbury, C., (2019). Down and out in Paris, London and the rest of Europe. (online): https://www.politico.eu/article/homelessness-qa-freek-spinnewijn-down-and-out-in-paris-london-and-the-rest-of-europe/ , [access on 29Jul2021].
[2] Ruppert, D., (2020). “Ich weiß oft nicht mehr, wohin“ (online): https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-04/obdachlosigkeit-coronakrise-pandemie-notuebernachtung-berlin-fs, [access on 29Jul2021].