Die Photographien des chilenischen Künstlers Alfredo Jaar im Wiener MAK lassen das Rote Wien in einem neuen Licht erscheinen
Von Christian Kaserer
Seit über 100 Jahren faszinieren und inspirieren die städtebaulichen wie gesellschaftspolitischen Ideen des sogenannten Roten Wiens. Wissenschaftler wie Künstler arbeiteten sich an der sozialdemokratisch regierten Donaumetropole der Zwischenkriegszeit ab und man möchte meinen, die fünfzehn Jahre würden keine Überraschungen mehr bergen, das ganze hätte sich nun totgelaufen. Eine neue Ausstellung des chilenischen Künstlers und Photographen Alfredo Jaar im Museum für angewandte Kunst in Wien indes zeigt, dass selbst Altbekanntes, wie etwa der Blick auf den Karl-Marx-Hof, völlig neue Perspektiven freilegen kann.
Die 35-teilige Photoserie im obersten Stockwerk des MAK stellt die Architektur des Roten Wiens in den Mittelpunkt. In genau choreographierten Aufnahmen fokussiert sich Jaar auf einzelne bauliche Details der Volkswohnungspaläste, so die hochtrabende Bezeichnung für die Gemeindebauten in den 1920er Jahren. Die Symmetrie beeindruckt, Menschen indes sucht man in den meisten Bildern vergebens – es spricht die Architektur.
Jaars Photographien scheinen zeitlos und ermöglichen nur selten, etwa durch uns heute veraltet anmutende Automobile, einen Rückschluss auf die Zeit ihrer Entstehung. Das lässt den sozialen Wohnbau der Wiener Sozialdemokratie zeitlos wirken, entfremdet jedoch auch. Ein Effekt, welchen Jaar noch verstärkt, wenn er in den Bildern den Kontrast erhöht, die Rottöne verstärkt und schattige Stellen uns als dunkle, kaum zu differenzierende Flächen entgegentreten. Hinzu kommt der Schriftzug „Red Vienna“, gezeichnet durch grelles, rotes Neonlicht, ganz im Stile der damals populären Reklame, welches die ganze Ausstellung illuminiert und die entsprechenden photographischen Entfremdungen noch weiter verstärkt.
Alfredo Jaars Rotes Wien ist ein zeitloses, monumentales, aber mitunter auch entfremdetes Bild.
ALFREDO JAAR
Das Rote Wien
Mi, 09.06.2021–So, 05.09.2021