Vor dem Gefängnis der mexikanischen Stadt Tonalá sammeln sich 22 Frauen in einer Schlange und warten darauf, dass sie hereingelassen werden. Sie sind keine Angehörigen von Häftlingen, sondern Mütter, die ihre verschwundenen Söhne und Töchter suchen. Frauen, die sich im Kollektiv Búsqueda Nacional en Vida organisiert haben, um ihre Liebsten lebend wiederzufinden. Sie ziehen durch Straßen in Rotlichtvierteln, besuchen Krankenhäuser, Notaufnahmen, Heime für Jugendliche, psychiatrische Kliniken – und eben die Gefängnisse im Bundesstaat Jalisco.
Schwarze Kleidung, keine Handys, kein Notizblock – so sieht es die Gefängnisordnung vor. Nur ein Foto ihres Kindes, auf Papier oder aufs T-Shirt gedruckt, dürfen sie mitnehmen. „Wir passen uns den Vorgaben in jedem Gefängnis an: kein Schmuck, keine Ohrringe, keine Ketten, keine Broschen im Haar, keine Sandalen, keine Absätze“, erklärt Rosaura Magaña. Die pensionierte Krankenschwester sucht in der Haftanstalt nach Spuren ihres Sohnes Carlos Eduardo. Der junge Mann wurde im Juli 2017 von Polizisten festgenommen und ist seitdem verschwunden. 20 Jahre alt sei er damals gewesen. „Jetzt ist der 24, also in einem leistungsfähigen Alter“, sagt Magaña. Deshalb gibt sie die Hoffnung nicht auf, ihn lebend zu finden.
„An der Suche nach Lebenden zeigen die Behörden kein Interesse“
Fast 90.000 Menschen sind in Mexiko verschwunden. Viele von ihnen wurden von Kriminellen verschleppt, damit sie Drogen schmuggeln, als Prostituierte arbeiten oder beispielsweise Tunnel bauen. Andere verschwanden wie Carlos Eduardo, als sie sich in den Händen von Polizisten oder Soldaten befanden. Die Suche nach ihnen konzentriert sich meistens auf sterbliche Reste: auf Gräber, Knochen, forensische Analysen. „Sie füllen die Laboratorien mit menschlichen Resten, aber an der Suche nach Lebenden zeigen die Behörden kein Interesse“, erklärt María de la Luz López Castruita, die seit 13 Jahren ihre Tochter Irma Claribel sucht. Ihr Kollektiv Búsqueda Nacional en Vida will sich damit nicht zufrieden geben: „Wir haben es satt, unsere Angehörigen auf Müllplätzen, in Höhlen, Flüssen und Bergen zu suchen“, erklärt eine Sprecherin auf einer Kundgebung. „Man hat sie uns lebend genommen, und deshalb wollen wir sie lebend zurück. Wir sind es leid, sie als Tote zu suchen.“
Seit 2017 reisen Mitglieder des Kollektivs zwei Mal im Jahr durchs Land und suchen nach den Verschwundenen. Über hundert Familien haben sich der „Landesweiten Suche nach den Lebenden“ inzwischen angeschlossen. Auch die Pandemie konnte sie nicht stoppen. Die „neue Normalität“, die Präsident Andrés Manuel López Obrador ausgerufen hat, ändert ihr Leben kaum. Nur in den ersten Monaten der Pandemie haben sie ihre Suche ausgesetzt.
Auch nach Jalisco sind wieder zahlreiche Angehörige angereist. Einige tragen Schutzmasken, auf denen die Bilder ihrer Kinder zu sehen sind. Doch dem staatlichen Aufruf nach sana distancia – „sicherem Abstand“ – können sie nicht folgen. In den Bussen und Unterkünften riskieren sie, sich zu infizieren. Aber wer seine Liebsten lebend finden will, darf keine Zeit verlieren.
Staatsanwaltschaften und andere Behörden arbeiten zwar wegen der Pandemie zeitweise weniger, aber die Angehörigen haben sich ohnehin längst selbst zu Expert*innen entwickelt. Sie wissen genau, wie man feststellt, wo ihre Söhne oder Töchter zuletzt telefoniert haben und mit welchen Taxis sie gefahren sind. Einmal verfolgten Angehörige sogar die Spur eines verschwundenen Mexikaners, der in eine Haftanstalt in Honduras gebracht wurde. „Bei einer unserer Demos hat eine Migrantin sein Foto gesehen und uns gesagt, dass sie ihn in einer Haftanstalt gesehen habe“, erinnert sich Arturo Trejo, der seinen Vater sucht. „Wir sind dann mit der Mutter zum Botschafter gegangen und es stellte sich heraus, dass sie recht hatte.“
„Ich sitze seit fünf Jahren im Knast und meine Familie weiß nicht, dass ich hier bin.“
Im Gefängnis von Tonalá haben die Angehörigen nur wenig Zeit, um das Vertrauen der Häftlinge zu gewinnen. Sie laufen durch die vergitterten Gänge, vergleichen Tattoos und zeigen den Gefangenen Bilder. Tatsächlich erinnern sich die Inhaftierten manchmal daran, Verschwundene gesehen zu haben. „Hier halten sie sie fest“, ist Luz López überzeugt. „Wir haben hier Jungs getroffen, die uns gesagt haben: `Ich sitze seit fünf Jahren im Knast und meine Familie weiß nicht, dass ich hier bin.´“ Im Frauengefängnis erkennen Häftlinge den Sohn einer Suchenden, im Krankenhaus bekommt die Gruppe einen wichtigen Tipp: Sie soll in die öffentlichen psychiatrischen Kliniken gehen.
Drei Tage später treffen sie sich im Park vor der psychiatrischen Klinik SALME in Jalisco. Unter einem Baum schützen sie sich vor der stechenden Sonne und warten darauf, dass Adolfo das Gebäude verlässt. Am Vortag haben sie den jungen Mann in der Klinik entdeckt. Lídia Sánchez Tobón erinnerte sich an ein Bild, das sie gesehen hatte, als sie eine andere Brigade begleitete. Damals seien Leute in einem Dorf auf sie zugekommen, erinnert sie sich. „Sie waren sehr bewegt und haben uns auf ihren Handy Fotos von verschwundenen Angehörigen gezeigt“, berichtet Lídia Sánchez. “Darunter war auch eine Aufnahme von Adolfo.“
Jeder wiedergefundene Mensch macht den Angehörigen Hoffnung
Drei Jahre lang war Adolfo verschwunden. Fünf Tage, bevor das Kollektiv ihn fand, hatten ihn Polizisten in aufgewühltem Zustand in die Klinik eingeliefert. Dort versuchte niemand, ihn zu identifizieren. Doch die Angehörigen machten seine Familie innerhalb von zwei Tagen aus. Und so konnte die Mutter ihren verlorenen Sohn abholen. Mit Sprechchören wie „Wir haben es geschafft“ empfängt die Gruppe den jungen Mann im Park.
In ihrer Heimat sucht Lídia Sánchez wie alle Beteiligten des Kollektivs auf einsamen Brachen, in Brunnen oder auf verlassenen Feldern nach den Resten von Verschwundenen. Sie sucht ihren Bruder Ángel Gabriel. Zweimal im Jahr reist sie mit dem Kollektiv durch Mexiko. Erfolge wie der Fund von Adolfo helfen ihr, nicht aufzugeben. „Wenn du Menschen lebend suchst und tatsächlich jemanden findest, gibt dir das einfach unheimlich viel Energie“, erklärt sie. „Es zeigt dir, dass es einen Gott gibt und dass er mit uns ist. Und dass es sein kann, dass ich eines Tages meinen Bruder finden werde.“
Der Text entstand in Kooperation mit IMER Noticias, Quinto Elemento Lab und der Journalistengruppe „A dónde van los desaparecidos“. Eine Audio-Version des Beitrags findet ihr bei Radio onda.
Übersetzung: Wolf-Dieter Vogel / Periodistas de a Pie