Die Corona-Krise hat zu Rekordzahlen an Arbeitslosen und zu einem massiven Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit geführt. Eine Sonderauswertung des Arbeitsklima-Index zeigt, dass Arbeitslose mit dem Arbeitslosengeld kaum auskommen, unter hohen psychischen Belastungen leiden und den gesellschaftlichen Anschluss verlieren. Politisches Gegensteuern ist dringend notwendig.
Von Reinhard Raml, Dennis Tamesberger und Aleksandra Waldhauser (A&W-Blog)
Im Frühjahr 2021 waren bundesweit mehr als 450.000 Menschen arbeitslos oder in Schulung. Mehr als jeder bzw. jede dritte Arbeitslose, rund 150.000, war langzeitbeschäftigungslos – also seit über einem Jahr auf Arbeitssuche. Die Frage, wie es den arbeitslosen Menschen geht, ist daher höchst relevant.
Die Arbeitslosen von Marienthal
In der Pionierstudie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ von Maria Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel aus den 1930er-Jahren wurde eindrucksvoll nachgewiesen, dass Arbeitslosigkeit – vor allem wenn sie länger andauert – massive seelische Belastungen mit sich bringt und eine stark isolierende Wirkung hat. Arbeitslosigkeit verändert die Lebenshaltungen und Wertorientierungen. In der Studie wurden die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf Arbeitslose und deren Familien genau untersucht.
Nur jeder Zehnte wurde als „ungebrochen“ eingestuft – ihnen war es möglich, weiterhin ihren Haushalt aufrechtzuerhalten und ihre Kinder zu versorgen. Die Hälfte der Arbeitslosen wurde als resigniert bezeichnet – ihnen war der Glaube an eine bessere Zukunft abhandengekommen. 11 Prozent der Untersuchten galten als verzweifelt, was nach heutigen Maßstäben als stärkere Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit zu bezeichnen ist. Bei den restlichen 25 Prozent kam noch der Zusammenbruch der Haushaltsführung und damit eine massive materielle Krise hinzu.
Die individuellen Folgen von Arbeitslosigkeit hatten auch gesamtgesellschaftliche Folgewirkungen. Mit der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit erlahmte das soziale Leben, und es entstand eine „müde Gemeinschaft“ – Menschen, die keinen Glauben mehr an die Zukunft hatten, sich nicht mehr für andere interessierten, ihre Vereinstätigkeiten aufgaben und sich und ihre Familie vernachlässigten. Mit anderen Worten: Die Menschen wurden politisch und sozial inaktiv.
Sonderauswertung des Arbeitsklima-Index
In einer Sonderauswertung des Arbeitsklima-Index hat das Institut für Empirische Sozialforschung (IFES) im Auftrag der Arbeiterkammer Oberösterreich die Situation der Langzeitarbeitslosen in der heutigen Zeit – geprägt von der Corona-Pandemie – untersucht. In Anknüpfung an die wegweisende Studie von Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel werden die damals verwendeten Kategorien auf die heutige Zeit umgelegt. Im Folgenden wird daher die Situation der (Langzeit-)Arbeitslosen hinsichtlich folgender Facetten beleuchtet:
Arbeitslosengeld reicht bei vielen nicht zum Leben
82 Prozent der Arbeitslosen sagen, dass sie mit dem Arbeitslosengeld gerade (55 Prozent) oder gar nicht (27 Prozent) auskommen. Dieses Problem spitzt sich mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit zu: Bei den Langzeitarbeitslosen kommen sogar 94 Prozent gerade oder gar nicht mit dem Arbeitslosengeld über die Runden – das Geld reicht für viele gerade einmal für die Fixkosten, Essen gehen oder auf Urlaub fahren bleibt für die meisten ein frommer Wunsch. Unter den Erwerbstätigen ist dieses finanzielle Risiko mit 45 Prozent nur halb so hoch – auch wenn das bedeutet, dass viele Jobs nicht für ein „gutes Leben“ reichen.
Um dennoch den Lebensalltag bestreiten zu können, sind viele auf Hilfe von PartnerInnen, Eltern, Großeltern, anderen Angehörigen oder FreundInnen angewiesen: 41 Prozent der Arbeitslosen erhielten aus diesem Personenkreis zusätzliche Unterstützung; bei den Erwerbstätigen sind es 23 Prozent.
Hohes Armutsrisiko unter Arbeitslosen
Hintergrund ist, dass das Arbeitslosengeld in Österreich mit einer Nettoersatzrate von 55 Prozent des zuletzt bezogenen Lohns generell zu niedrig ist. Mit der im Anschluss an das Arbeitslosengeld zustehenden Notstandshilfe sinkt die Versicherungsleistung degressiv auf ein noch niedrigeres Niveau. Viele Arbeitslose sind daher in Österreich von Armut bedroht. Im Schnitt betrug das Arbeitslosengeld in Österreich im Jahr 2020 rund 990 Euro. Die Notstandshilfe lag bundesweit bei etwa 870 Euro. Frauen beziehen in Österreich im Schnitt deutlich weniger Arbeitslosengeld (900 Euro) und Notstandshilfe (810 Euro).
Im Jahr 2019 waren 52 Prozent der ganzjährig Arbeitslosen – das sind 95.000 Menschen – armutsgefährdet. Bei kürzerer Arbeitslosigkeit – bis zu fünf Monaten – war das Risiko, „einkommensarm“ zu sein, wesentlich geringer und lag bei rund 19 Prozent.
Psychische Belastungen durch Arbeitslosigkeit
Arbeitslose sind starken psychischen Belastungen ausgesetzt. Auffällig hoch sind die Belastungswerte bei den Fragen zu Depressivität und Entfremdung. Während fünf Prozent der Erwerbstätigen bezüglich Depressivität als sehr stark belastet einzustufen sind, sind es bei den Arbeitslosen mit elf Prozent anteilsmäßig doppelt so viele. Bei Langzeitarbeitslosigkeit erhöht sich die Belastung weiter und umfasst in dieser Gruppe 17 Prozent. Bei Frauen (18 Prozent), geringer Qualifizierten (17 Prozent) und bei Jüngeren (14 Prozent) sind ebenfalls hohe Werte festzustellen.
17 Prozent der Arbeitslosen weisen sehr starke Symptome der Entfremdung auf, d. h. sie fühlen sich von gesellschaftlichen Abläufen und Entwicklungen entkoppelt (ausgegrenzt), haben das Gefühl, nicht mehr mithalten zu können oder den Anschluss zu verlieren. Bei den Erwerbstätigen sind es 11 Prozent, bei den Langzeitarbeitslosen hingegen mit 22 Prozent anteilsmäßig doppelt so viele.
Diese beiden Befunde zeigen, dass Arbeitslosigkeit – insbesondere mit zunehmender Dauer – mit Antriebslosigkeit und dem Gefühl, von der Gesellschaft ausgegrenzt zu sein, einhergeht. Befunde, die auch in der Pionierstudie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ eindrücklich beschrieben wurden.
Erodierender Glaube an sich selbst
Arbeitslosigkeit und der gesellschaftliche Umgang damit hinterlassen ihre Spuren im Selbstbewusstsein der Betroffenen. Der Glaube, etwas leisten zu können, geht vielen verloren: 21 Prozent der Arbeitslosen haben sehr starke Zweifel daran, Aufgaben bewältigen oder Probleme lösen zu können. Bei Langzeitarbeitslosen sind es sogar 35 Prozent und bei ihnen ist vor allem auch das andere Ende der Skala erwähnenswert: So gut wie niemand (3 Prozent) in dieser Gruppe hat noch einen stark gefestigten Glauben an sich selbst.
Arbeitslosigkeit rüttelt an den Festen des Selbstwerts und zerstört das Erleben von Sinn im Leben: 40 Prozent der Arbeitslosen erfahren ein starkes Gefühl von Sinnverlust, bei langer Erwerbslosigkeit sind es sogar 55 Prozent. In der erwerbstätigen Bevölkerung sind es nur 17 Prozent. Arbeit stiftet Sinn und ist die Grundlage für ein selbstbewusstes und selbstbestimmtes Leben. Werden diese Grundfesten erschüttert, entfremdet sich der Mensch von seiner Gesellschaft, zieht sich zurück und fühlt sich ausgeschlossen.
Fazit
Die Sonderauswertung des Arbeitsklima-Index hat gezeigt, dass arbeitslose Menschen psychisch stark belastet sind und sich gesellschaftlich isoliert fühlen. Die Erkenntnisse der Pionierstudie „die Arbeitslosen von Marienthal“ haben somit nach über 90 Jahren immer noch ihre Gültigkeit. Die psychosozialen Folgen der Arbeitslosigkeit stehen in Zusammenhang mit dem in Österreich zu niedrigen Arbeitslosengeld. Angesichts der hohen Betroffenheit von Arbeitslosigkeit, insbesondere der Langzeitarbeitslosigkeit, gilt es, unmittelbar das Arbeitslosengeld armutsfest zu machen, d. h. die Nettoersatzrate sollte auf mindestens 70 Prozent angehoben werden.
Weiters müssen die Kapazitäten im Bereich des psychologischen und psychotherapeutischen Angebots rasch ausgebaut werden, begleitet von dringend notwendigen effektiven Maßnahmen gegen Langzeitarbeitslosigkeit. Höheres Arbeitslosengeld bedeutet auch insofern eine bessere Unterstützung, als es ein wesentlicher Faktor für die Erhöhung der Stabilität für die Betroffenen ist und ihnen dadurch auch mehr Zeit für eine Neuorientierung gibt. Auf diese Weise kann ein nachhaltiger Neustart im Berufsleben ermöglicht und der Weg zu einem selbstbestimmten und von der staatlichen Unterstützung unabhängigen Leben erleichtert werden.