Zum Ende der Legislaturperiode zieht PRO ASYL eine kritische Bilanz zum Familiennachzug für Geflüchtete und wirft der schwarz-roten Koalition vor, das Zusammenkommen von getrennten Flüchtlingsfamilien systematisch zu verhindern und Mütter, Väter und Kinder in schier endlose Warteschleifen zu verbannen. Aber: Das Grundrecht auf Familie gilt für alle, das Warten muss ein Ende haben.
Zum Ende der schwarz-roten Regierung müssen wir feststellen, dass das SPD-geführte Auswärtige Amt jede erdenkliche Hürde errichtet, um Flüchtlingsfamilien zu trennen. Das gilt für Flüchtlinge, die nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt wurden, ebenso wie für subsidiär Geschützte: Visumsverfahren verzögern sich aufgrund bürokratischer Hürden oder kaum zu erfüllender Voraussetzungen.
Und so warten weiterhin Tausende von Menschen aus Syrien, Afghanistan, Eritrea und anderen Ländern, die in Deutschland Schutz gefunden haben, darauf, dass ihre Familienmitglieder die gefährlichen Heimatländer oder Flüchtlingslager verlassen und nach Deutschland kommen können. Dieses jahrelange Warten prangert PRO ASYL an: „Das Warten muss ein Ende haben. Familien gehören zusammen“, so Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL.
Es fehlt der politische Wille
Auf Betreiben der CDU/CSU war der Familiennachzug zu subsidiär Geschützen im Jahr 2016 zunächst ganz ausgesetzt und dann ab dem 1. August 2018 auf maximal 1.000 Menschen begrenzt worden. Doch selbst dieses geringe Kontingent wurde in den vergangenen drei Jahren von den deutschen Behörden nicht ausgeschöpft: Von August 2018 bis April 2021 sind zusammen rund 20.600 Visa für subsidiär Schutzberechtigte erteilt worden. In diesen 33 Monaten hätten es 33.000 Visa sein können, die Quote wurde also nur zu rund 62 Prozent erfüllt.
„Die Bundesregierung hat mit den gesetzlich eingezogenen Hürden zum Familiennachzug aus einem Grundrecht für alle einen Gnadenakt für wenige gemacht“, kritisiert Günter Burkhardt. „Es fehlt der politische Wille, das Grundrecht auf Familie für alle zu realisieren.“
Forderung: digitale Antragstellung der Visaanträge
Menschen aus Syrien, Eritrea und Afghanistan müssen oft in den deutschen Vertretungen der Nachbarländer die Visa für den Familiennachzug stellen und sich auf lange, gefährliche Reisen begeben. Doch allein der allererste Schritt im Verfahren, einen Termin zur Beantragung eines Visums zu bekommen, dauert oft über ein Jahr. Im Februar 2020 (neuere Zahlen liegen nicht vor) zum Beispiel betrug die Wartezeit für einen Termin zur Beantragung eines Visums in Addis Abeba, Durchgangsort vieler Eritreer, 13 Monate. Für Neu Delhi (afghanische Staatsangehörige) und Islamabad (pakistanische und afghanische Staatsangehörige) gab die Bundesregierung für den Stichtag Anfang April 2021 „über ein Jahr“ an. Seit Juni 2017 ist die Botschaft in Kabul geschlossen.
Die ständigen Verzögerungen sind nicht nur der Corona-Epidemie geschuldet, sondern vor allem auch der veralteten Vorgehensweise des Auswärtigen Amts. „Das Auswärtige Amt weigert sich, ein effizientes Verfahren für die Beantragung und Bearbeitung der Visa zu entwickeln“, sagt Günter Burkhardt und fordert: „Das Auswärtige Amt muss eine digitale Antragstellung der Visumsanträge ermöglichen und das Verfahren zum Familiennachzug nach Deutschland verlagern.“
Leere Worte der Parteien
Dass es auch anders geht mit dem Familiennachzug zeigt der Umgang mit den Familien von zugewanderten Fachkräften in Deutschland: Fachkräfte müssen laut Paragraf 31a Aufenthaltsverordnung innerhalb von drei Wochen nach Vorlage der Vorabzustimmung der Ausländerbehörde von der Auslandvertretung einen Termin für den Antrag auf ein Visum bekommen, über den dann innerhalb von drei Wochen entschieden werden muss.
Interessant ist auch ein Blick auf die Wahlprogramme der Regierungsparteien. Die SPD fordert zwar das Grundrecht auf Familie ein. Ihr Außenminister hat jedoch alles getan, um die Antragstellung zu verhindern. Die CDU bezeichnet sich in ihrem Wahlprogramm als familienfreundliche Partei: „Familienfreundlichkeit ist Markenzeichen einer jeden unionsgeführten Bundesregierung.“ Doch für Familien von Geflüchteten scheint das nicht zu gelten. „Das Grundrecht auf Familie gilt für alle, nicht nur für deutsche Familien“, betont hingegen Günter Burkhardt.
Lebensgefahr in Afghanistan
Zudem verhindert das Auswärtige Amt eventuelle Klagen gegen Visa-Entscheidungen, indem es in etwa nur so viele Termine vergeben lässt, wie Visaplätze zur Verfügung stehen: Denn ohne abgelehnte Anträge gibt es auch kaum negativen Entscheidungen, gegen die geklagt werden könnte.
In diesen Zeiten besonders schlimm sind die massiven Verzögerungen beim Familiennachzug in Afghanistan: Die westlichen Truppen ziehen ab, die Taliban rücken vor, das Leben für die Zivilbevölkerung wird zunehmend lebensgefährlich – erst recht für Familien, von denen bekannt ist, dass der Vater „im Westen“ lebt. Das gilt zum Beispiel für die Familie eines afghanischen Journalisten, der vor mehr als zwei Jahren floh, nachdem er von den Taliban wiederholt mit dem Tod bedroht worden war. Seine Angst um seine im Verborgenen lebende Familie wird in diesen Wochen immer größer.
Forderungen von PRO ASYL
Subsidiär Geschützte – also zum Beispiel Syrer, die vor Krieg, Terror und Folter fliehen – müssen mit GFK-Flüchtlingen (jenen, die aus politischen oder religiösen Gründen verfolgt werden) rechtlich gleichgestellt werden. Die Kontingentierung muss abgeschafft werden.
Zudem müssen die derzeit geltenden Gesetze umgesetzt und Verfahren dürfen nicht länger verzögert werden. Dafür müsste das Auswärtige Amt eine digitale Antragstellung der Visumsanträge ermöglichen und das Verfahren zum Familiennachzug stärker nach Deutschland verlagern. Anstatt bei den unterbesetzten Auslandsvertretungen könnten Anträge auf Familiennachzug direkt im Auswärtigen Amt bearbeitet werden, und auch lokale Ausländerbehörden könnten durch das Vorabzustimmungsverfahren frühzeitig eingebunden werden. All das würde die unerträglichen Wartezeiten enorm verkürzen und funktioniert bereits bei zugewanderten Fachkräften so, die ihre Familien nachholen. (Fachkräfte müssen laut Paragraf 31a Aufenthaltsverordnung innerhalb von drei Wochen nach Vorlage der Vorabzustimmung der Ausländerbehörde von der Auslandvertretung einen Termin für den Antrag auf ein Visum bekommen, über den dann innerhalb von drei Wochen entschieden werden muss.)
Minderjährige Geschwisterkinder dürfen nicht länger vom Familiennachzug ausgeschlossen werden: Wenn ein Kind oder Jugendlicher allein in Deutschland lebt, muss er oder sie das Recht haben, sowohl seine Eltern als auch seine Geschwister zu sich holen zu können.
Weitere Informationen unter Daten, Fakten und Hintergründe zum Familiennachzug.
Ausgewählte Einzelfälle
Journalist aus Afghanistan fürchtet um das Leben seiner Familie (Ahmed Hussein)
Ahmed Hussein* aus Afghanistan hat in seiner Heimat neun Jahre lang als Journalist gearbeitet, unter anderem für die Deutsche Welle. Aufgrund seines Berufs wurde er von den Taliban wiederholt mit dem Tod bedroht. Vor lauter Angst leben seine Frau und die Kinder im Verborgenen, seine vier Töchter und ein Sohn gehen seit rund drei Jahren nicht mehr zur Schule. Herr Hussein lebt seit 2019 als anerkannter Flüchtling in Deutschland und wartet seit fast zwei Jahren darauf, dass seine Familie überhaupt einen Antrag auf ein Visum zum Familiennachzug stellen darf.
Im September 2019 hat er sich an die zuständige Deutsche Botschaft in Neu-Delhi gewandt, doch noch immer steht kein Termin für die Antragstellung eines Visums auf Familiennachzug fest – also noch nicht einmal für den allerersten Schritt. Aufgrund der Pandemie war die Botschaft monatelang geschlossen. Ahmed Hussein besucht in seiner neuen Heimat Niedersachsen einen Sprachkurs, doch in Gedanken ist er bei seiner Familie. „Mein Körper ist hier, aber meine Seele ist in Afghanistan“, sagt er. Der Familienvater hat furchtbar Angst um seine Liebsten, insbesondere wegen des Vorrückens der Taliban nach dem Abzug der westlichen Truppen. Die Familie ist in unmittelbarer Gefahr: „Wenn die Taliban in Kabul sind und meine Familie finden, ist sie tot.“
*Pseudonym zum Schutz der Familie.
Vater sieht seinen Sohn das erste Mal, als dieser sieben Jahre alt ist (Habtemariam Tewelde)
Habtemariam Tewelde sagt, er führe seine Ehe nur noch telefonisch. Acht Jahre ist er bereits von seiner Frau getrennt. Sie war schwanger, als er seine Heimat Eritrea verließ, doch das wusste das Paar zum damaligen Zeitpunkt noch nicht. Seinen Sohn hat er bis Dezember 2020 noch nie gesehen gehabt. Frau und Kind sind von Eritrea aus ins Nachbarland Äthiopien geflüchtet. Ende vergangenen Jahres konnte Habtemariam Tewelde es sich nach jahrelangem Sparen endlich erlauben, nach Äthiopien zu fliegen, um die beiden wenigstens zu besuchen. Doch dann flog er alleine nach Deutschland zurück, denn noch immer liegt keine Entscheidung der Botschaft über den Familiennachzug vor, dabei liegt der Botschaftstermin bereits zwei Jahre zurück. „In Holland, Frankreich oder Schweden sind Familien innerhalb eines Jahres wiedervereint. Meine Frau fragt mich, warum Deutschland das nicht hinkriegt. Ich kann es ihr nicht erklären“, sagt er.
Herr Tewelde ist seit Anfang 2016 anerkannter Flüchtling. Der Familiennachzug scheitert in erster Linie an fehlenden Unterlagen: So hat das Paar beispielsweise kirchlich geheiratet, wie es in Eritrea üblich ist. Der deutsche Staat verlangt für die Erteilung eines Visums auf Familiennachzug aber eine staatliche Heiratsurkunde. Um nachträglich ein staatliches Dokument zu erhalten, müsste sich Herr Tewelde an die eritreische Diktatur wenden, in der er gefoltert wurde – an den Verfolgerstaat also, dem er entkommen ist.
Teenager wartet seit sechs Jahren auf seine Mutter und seine Geschwister (Hussein Husain)
Er war noch ein Kind, als er mit der Familie seines Onkels im Oktober 2015 nach Deutschland kam: Der Syrer Hussein Husain war damals zehn Jahre alt. Das Jugendamt Hannover übernahm die Vormundschaft für Hussein und stellte im Juni 2016 einen Asylantrag für ihn. Im Februar 2017 wurde ihm stattdessen der subsidiäre Schutz zuerkannt. Von März 2016 bis Juli 2018 hatte die Bundesregierung den Familiennachzug für Angehörige von subsidiär Schutzberechtigten allerdings vollständig ausgesetzt.
Seine Eltern und die drei minderjährigen Geschwister waren aufgrund der Sicherheitslage in Syrien in die Türkei geflohen. Sie buchten einen Termin bei der deutschen Botschaft. Doch sie erfuhren, dass nur die Anträge von Eltern zu unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen genehmigt werden würden. Das Recht auf den Nachzug eines Geschwisterkindes besteht in Deutschland nicht. Das bedeutet: Die Bundesregierung verlangt von Eltern, sich zwischen ihren Kindern zu entscheiden. Folglich entschied der Vater, allein den Nachzug zu seinem Sohn zu beantragen. Im Februar 2020 durfte er endlich einreisen – er stellte selbst einen Asylantrag, wurde als subsidiär schutzberechtigt anerkannt und erst dadurch wurde der Weg frei, dass die Mutter von Hussein und die minderjährigen Geschwister ebenfalls einen Termin bei der Botschaft beantragen durften.
Im Februar 2021 konnten sie vorsprechen. Es dauerte weitere Monate, bis die Familie Anfang Juli endlich einreisen durfte. Hussein wartete seit fast 6 Jahren auf seine Mutter, Brüder und seine Schwester. Aus dem Kind ist mittlerweile ein Teenager geworden, dem die eigene Mutter bei der ersten Umarmung fremd erschien.