Der Saal, in dem sich 50 Menschen aus einem Dutzend Länder trafen, begann plötzlich so zu schwingen, dass ich dachte, es handle sich um ein Erdbeben. Sekunden später breitete sich eine große Rauchwolke über dem Himmel von Bogotá aus und vergrößerte sich vor unseren Augen, als wir durch das große Fenster des Hotels blickten.
Es war kein Erdbeben, wie mein von den vielen Beben in Mexiko-Stadt geprägtes Gehirn dachte. Und auch keine Bombe, wie es sich als erster Gedanke in unserer kollektiven Vorstellung breit machte. Es war der Abbruch des alten Gebäudes des Verteidigungsministeriums. Die Regierung hatte das bereits angekündigt. Aber im Zusammenhang dessen, was wir am ersten Arbeitstag der internationalen „Mission SOS Colombia“ zur Beobachtung der Menschenrechte in Kolumbien gehört hatten, brachte uns diese Rauchwolke auf die schlimmsten Ideen.
Auseinandersetzungen seit zwei Monaten
Die Delegation befindet sich seit dem 3. und bis zum 12. Juli in Kolumbien, um sich über die Lage nach den seit zwei Monaten anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant*innen und Sicherheitskräften zu informieren. Eingeladen von kolumbianischen Menschenrechtsorganisationen, reisen die Mitglieder der Mission durch zahlreiche Regionen des Landes, um sich mit Aktivist*innen, aber auch mit Polizist*innen und Regierungsvertreter*innen zu treffen. Seit Gewerkschaften, indigene Gruppen und andere Oppositionelle, unter ihnen vielen junge Leute, am 28. April mit einem „Nationalen Streik“ begannen, gegen die Regierung zu mobilisieren, wurden nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen 75 Menschen getötet und über 1800 willkürlich festgenommen. Es kam zu 7704 registrierten Angriffen auf Demonstrant*innen. 83 erlitten schwere Augenverletzungen, 28 wurden Opfer sexualisierter Angriffe.
Kurz bevor die Rauchwolke aufstieg, hatte uns der Pfarrer Javier Giraldo ausführlich erklärt, dass es um die Menschenrechte im Land katastrophal bestellt sei. Und alle Aktivist*innen bestätigten: „Das ist der schlimmste Moment der Gewalt im kolumbianischen Staat.“ Es ist schwierig, sich auszumalen, was das in einem Land heißt, in dem vor ein paar Jahren ein Friedensabkommen unterzeichnet wurde, das einen über 50 Jahre währenden Krieg beendete, durch den sechs Millionen Menschen vertrieben wurden und in dem 120.000 verschwanden.
Lage der Menschenrechte „katastrophal“
Aber alle bestanden darauf: Niemals habe man so etwas erlebt wie das, was in diesem „Nationalen Streik“ passierte, der bis heute anhält. Es gebe keine Präzedenzfälle. Weder, was den Widerstand einer von Jugendlichen und Heranwachsenden angestoßenen Bewegung, noch, was die repressive Antwort des Staates betrifft: die gezielten Morde, das Verschwindenlassen, die Verstümmelungen, die sexualisierte Gewalt gegen Demonstrant*innen, die Verfolgungen, die Folter und den Einsatz aller staatlichen Strukturen sowie die Angriffe der Drogenmafia, Paramilitärs und Privatunternehmen. Auch die Medien spielten eine Rolle. Sie würden die Bewegung delegitimieren und einen Diskurs des Hasses gegen einen fabrizierten Feind reproduzieren: die Jungen.
„Allen Ernstes würde ich sagen, dass wir Gefahr laufen, uns zu einer Diktatur zu entwickeln“, erklärt Jeny Ortiz vom Zentrum für Forschung und populäre Erziehung (CINEP). Dann beschreibt sie: „Die Regierung kontrolliert die Staatsanwaltschaften. Von den hohen Gerichten gibt es eine Stellungnahme, in denen sie die repressiven Maßnahmen unterstützt, Militärs haben sich dieser Haltung angeschlossen. Die Regierung ordnet einfach an, dass Städte militarisiert und Häuser beschossen werden. Mächtige Unternehmer unterstützen das ebenso wie Paramilitärs. Der „Uribismo“, also die machtvollen Strukturen des ehemaligen rechtsextremen Präsidenten Àlvaro Uribe, kontrolliert alles. Du kannst nicht demonstrieren, weil sie dich töten werden. Du kannst keine Anzeige erstatten, weil der Beamte dich verraten wird. Du kannst keinen Prozess vor einem Gericht führen, weil du kaum Recht bekommen wirst.“
Medien verbreiten Hass
Im Laufe des Tages zeichnen die sozialen Organisationen, die die Mission empfangen haben, ein Szenario der Repression, wie es sie zuvor nie gegeben habe. Darin habe die Regierung des
Präsidenten Iván Duque zwei mächtige Verbündete: die Medien und das Unternehmertum. Jeny Ortiz beschreibt mehrere Konstanten, die sich durch den Streik gezogen hätten.
So beispielsweise die Reproduktion des Hass-Diskurses durch die Medien. „Der Diskurs in den Massenmedien hatte das Ziel, Hass gegen die jungen Leute zu provozieren, die sich im Widerstand befinden. Sie behaupten, dass die Demonstranten Mangel in der Stadt provozieren, obwohl nachgewiesen ist, dass der Mangel durch die Unternehmer hervorgerufen wurde. Außerdem würden sie Verkehrsstaus auslösen. Das sind Aussagen, die einen inneren Feind und ein Bild schaffen sollen, nach dem die widerständigen jungen Leute Vandalen und Terroristen seien.
Zugleich herrschte Schweigen über die fürchterlichen Aktionen des Staates. Diese blieben unsichtbar.“
Zugleich sei es zu Angriffen auf unabhängige Journalist*innen gekommen, die die Angriffe dokumentieren wollten. Und es sei versucht worden, den Protesten ihre Legitimität zu nehmen. „Man hat versucht, den Kampf zu delegitimieren“, erklärte die CINEP-Vertreterin. Man habe erklärt, es gebe keine Steuerreform, die ja der Auslöser für die Proteste war. Und es sei behauptet worden, es gebe gar keinen Streik, während die Auseinandersetzungen auf der Straße weitergegangen seien. „Es gibt ein sehr tiefes Schweigen, mit dem Ziel, den Streik für nichtig zu erklären.“
Der Streik geht weiter
Doch der Streik geht weiter und die anfänglichen Proteste haben sich zu einer Art politischen Pädagogik entwickelt, die in Form von kulturellen und künstlerischen Aktivitäten und Volkskonversationen ihren Ausdruck finden. „Nicht über die Massenmedien, aber über soziale Netzwerke haben wir es geschafft, ständig etwas zu veröffentlichen. Eine Protestaktion haben wir so stark verbreitet, dass Facebook die Live-Übertragungen blockiert hat. Wir haben Zeugen, nutzen die sozialen Netzwerke und erhielten wichtige Erklärungen von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission sowie der internationalen Gemeinschaft“, erklärt Ortiz.
Anfang Juni hat die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) der Organisation Amerikanischer Staaten (OAE) Kolumbien einen Arbeitsbesuch abgestattet, für den sich Menschenrechtsorganisationen stark gemacht hatten. Auch eine argentinische sowie eine katalanische Delegation waren in das Land gereist.
Europäische Union soll Kooperation mit Kolumbien überdenken
Am 1. Juli hat die Stadtversammlung von Rom die Europäische Union aufgefordert, angesichts der „extremen und unverhältnismäßigen Gewalt“ der Nationalpolizei und der Spezialeinheit zur Aufstandsbekämpfung ESMAD über eine Suspension der Handelsverträge mit der kolumbianischen Regierung nachzudenken. „Seit Beginn des Generalstreiks am 28. April ist eine handlungsunfähige Welt Zeuge einer nie dagewesenen Eskalation der Gewalt geworden. Polizei und Militär sind unverhältnismäßig gegen viele friedliche Proteste vorgegangen“, schrieb der Stadtrat der italienischen Hauptstadt. Die kolumbianischen Medien würden nicht in adäquater Form über die willkürliche Repression und die systematischen Menschenrechtsverletzungen berichten.
Hier drängt sich eine andere Frage auf: Wenn die Menschenrechtsverletzungen so gravierend sind, warum berichtet die internationale Presse dann nicht mit demselben Nachdruck über die Krise in Kolumbien wie über Venezuela? „Das liegt daran, dass Machtfaktoren im Spiel sind, die mit internationalen Investitionen zu tun haben“, sagt Danilo Rueda von der ökumenischen Kommission Justicia y Paz (CIJP). „Man kann nicht behaupten, dass es in Kolumbien Sicherheit für Investitionen gibt. Das stimmt nicht. Sowohl in den ländlichen als auch in den städtischen Regionen operieren neue bewaffnete Gruppen“, so Rueda. Die Unternehmen würden das negieren. „Das interessiert sie nicht, weil sie wollen, dass investiert wird. Dabei stören Menschen, die auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam machen.“
Erosion rechtsstaatlicher Verhältnisse
Nach Meinung des CIJP-Vertreters hat der soziale Aufstand auch gezeigt, dass es in Kolumbien ein Defizit hinsichtlich der Information gebe. Die Medien, die sich meist in den Händen wirtschaftlich mächtiger Kräfte befänden, verfälschten und verzerrten, was tatsächlich bei den Mobilisierungen passiert sei. Zugleich seien zahlreiche kleine, lokale und regionale Medien aufgetaucht „die beschreiben und erzählen, Analysen teilen, und Stimmen zu Wort kommen lassen, die von den großen Massenmedien der Unternehmen verschwiegen werden.“
Der Abbruch des alten Gebäudes des Verteidigungsministeriums zu Beginn der Mission hätte nach Ruedas Meinung symbolträchtiger nicht sein können. Er verweist auf den Zusammenbruch eines Bausteins der Macht, den die Jungen durch ihre Mobilisierungen und die daraufhin einsetzende Repression sichtbar gemacht hätten, erklärt Danilo Rueda. „Die Repression zeigt die Erosion rechtsstaatlicher Verhältnisse und einer Demokratie, die vorgibt, die Freiheiten zu respektieren. Der Streik hat gezeigt, dass dieses Bild nur eine Fassade ist.“