Ich muss eingestehen: Zunächst bin ich um das Buch herumgeschlichen, weil ich den Verdacht hegte, da wird über etwas geschrieben, das weit zurückliegt, längst als das bezeichnet werden kann, was als historisch erledigt gilt und keine große praktische Relevanz für die Gegenwart hat. Dann habe ich es dennoch aufgeschlagen und begann zu lesen. Und sehr schnell wurde mir die Brisanz bewusst: Vieles, was dort thematisiert wird, liegt in der Vergangenheit, aber es erklärt ebenso vieles, das heute, auf einem Kulminationspunkt der Schnelllebigkeit, kaum noch verstanden wird.

Dahn, Mausfeld, Tamtam und Tabu

Daniela Dahn und Rainer Mausfeld, sie Journalistin, Publizistin und Schriftstellerin, er ehemaliger Professor der Wahrnehmungs- und Kognitionsforschung, haben sich zu einem Projekt zusammengetan, das den Titel „Tamtam und Tabu. Die Einheit: Drei Jahrzehnte ohne Bewährung“ trägt und eine interessante Gliederung aufweist.

Daniela Dahn rekapituliert den Prozess der Deutschen Einheit anhand zahlreicher Quellen unter dem Aspekt der tatsächlichen faktischen Entscheidungen und Maßnahmen. Dabei nimmt sie die medialen Kommunikationsstrategien unter die Lupe.

Rainer Mausfeld durchleuchtet in einem zweiten Teil die Realität in Bezug auf die Rhetorik. Danach folgen insgesamt fünf Gespräche zwischen beiden Autoren, die sich mit dem Systemwechsel, den Kommunikationsmustern und den daraus resultierenden tiefen Enttäuschungen und ihrer Aktualität befassen.

Werte und Tradition rücksichtslos verramscht

Geschichte vollzieht sich in Form von Machtkämpfen. Die Sieger, die aus diesen Kämpfen hervorgehen, bestimmen die Art und Weise, wie über das Geschehene in der Retrospektive berichtet wird, welche Interpretation und welche Bilder den Rückblick bestimmen und wie das Ganze bewertet wird.


Daniela Dahn, Rainer Mausfeld. Tamtam und Tabu. Die Einheit: Drei Jahrzehnte ohne Bewährung (Quelle: Youtube/Gerhard Mersmann)

Auffallend ist, dass heute vor allem das Narrativ dominiert, der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl habe die historische Chance der Wiedervereinigung erkannt, schnell gehandelt und so die Chance genutzt. Und das, was dabei zerschlagen wurde, sei historischer Kollateralschaden, der nicht zu vermeiden gewesen wäre.

Bei der Lektüre wird deutlich, dass es mehrere Optionen gegeben hätte, die dazu geeignet gewesen wären, auch die positiven Traditionen und Werte dessen in eine neue Zeit herüberzuretten, was als DDR in die Geschichte eingegangen ist und rücksichtslos verramscht wurde, da es als Ramsch verstanden wurde.

Dass genau die, die immer als die Protagonisten der friedlichen Revolution gepriesen wurden, genau dieses im Sinn hatten, wurde durch deren politische Isolierung erledigt. Dafür, dass es sich dabei um eine historisch einmalige, schnell zu nutzende Chance handelte, die große Hektik verursachte, existierte ein erstaunlich präziser Plan. Der Kampagnenjournalismus lieferte das Tamtam und bestimmte das Tabu.

Die Aktualität der Ausführungen des Buches besticht. Es handelt sich um die Dechiffrierung eines Phänomens der Periode des Wirtschaftsliberalismus, die mit den Jahren 1989/90 auch in Deutschland ihren Siegeszug begann und alle politisch wichtigen Entscheidungen mit dem Attribut des Alternativlosen versahen. Auffallend ist, dass alles, was mit dieser Maxime durchgesetzt wurde, sich im Nachhinein jeweils als ein Desaster für den Großteil der Gesellschaft erwiesen hat.

Deutungsmuster für die heutigen politischen Zustände

In der Nachbetrachtung und der dankenswerterweise dichten Darstellungen werden die damaligen tatsächlichen Alternativen noch einmal deutlich, denn sie wurden nicht nur im Osten, sondern auch im Westen formuliert. Das fing mit dem Erhalt und der Weiterentwicklung von Genossenschaftseigentum an, es ging über die Gleichstellung von Frauen weiter und endete mit dem Vorschlag einer neuen, gemeinsam formulierten Verfassung. All das wurde ignoriert.

Die Frustrationen und Desillusionierungen, die vor allem im Osten hinterlassen wurden, sind hervorragende Deutungsmuster für die heutigen politischen Zustände.

Die Wiedervereinigung war ein Anschluss. Die Kommunikation dessen als “alternativlos” lieferte die Blaupause für den Rigorismus der folgenden drei Jahrzehnte. Die Monopolisierung der Presse und die Metamorphose vom Journalismus zur Meinungsbildung in den öffentlich-rechtlichen Anstalten besorgten den Rest. Lektüre unbedingt empfohlen.


Informationen zum Buch

Tamtam und Tabu. Die Einheit: Drei Jahrzehnte ohne Bewährung

Tamtam und Tabu Die Einheit Drei Jahrzehnte ohne Bewährung. (Buchcover: Westend Verlag)

Tamtam und Tabu. Die Einheit: Drei Jahrzehnte ohne Bewährung


Autoren: Daniela Dahn und Rainer Mausfeld

Genre: Politik und Soziologie

Seiten: 240

Erscheinung:September 2020

Verlag: Westend

ISBN: 978-3-86489-313-1


Textauszug

Das Jahr 1990 kann als einer der wichtigsten Momente der Nachkriegsgeschichte angesehen werden, da es einzigartige Chancen bot – sowohl für eine internationale Friedensordnung wie auch für eine erneuerte Demokratie, die dann diesen Namen verdiente. Heute wissen wir, dass diese Chancen aus geopolitischen Interessen und denen der Kapitaleigner gezielt blockiert und somit verspielt wurden. Warum war dies, entgegen den großen Hoffnungen der Bevölkerung, so leicht?

Die Leichtigkeit, mit der eine kleine Minderheit von Besitzenden Macht über eine große Mehrheit von Nichtbesitzenden ausüben kann, gleiche einem »Wunderwerk«, bemerkte zur Zeit der Aufklärung der große schottische Philosoph David Hume. Diese Leichtigkeit der Machtausübung ist seit der Antike eines der großen Rätsel der politischen Philosophie, eines, das in einer Demokratie in noch größerem Maße erklärungsbedürftig ist.

Hume erkannte auch, wohin man den Blick zu richten hat, wenn man dieses Rätsel entschlüsseln will, nämlich nicht lediglich auf die rein physische Macht, die es auf den Körper abgesehen hat, sondern auf die Formen der Macht, die auf die Psyche zielen. Wer über Mittel verfügt, mit denen sich auf der Klaviatur des menschlichen Geistes so spielen lässt, dass Meinungen und Affekte in geeigneter Weise gesteuert werden können, verfügt über einen Einfluss, der kaum noch als Macht erkennbar ist und gerade darum eine besondere Wirksamkeit entfalten kann.

In diesem Buch geht es also zunächst erneut darum, wie sich Menschen in ihrer gesellschaftlichen Willensbildung beeinflussen lassen. Ein uraltes Problem, doch im Zeitalter der Massenmedien gravierender denn je. Zumal es historische Situationen wie den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gibt, in denen diese Probleme besonders grell aufleuchten und so weitere aufschlussreiche Details über die Machttechniken erkennbar werden, durch die sich »die verwirrte Herde auf Kurs halten lässt«. Mit diesen Worten beschrieb schon vor einem Jahrhundert der einflussreiche politische Intellektuelle Walter Lippmann die zentrale Herausforderung für die Eliten in einer – von ihm angestrebten – sogenannten »Elitendemokratie«. Heute ist die Elitendemokratie das Standardmodell kapitalistischer Demokratien.

Der Originalartikel kann hier besucht werden