In die Kritik am gegenwärtigen Journalismus schleicht sich zuweilen die verzerrte Wahrnehmung ein, dass es einmal so etwas wie die goldenen Zeiten dieser Profession gegeben habe. Dass dem nicht so war, kann man ausgerechnet in der Biografie einer Ikone des investigativen, unabhängigen Journalismus nachlesen.
Seymour M. Hersh, der die amerikanische Nation wie kaum ein anderer durch seine exzellent recherchierten und immer den Finger auf die Wunde legenden Artikel aufgemischt hat, dokumentiert, wie schwierig es auch in der Vergangenheit war, sich gegen die offiziellen Lesarten der Politik seitens der Regierenden zu stellen.
Immer wieder musste er kämpfen, die Presseorgane wechseln und sich dem aussetzen, was heute so gern mit dem euphemistischen Begriff eines Shitstorms bezeichnet wird. Er machte es dennoch. In seiner Autobiografie “Reporter. Der Aufdecker der amerikanischen Nation” legt er Zeugnis ab über seine spannende, explosiv geladene journalistische Vita.
Vom Massaker in My Lai bis zu Osama Bin Laden
Seymour M. Hersh, seinerseits als mittelloser Jude in Chicagos berüchtigter South Side aufgewachsen, kam mehr aus Zufall an das Pressewesen und begann als kleiner Lokalreporter. Seine Herangehensweise wurde gespeist durch seine eigene Sozialisation und führte zu dem Motto, dem er sein Leben lang treu bleib:
Sieh genau hin, bevor du etwas schreibst, entferne den Schein, um auf das Sein vorzudringen, mach’ keine Kompromisse und gebe die eigene Unabhängigkeit nie auf.
Die Bilanz ist atemberaubend. Er war es, der die amerikanische Nation in Atem hielt. Seine großen Enthüllungen begannen mit Berichten über den Einsatz biologischer und chemischer Waffen im Vietnamkrieg, er enthüllte das Massaker von My Lai, er schrieb unangenehme Wahrheiten über die Kennedys, die unter anderem Mordversuche am kubanischen Präsidenten Fidel Castro autorisiert hatten. Er dechiffrierte die Rolle der CIA als eine Institution, die sich zum Staat im Staate entwickelt hatte, er demontierte so manches Lügengebäude Henry Kissingers, er deckte die amerikanische Beteiligung am Mord von Salvador Allende beim Putsch in Chile auf, er beschrieb die fatalen, von Falschaussagen gespickten Begründungen für den durch George W. Bush unternommenen Krieg gegen den Irak. Er beschrieb die Abwendung seines Landes vom syrischen Präsidenten Assad, der seinerseits alles tat, um mit den USA zu kooperieren, er lieferte ein Bild über die Foltermethoden im berüchtigten Abu Ghraib und er warf ein kompromittierendes Licht auf die Umstände der Liquidierung Osama Bin Ladens.
Seymour M. Hersh und die Macht
Ohne Übertreibung kann gesagt werden, dass die Geschichte der USA in manchen Punkten anders verlaufen wäre, hätte Seymour M. Hersh sich auf lockende Angebote eingelassen, wenn er sich den von der politischen Administration in den Welt gesetzten Mainstream-Narrativen angeschlossen hätte.
Das Buch bietet einen aufschlussreichen Einblick auf seine Arbeitsmethoden, seine Recherchen und seinen Umgang mit Informanten, die jeweils alles riskierten, um zu helfen, dass das aufgedeckt wurde, was der amerikanischen Bevölkerung vorenthalten werden sollte. Es zeigt den Niedergang der demokratischen Werte und Institutionen und die allmähliche wie stetige Verpflichtung der sogenannten freien Presse gegenüber der politischen Macht.
Es wundert, dass Seymour M. Hersh, seinerseits Jahrgang 1937, immer noch lebt und sich bester Gesundheit erfreut. Es lässt den Schluss zu, dass das Vorgehen bei seiner Arbeit und die daraus entstandene Qualität Fakten geschaffen haben, die einfach nicht mehr aus der Welt zu räumen waren. Das Buch ist ein Dokument von Mut, Haltung, Disziplin, handwerklicher Akkuratesse und der Verpflichtung zu nicht durch die eigene Meinung kontaminierter Information. Unbedingt lesenswert.
Informationen zum Buch
Reporter: Der Aufdecker der amerikanischen Nation
Originaltitel: Reporter: A Memoir
Autor: Seymour M. Hersh
Genre: Politik und Journalistik
Seiten: 432
Erscheinung: 22. März 2019 (3. Edition)
Verlag: Ecowin
ISBN: 978-3-71100-237-2
Quellen und Anmerkungen
(1) Das Massaker von Mỹ Lai (auch My Lai) war ein im März 1968 verübtes Kriegsverbrechen von Angehörigen des US-Militärs (Soldaten der Task Force Barker) während des Vietnamkriegs. Etwa 500 Zivilisten wurden ermordet, darunter Greise, Kleinkinder, Frauen und Babys. Fast alle anwesenden Soldaten beteiligten sich an Vergewaltigungen und Mord. Durch das Eingreifen des US-Hubschrauberpilot Hugh Thompson, der drohte, mit den Bordwaffen auf die amerikanischen Soldaten zu feuern, konnten einige wenige Frauen und Kinder gerettet werden. Die US-Armee versuchte, das Verbrechen zu vertuschen. Erst viel später wurden der US-Öffentlichkeit Details des Verbrechens bekannt. Maßgeblich für die Wahrnehmung wurden Recherchen von Seymour M. Hersh. Allerdings wollten die großen Medien seine Berichte anfänglich nicht abdrucken. Erst im November 1969 konnte er über die Nachrichten-Agentur Dispatch News Service seine Berichte verbreiten. Weitere Informationen zum Kriegsverbrechen in My Lai auf BBC News (20. Juli 1998): Murder in the name of war – My Lai. Auf http://news.bbc.co.uk/2/hi/asia-pacific/64344.stm (abgerufen am 17.6.2021).