Elegant geschrieben, kämpferisch und brandaktuell: Eine Streitschrift fragt nach der Gerechtigkeit der Wohnungsversorgung.
Ein Plädoyer für Urbanität
Akribisch demontiert Hubeli die Mythen der Wohnungspolitik: Der Begriff der Durchschnittsmiete verschleiert die Wohnungsmisere der Städte, Förderprogramme für die Immobilienbranche lindern nicht die Wohnungsnot und der Massenwohnungsbau entspricht nicht dem Bedarf der Stadtbevölkerung. Letzterer orientiere sich immer noch am Ideal der städtischen Kleinfamilie mit drei Zimmern, Küche und Bad. Eine Besonderheit bei der Wohnungsfrage im 21. Jahrhundert sei die „Diskrepanz zwischen heterogenen Lebensformen und homogenen Wohnformen.“ (S. 37f.) Dieser fehlgeleitete Wohnungsbau bleibt indes folgenlos für die Immobilienunternehmen, weil die Wohnungsnot dafür sorgt, dass auch ein mangelhaftes Angebot ausreichende Nachfrage garantiert.
Leidenschaftlich verteidigt Hubeli die Möglichkeiten, die sich Menschen in urbanen Räumen bieten. Mit einem Befreiungsgedanken verbunden sei die Stadt immer ein Ort gewesen, um heterogene Lebensentwürfe zu erproben und soziale und kulturelle Vielfalt zu (er-)leben. Damit dieses urbane Versprechen auch in Zukunft eingelöst werden kann, müsse es städtebaulich zweckungebundene Freiräume geben, die als „notwendiges Korrektiv des Planbaren“ (S. 78) der Gesellschaft die Möglichkeit gibt, sich ihre Stadt selbst anzueignen.
Ein Schreckgespenst für die kapitalistische Ordnung
Dieser Anspruch wird von Konzernen wie der Deutsche Wohnen, deren einflussreichster Anteilseigner der weltgrösste Vermögensverwalter BlackRock ist, zunehmend in Frage gestellt. Im finanzialisierten Kapitalismus ist die Wohnung vor allem eines: eine Ware, deren Verwertungslogik auf die Ausschüttung von Renditen an Aktionäre zielt.
In einem eigenen Kapitel widmet sich Hubeli den sich zuspitzenden Entwicklungen der Wohnungsfrage in Berlin. Von Marktgläubigkeit und Privatisierungswahn getrieben, verkaufte die Stadt Berlin zu Beginn der 2000er Jahre unter einem Senat aus SPD und PDS (!) einen Grossteil der kommunalen und gemeinnützigen Wohnungsbestände an private Immobilienkonzerne – allen voran die Deutsche Wohnen. Die fehlende staatliche Regulierungsmöglichkeit hatte eine regelrechte Mietpreisexplosion zur Folge, bei der die Löhne nicht mehr mithalten können. In diesem Kontext ist nun die neuentfachte Debatte um Enteignungen zu sehen: „Die Wohnungsnot, die zur Existenznot geworden ist, hat den Berliner Aufstand ausgelöst.“ (S. 27) Wie die Berliner Mieter*inneninitiativen verweist auch Hubeli auf die im Grundgesetz verankerte Möglichkeit zur Vergesellschaftung von Eigentum und auf den Gemeinwohlgrundsatz.
Hubeli bescheinigt der Enteignungsdebatte, dass sie vor allem ein Gefühl von Hoffnung vermittelt und zur Entideologisierung beiträgt:
„Die Berliner Bestrebungen nach einer Vergesellschaftung sind weder parteipolitisch noch systematisch, noch ideologisch fixiert. Man könnte auch sagen, dass politische Naivität ihre Unschuld verliert und Macht beansprucht. So ist der Berliner Aufstand ein Aufruf, aus der politischen und ökonomischen Fantasielosigkeit auszutreten.“ (S. 115)
Die Wohnungsfrage ist eine Bodenfrage
Hubeli macht deutlich, dass auch Korrekturen – wie der in Berlin erprobte Mietendeckel – in der Wohnungspolitik nicht reichen werden, denn: „Ohne die Sozialisierung des Bodens sind Entwicklungen der Städte nicht zu lenken“ (S. 21). Schon jetzt mache in Städten der Anteil des Bodenpreises am Immobilienpreis ein Drittel bis die Hälfte aus. Als stabiles Kapital sichert der Boden den Immobilienfonds in boomenden Städten sprudelnde Einnahmequellen. Die Pfründe können über steigende Bodenpreise leistungslos von den Immobilienunternehmen abgeschöpft werden. Mancherorts ist der Bodenpreis sogar wichtiger als die Mieteinnahmen, sodass für die Eigentümer*innen auch Leerstand sinnvoll sein kann, wenn die Verknappung des Angebots zu ausreichend grossen Mietpreissteigerungen auf dem Immobilienmarkt führt. Hubeli fordert daher, dass Städte beherzt eine Bodenreform angehen müssten, „damit Städte von Stadt- und nicht von Aktiengesellschaften regiert werden.“ (S. 75)
Hubeli ruft mit seinem Buch Einsichten in Erinnerung, die eigentlich zu linken Selbstverständlichkeiten zählen müssten: Boden ist Gemeingut, Wohnen ist ein Menschenrecht und der freie Wohnungsmarkt ist nicht in der Lage, die Grundversorgung von Wohnungen zu gewährleisten. Keine Berücksichtigung findet leider die mit Krisenzuständen in Städten verknüpfte Wohnungs- und Obdachlosigkeit, über deren systemischen Charakter im Kapitalismus leider zu wenig zu lesen ist. Dennoch bietet sein Buch pointierte Denkanstösse zur Wohnungsfrage und philosophische Erkenntnisse über das Verhältnis von privatem Wohnen und öffentlichem Raum.
Ernst Hubeli: Die neue Krise der Städte. Zur Wohnungsfrage im 21. Jahrhundert. 2. Auflage. Rotpunktverlag, Zürich 2020. 189 Seiten, ca. 17.00 SFr. ISBN 978-3-85869-865-0