Nun hat Iran einen Staatspräsidenten, der auf der Sanktionsliste der EU und jener der USA steht – und dies nicht aufgrund von sonst oft von politischer Willkür durchsetzten Kriterien des «Westens», sondern wegen der nachgewiesenen Verantwortung des Amtsträgers für tausende Todesurteile gegen politische Widersacher in früheren Phasen der Islamischen Republik.
Ebrahim Raissi, jetzt gewählter Nachfolger von Hassan Ruhani, war einer von vier «Blutrichtern», die um 1988 (damals war er 28-jährig) das Dekret Ayatollah Chomeinis ausführten – das beinhaltete, alle so genannt politischen Gefangenen müssten unverzüglich erhängt oder erschossen werden. Was tat Raissi später, in den Jahren der ideologischen Mässigung der Islamischen Republik? Er studierte Theologie, erreichte den Rang eines Hodjataleslam (das ist eine Qualifikation zwischen einem einfachen Mullah und einem höher gestellten Ayatollah), errang Ämter im Justizapparat, wurde Vorsitzender des Kontrollapparats des iranischen Rundfunks und im Jahr 2016 «Hüter» der religiösen Stiftung Astan-e Qods-e Razawi in Mashhad.
Grosser Einfluss über mächtige Stiftung
Für Aussenstehende wirkte, wirkt generell, diese letzt genannte Funktion wohl als Versetzung auf ein Abschiebegleis – doch weit gefehlt! Der «Hüter» dieser Stiftung herrscht über ein wahrhaftiges Imperium, einen Staat im Staate Iran. 25 Millionen Schiiten pilgern jährlich zu diesem Heiligtum, dem Grab des achten Imams. Die Stiftung erhält Tag für Tag Legate von Pilgerinnen und Pilgern, der Reichtum der Stiftung wächst von Jahr zu Jahr. Sie beherrscht die Wirtschaft der drei-Millionen-Stadt Mashhad, die Industrie der ganzen Region, die touristische Infrastruktur. Ihr Einfluss geht weit über die Region hinaus.
Drei Jahre lang war Raissi in dieser Funktion. Es gibt Gerüchte, dass er in einer kritischen Phase von seinem «Thron» aus das grüne Licht für Demonstrationen erteilte, die sich gegen die relativ gemässigte Linie Ruhanis respektive gegen ständig wachsende wirtschaftliche Probleme richteten – aber als die Kundgebungen ausser Kontrolle gerieten, liess Raissi die Organisatoren der Proteste fallen und liess es (wahrscheinlich) auch zu, dass sie von der Justiz erbarmungslos verfolgt wurden. Wieder: Todesurteile.
Bereits einmal kandidiert
Ebrahim Raissi kandidierte 2017 für das Amt des Staatspräsidenten, gegen den damals amtierenden Ruhani. Und unterlag. Vor allem, weil Ruhani und dessen Aussenminister, Mohammed Djawad Zarif, noch immer aussichtsreich erschienen beim Versuch, einen konstruktiven Dialog mit westlichen Mächten zu führen, konkret: die USA beim mühsam ausgehandelten sog. Atomvertrag «bei der Stange» zu halten und damit die Verschärfung von Sanktionen abzuwehren. Ein Jahr später schlug US-Präsident Donald Trump zu, zerriss, bildlich gesprochen, das Vertragswerk, und verkündete eine Strategie des «maximalen Drucks» gegen Iran. Dass Iran sich bis zu diesem Zeitpunkt, auch einige Zeit darüber hinaus, liniengetreu an die Vorgaben des Vertrags gehalten hatte, war Trump egal – von nun an konnte Iran auf legalem Weg kein Erdöl mehr exportieren und wurde, erbarmungslos, in die wirtschaftliche Krise getrieben. Mit dem Resultat, dass schliesslich mindestens 50 Prozent der Bevölkerung unter die Armutsgrenze schlitterten.
Das war die Ausgangslage für den Beginn der Kampagne für die Suche eines Nachfolgers für den relativ gemässigten, aber auch ziemlich erfolglosen Staatspräsidenten Ruhani. Aber es waren nicht nur die Folgen der US-Sanktionen (die von Europa, wenn auch widerwillig, mitgetragen wurden), welche die wachsende Misere auslösten – es gab, parallel dazu, auch eine inner-iranische Bewegung zugunsten von so genannten Hardlinern. Sie geht in die Ära von Ahmadinejad als Staatspräsident (2005 bis 2013) zurück. In diesen Jahren erhielten die Revolutionswächter (Pasdaran) immer mehr Einfluss auf die Politik, vor allem aber auf die Wirtschaft. Sie wurden zu einem Staat im Staate, ähnlich wie die religiöse Stiftung in Mashhad, platzierten ihre Leute in immer mehr Banken des Landes (das Bankensystem ist auch für professionelle Kenner fast total unübersichtlich), übernahmen die Kontrolle auch in immer mehr Industrie-Unternehmen. Und schliesslich schlossen sie sich mit den religiös argumentierenden Kräften zusammen, mit dem Ziel, das traditionelle duale System der Machtausübung in Iran, religiös einerseits, laizistisch anderseits, zu «beerdigen». Sie bauten Ebrahim Raissi so konsequent als Kandidaten für die Ruhani-Nachfolge auf, dass den Mitgliedern des Wächterrats (der ist zuständig für die Zulassung oder Ablehnung eines Kandidaten) praktisch keine Wahl mehr blieb.
Sanktionen halfen mit
Die Frage bleibt, ob all das nicht so hätte kommen müssen, hätte Donald Trump sich nicht entschieden, den vom Vorgänger Obama mit-ausgehandelten Atomdeal zu torpedieren. Hätte Trump das nicht getan, wäre Iran nicht in die jetzigen, gewaltigen Probleme geraten. Dann hätte die Verschwörungs-Allianz zwischen den Kräften um die Pasdaran und um die sich religiös rechtfertigenden Hardliner keine oder fast keine Chance gehabt, moderate Kandidaten für die Nachfolge Ruhanis auszuschliessen. Hätte, hätten…
Was ist für die nähere Zukunft zu erwarten? Ebrahim Raissi (abhängig von Ayatollah Khamenei, der in allen Belangen das letzte Wort hat) erklärte, er werde den sogenannten Atomdeal respektieren, sofern alle Sanktionen gegen Iran aufgehoben würden. Nun verhandelt man in Wien schon mehr als zwei Monate lang, ein positiver Ausgang ist bisher nicht erkennbar. Es ist schwer vorstellbar, dass US-Präsident Biden sich verpflichten könnte, alle Sanktionen zu beenden (in seiner Funktion kann er das übrigens nicht vollumfänglich – Sanktionen, welche vom Senat beschlossen wurden, müssten auch wieder vom Senat aufgehoben werden). Und von iranischer Seite aus gibt es offenkundig keine Bereitschaft, auf irgendwelche Kompromisse einzugehen. Vor dem Ende der Amtszeit Ruhanis gab es da und dort noch die Illusion, Iran könnte sich flexibel zeigen – mit dem Amtsbeginn Raissis schwinden solche Hoffnungen.
Oder: es geschähe doch noch ein Wunder…