Im Gespräch mit den Radiosendern Ayni und JGM erläutern vier gewählte Vertreter*innen der Quechua, Aymara, Diaguita und Kawésqar Themen, die sie in die Debatte über die neue Verfassung einbringen wollen. Mit dabei: die Quechua-Vertreter*innen Isabella Mamani und Wilfredo Bacian, Ivanna Olivares, Abgeordnete der Lista de los Pueblos aus dem Volk der Diaguita, und Kawésqar-Vertreterin Margarita Vargas. Wiederkehrende Stichworte sind die Organisierung der indigenen Völker und die Notwendigkeit, das wirtschaftliche Entwicklungsmodell vom extraktivistischen Rohstoffgewinnungsprinzip zu entkoppeln. Alle vier betonten ihre Verpflichtung, die Wünsche und Anregungen der Gemeinschaften, denen sie angehören, in die Verfassung einzubringen. „Als indigene Vertreter*innen tragen wir im Vergleich zu anderen Abgeordneten die doppelte Verantwortung. Wir müssen unser Volk repräsentieren, und wir müssen die Territorien als politische Kraft wieder mehr ins Spiel bringen“, erklärt Mamani.
Schwerpunkt Plurinationalität
Die derzeitige Verfassung spricht vom einheitlichen Charakter des Staats, ohne die indigenen Völker auch nur ein einziges Mal zu erwähnen. Hier müsse dringend nachgearbeitet werden, finden die vier Indigenen-Vertreter*innen. Der plurinationale Charakter des chilenischen Staats und die Koexistenz mehrerer Nationen auf dem chilenischen Staatsgebiet gehöre definitiv in die neue Verfassung, wobei die bloße Aufnahme des Begriffs der Plurinationalität selbstverständlich nicht ausreiche und von entsprechenden Maßnahmen begleitet werden müsse. Dazu Wilfredo Bacian: „Plurinationalität darf kein bloßer Slogan sein, allein das Wort wird keine magische Veränderung herbeiführen. Plurinationalität hat mit der Umverteilung von politischer Macht zu tun. Hier geht es um die rechtlich garantierte Rückgabe von Gebieten, von Gewässern und vor allem um die Anerkennung indigener Institutionen innerhalb der staatlichen Struktur.“ Die Wahlkreisabgeordnete Ivanna Olivares ergänzt: „Echte Plurinationalität beinhaltet die Rückgabe der indigenen Territorien durch den Staat, die exakte Abgrenzung der Gebiete und ihre dauerhafte Kontrolle durch die indigenen Gemeinschaften, das Recht auf politische Selbstbestimmung, auf politische Souveränität innerhalb der Territorien, die Achtung des Gewohnheitsrechts unserer Vorfahren, der traditionellen Autoritäten und unserer innenpolitischen Strukturen sowie das Recht zu entscheiden, welche wirtschaftlichen Aktivitäten innerhalb unserer Gemeinschaften stattfinden dürfen.“ Dazu Mamani: „Ich mag die Formulierung in der bolivianischen Verfassung, aber die tatsächliche indigene Präsenz innerhalb der Gesetzgebung ist in der Praxis doch sehr begrenzt. Das wollen wir in unserer neuen Verfassung gern anders haben. Das Konzept des plurinationalen Staats und die Selbstbestimmung aller First Nations soll in jeder Hinsicht spürbar sein: rechtlich, politisch, sozial, kulturell… Wir wollen eine Stimme, und wir wollen, dass sie auch gehört wird.“ Kawésqar-Vertreterin Margarita Vargas fügt hinzu: „Die jetzige Verfassung spricht von einem einheitlichen Staat. Wir möchten, dass stattdessen von einem plurinationalen Staat die Rede ist, der unsere Muttersprache anerkennt, und dass entsprechende Gesetze erlassen werden, die die politische Förderung einer umfassenden indigenen Entwicklung ermöglichen“.
Ein neues Entwicklungsmodell
Immerhin drei der Befragten nannten als weitere wichtige Punkte die Kritik am extraktivistischen Entwicklungsmodell und den Wunsch nach einer Politik, die die Umwelt und die Beziehung zur Natur stärker in den Fokus rückt. Dazu Bacian: „Wir glauben, dass ein nachhaltiges Wirtschaftsmodell praktikabel ist, bei dem die kapitalistische Ausrichtung durch eine Kosmozentrische ersetzt wird, und das in der Lage ist, ausreichend Ressourcen zu erzeugen, so dass alle Völker auf dem chilenischen Territorium in Würde und mit uneingeschränktem Respekt ihrer Grundrechte leben können. Es darf nicht sein, dass der Staat seine Nachlässigkeit bei der Gewährleistung gesellschaftlicher Rechte durch die Ausweitung des extraktivistischen Modells auszugleichen sucht“.
Vorschläge und Allianzen
„Der Erhalt des Lebens und das Gleichgewicht des Ökosystems müssen Vorrang vor sämtlichen Entwicklungsmodellen haben, denn nur so können wir die Koexistenz und das Überleben der künftigen Generationen auf dem chilenischen plurinationalen Territorium sicherstellen“, erklärt Ivannia. „So müssen wir zum Beispiel darauf achten, dass die Nutzung unserer Gewässer auch den Schutz der Flussläufe, des Grundwassers und der Gletscher, ob Schnee oder Fels, einbezieht.“ Dazu Mamani: „Wir wollen selbst entscheiden, wie wir unsere Umwelt schützen. Das derzeitige Wirtschaftsmodell steht im Widerspruch zu unserer Kosmovision, zu unserer Beziehung zu den Elementen. Wir müssen ein Modell entwickeln, das ohne Extraktivismus auskommt und die Umwelt schützt, ein Modell, das weder unserer Mutter Erde noch dem Wasser schadet. Die Pachamama muss zum Rechtssubjekt erhoben werden.“
Sonstige Themen
Historische Schuld: Laut Wilfredo Bacian „muss der chilenische Staats aufgrund der historischen Schuld gegenüber der indigenen Bevölkerung Schadenersatz leisten. Die Schuld muss in Zahlen transformiert werden, damit festgestellt werden kann, wie hoch dieser Schaden beziffert werden muss. Hier geht es nicht nur um die unrechtmäßige Vereinnahmung von Land und Wasser, sondern auch um den Verlust von Menschenleben, vor allem im südlichen Teil des Landes.“
Dezentralisierung: „Die indigenen Gebiete müssen ihre Entscheidungsgewalt und Souveränität wiedererlangen. Dazu gilt es, die übermäßige Zentralisierung dieses hyper-präsidentiell strukturierten Staats schrittweise abzubauen“, erklärt Olivares. Das Prinzip der Dezentralisierung solle auch auf die Regionen angewendet werden, ergänzt Bacian: „Für die Regionen sollen ja demnächst Gouverneur*innen gewählt werden, die über eine gewisse Autonomie verfügen. Für die Entwicklung der abgelegeneren Gemeinden wäre eine erweiterte Unabhängigkeit sicher auch förderlich. So können alle teilhaben an der Entwicklung und ihre Erfahrung und traditionelles kulturelles Wissen beisteuern.“
Politische Teilhabe: Um mit dem Umbau der Demokratie voranzukommen, müssten „neue partizipative Mechanismen der politischen Teilhabe etabliert werden, die Raum für Stellungnahmen und Beratung lassen“, findet Olivares. „Wir wollen, dass die Bürger*innen und die Territorien ihre Macht zurückbekommen“.
Kinder und Jugendliche: Die Rechte von Kindern und Jugendlichen seien in ihrer Fraktion „La Lista del Pueblo“ ebenfalls ein wesentlicher Aspekt der Transformationsbestrebungen, fährt Olivares fort. „Kinder sind der Schatz dieser Gesellschaft, wir müssen ihren Schutz gewährleisten und uns für ihre Autonomie und Möglichkeiten zur Partizipation einsetzen und ihre Ideen und Träume ernst nehmen.“
Gesellschaftliche Entwicklung der indigenen Gemeinden: Margarita Vargas will sich verstärkt für grundlegende Veränderungen der Ley Indígena, des „Indigenengesetzes“ engagieren. Dort werde beispielsweise das Volk der Kawésqares nicht als indigenes Volk, sondern nur als Community definiert. Es sei außerdem wichtig, eine zweisprachige interkulturelle Erziehung zum Standard zu erheben und dafür zu sorgen, dass die gesellschaftpolitische Entwicklungsförderung tatsächlich an der Lebensrealität der Indigenen ansetzt. „Das Indigenengesetz spricht im Zusammenhang mit dem Volk der Mapuche immer nur vom Land als Element der Entwicklung. Das Meer als zentrales Entwicklungselement der Völker Patagoniens bleibt hingegen unerwähnt.“
Bündnispolitik und umstrittene Zweidrittelmehrheit
Einer der meistdiskutierten Punkte der letzten Wochen ist die für Beschlüsse im Verfassungskonvent notwendige Zweidrittelmehrheit, die im November 2019 in Vorbereitung auf den Verfassungsprozess beschlossen wurde. Mamani und Olivares sprachen sich dafür aus, die Bestimmung zu ändern. Aymara-Vertreterin Mamani erklärte, einfache Mehrheiten seien doch ausreichend; zumindest solle das Quorum je nach Diskussionsgegenstand variabel sein. Olivares, Wahlkreisabgeordnete des Distrikts 5, erklärte: sie wünsche sich, dass „im Parlament der politische Wille besteht, diese antidemokratische Regel umzuwandeln“.
Unabhängig davon, ob es gelingt, das Quorum zu ändern oder nicht, steht fest, dass die Wähler*innen Allianzen bilden müssen, um Unterstützung zu sammeln, damit ihre Themen in die Verfassung einfließen. Wilfredo Bacian setzt auf einen offenen und transparenten Dialog mit den anderen Mitgliedern des Konvents, um Unterstützer*innen zu gewinnen und Ideen anderer mitzutragen, die er überzeugend findet, insbesondere im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Rechten. „Wie gut wir miteinander reden und uns auf Positionen einigen können, wird letztendlich darüber entscheiden, welche Allianzen die indigenen Völker aufbauen, wobei ich heute nicht sagen könnte, welche das im einzelnen sein werden“, so Bacian. Isabella Mamani kommt zu einem ähnlichen Schluss: „Am besten wäre, wenn wir 17 gewählten indigenen Vertreter*innen uns zu einer Fraktion zusammenschließen und auch noch die drei Genossen mitnehmen könnten, die als Volksvertreter gewählt wurden, aber auch Indígenas sind. Was uns eint, ist die große und wichtige Forderung nach Anerkennung und Respekt. Wir mögen zwar unsere Differenzen haben, aber wir werden versuchen, als stabiler Block in die Diskussion um die neue Verfassung zu gehen. ” Mamani zeigt sich optimistisch, auch unter den nicht-indigenen Volksvertreter*innen Unterstützung für ihre Forderungen zu bekommen. Margarita Vargas betrachtet die Vielfalt der im Konvent vertretenen Standpunkte als bereichernd und versichert, dass ihr viel daran gelegen sei, die verschiedenen politischen Positionen und Ideologien zusammenzubringen: „Wenn wir unsere persönlichen Unterschiede nicht respektieren, wird es schwierig sein, Einigungen zu erzielen. Wir vertreten ein Volk, daher kann ich nicht einfach nach meiner persönlichen politischen Meinung gehen. Wir alle müssen die Themen auf den Tisch bringen, die die indigenen Völker betreffen, insofern gehe ich einfach mal davon aus, dass wir viele ähnliche Forderungen haben werden.“
Übersetzung: Lui Lüdicke