Daniela Gschweng für die Online-Zeitung INFOsperber
Wie Sand am Meer» heisst es. Gemeint ist etwas, was in scheinbar unendlichen Mengen vorhanden ist. Gerade für Sand am Meer ist das ein Irrtum. Nach Wasser ist Meeres- und Flusssand der wichtigste Rohstoff der Welt. Ohne Sand gäbe es keinen Asphalt und keinen Beton. Wüstensand ist als Baustoff nicht geeignet, deshalb importieren sogar Länder wie Saudi-Arabien Sand.
Sand ist ein einträgliches Geschäft. Jeder Mensch auf dem Planeten verbraucht pro Tag umgerechnet etwa 18 Kilogramm davon. Um den Hunger der Bauindustrie zu befriedigen, wird Sand weltweit in grossen Mengen abgebaut. Umwelt und Bevölkerung werden dabei oft nicht berücksichtigt, das Gesetz nicht eingehalten.
Ganze Strände und Flussmündungen werden abtransportiert, oft illegal und manchmal buchstäblich über Nacht. Das System läuft in einigen Ländern nach dem Prinzip «wo eine Nachfrage ist, ist auch ein Angebot» und ist eher kleinteilig organisiert. In anderen Ländern haben sich kriminelle Strukturen gebildet. Politiker, Behörden und Polizei werden hemmungslos bestochen, Gegner eingeschüchtert. Unter der Sand-Mafia leiden vor allem Marokko, einige andere afrikanische Länder und Indien. Ausserhalb des Landes wird darüber selten berichtet, innerhalb Indiens ist es oft zu gefährlich.
Nur wenige wollen darüber reden
Eine der wenigen Journalisten und Journalistinnen, die sich des Themas annehmen, ist Sandhya Ravishankar. Die Freelancerin, die im Chennai im Bundesstaat Tamil Nadu lebt, ist eine mutige Frau. 2013 publizierte sie den ersten Artikel über Sanddiebstahl. «Innerhalb von ein oder zwei Stunden wurde eine Verleumdungsklage gegen die Zeitung eingereicht», erinnert sie sich. Solche Klagen halten die meisten Medien davon ab, zu illegalem Sandabbau zu publizieren. Das Thema sei «eine Bombe», sagt die Journalistin.
Sechs weitere Artikel Ravishankars wollte niemand veröffentlichen. Im Januar 2017 erschienen mehrere Texte in «The Wire». Seit ihre Telefonnummer in den Sozialen Medien veröffentlicht wurde, bekommt Ravishankar Mord- und Vergewaltigungsdrohungen, sie wird von Detektiven verfolgt und muss sich mit Korruptionsvorwürfen auseinandersetzen. 2018 sabotierten Unbekannte ihr Motorrad. Gegen sie sind mehrere Verleumdungsklagen offen.
Ravishankar habe eine persönliche Abneigung gegen das Unternehmen, hat eines der Unternehmen, über die sie geschrieben hat, öffentlich festhalten lassen. In die Gegend, in der sie recherchiert hat, ist sie nie zurückgekehrt, weil es zu gefährlich ist. Wahrscheinlich würde sie dort ohnehin niemanden mehr finden, der keine Angst hat, sich über Sand zu äussern.
Sand – ein tödliches Thema
Wer das übertrieben findet, mache sich ein Bild, was mit anderen geschehen ist, die das sensible Thema anfassten: Am 1. Juni 2015 wurde der indische Journalist Jagendra Singh in ein Krankenhaus in Shahjahanpur im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh eingeliefert. Mehr als 50 Prozent seiner Körperoberfläche waren verbrannt. «Was war der Grund, mich zu töten?», fragte er in einem Video, das im Krankenhaus aufgenommen wurde. «Sie haben Benzin über mich gegossen. Sie sprangen über die Mauer, um reinzukommen. Wenn sie es gewollt hätten, hätten sie mich stattdessen verhaften können».
Sieben Tage später starb der 46-Jährige an seinen Verletzungen. Ein Suizid, sagte die lokale Polizei, die nur Stunden vor dem Ereignis bei ihm zuhause war. Singhs Familie war anderer Meinung. Singh war schon vorher bedroht und angegriffen worden. «Als er anfing, gegen den Minister zu schreiben, fing der Ärger an», sagt seine Witwe.
Am 27. April 2015 hatte Singh den Lokalpolitiker Rammurti Singh Verma auf Facebook erstmals illegaler Machenschaften bezichtigt. Er publizierte einen Text und Bilder zu illegalem Sandabbau am Fluss Garra. Verma besteche die Polizei täglich mit 1’000 Rupien (150 US-Dollar), um dieses Geschäft fortführen zu können, schrieb er. Angreifer, von denen er vermutete, dass sie mit Verma in Verbindung standen, brachen ihm wenig später den Knöchel.
Was vor Singhs Tod wirklich geschehen war, wurde nie aufgeklärt. Freunde und Familie sind überzeugt, dass Vermas Anhänger und die Polizei für seinen Tod verantwortlich sind. Die einzige Augenzeugin verwickelte sich dermassen in Widersprüche, dass ihre Angaben nicht zu gebrauchen waren. Singhs Sohn erstattete erst Anzeige und zog sie dann wieder zurück. Nach Angaben der Familie wechselten zuvor drei Millionen Rupien (45’000 Dollar) in bar die Hände. Seine Tochter Diksha ist damit nicht zufrieden und kämpft darum, dass Singhs Tod als Mord anerkannt wird. Rammurti Singh Verma ist im April 70-jährig gestorben.
Wenige Wochen nach Jagendra Singh verbrannte der Journalist Sandeep Kathari im Bundesstaat Madhya Pradesh, nachdem Kidnapper ihn angezündet hatten. Am 13. Februar 2016 folgte Karun Misra, Büroleiter der Tageszeitung «Jansandesh Times» in Uttar Pradesh. Er starb auf dem Weg ins Spital, nachdem drei bewaffnete Motorradfahrer auf ihn geschossen hatten. 2018 wurde Sandeep Sharma in Madhya Pradesh auf seinem Motorrad von einem LKW angefahren und starb. Zuvor hatte er Drohungen erhalten, man würde ihn «unter einem Lastwagen zerquetschen». Alle drei hatten zuvor über illegalen Sandabbau und dessen Verwicklungen berichtet, listet die Organisation «Forbidden Stories» (siehe Kasten) auf. Die Liste lässt sich erweitern. Beispielsweise um Shubham Mani Tripathi (19 Juni 2020) und einige andere, von denen «Reporters Sans Frontières» berichtet.
ist eine 2017 gegründete Non-Profit-Organisation, die sich darum bemüht, die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten weiterzuführen, denen die Berufsausübung unmöglich gemacht wurde. Sei es von Staaten, Behörden oder kriminellen Organisationen. Die Idee dahinter: Journalisten zum Schweigen zu bringen, soll sich nicht mehr lohnen. Journalistinnen und Journalisten können ihre Arbeit an «Forbidden Stories» schicken, wenn sie befürchten, dass der Urheber seine Recherchen nicht weiterführen kann. Die Organisation kooperiert mit vielen grossen Medien weltweit, wie dem britischen «Guardian» oder der «Süddeutschen Zeitung» und wird von prominenten Journalisten unterstützt. Jagendra Singhs Geschichte ist Teil der Serie «Green Blood», die sich mit Umweltverbrechen beschäftigt.
Solche Geschichten gibt es auch aus Ländern wie Südafrika und Mexiko. Sand hat alles, was eine Ware wertvoll werden lässt: Jeder braucht sie, es gibt nur eine endliche Menge davon und es gibt sie nicht überall.
Dabei verbraucht die Menschheit doppelt so viel Sand, wie auf natürlichem Wege durch Erosion wieder entsteht. Jährlich werden rund 70 Milliarden Dollar mit Sand umgesetzt. Sanddiebstahl sorgt oftmals für politische Konflikte. So beschuldigt zum Beispiel Indonesien Singapur des Sanddiebstahls. Dutzende Inseln seien deshalb bereits verschwunden.
Sandabbau könne Ökosysteme nachhaltig schädigen, warnte das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) schon 2014. Das Abgraben sorgt für Erosion und Versalzung des Grundwassers in Meeresnähe. Es macht Überschwemmungen auch an Flüssen wahrscheinlicher, weil ausgebaggerte Flüsse schneller fliessen, und hat Auswirkungen auf den Grundwasserspiegel.
Der globale Sandklau
Wer Sand stiehlt, gräbt den Anwohnern damit buchstäblich den Boden unter den Füssen weg. Sandentnahme senkt den Wasserspiegel von Flüssen und Seen und lässt ihn an Meeresküsten steigen. Eine sehenswerte Aufstellung mit Satellitenbildern aus aller Welt findet sich bei «Reuters». Aufgewirbelte Sedimente und Lärm beim Abbau machen Wasserlebewesen das Leben schwer bis unmöglich. Pflanzen wie Seegras, die die Küste festigen, gehen verloren. Völlig absurd wird es dann, wenn Sand, der an einem Strand der Welt abgegraben wurde, an anderer Stelle dazu verwendet wird, die Küste zu verstärken.
Einige Staaten regulieren oder besteuern den Sandabbau – mit unterschiedlichem Erfolg. In Indien hatte die Begrenzung einer vorher frei verfügbaren Ressource dramatische Folgen. Schon 2013 schränkte beispielsweise Tamil Nadu den Abbau ein und kündigte Kontrollen an. Die Branche wanderte zum Teil in die Illegalität. Von 2013 bis 2016 exportierten private Unternehmen mehr als zwei Millionen Tonnen.
Ein anderer Grund ist die Konzentration des Handels auf einige wenige. «85 bis 90 Prozent» des legalen und illegalen Sandabbaus in Tamil Nadu sei in der Hand nur einer Familie, sagt Ravishankar. Auch der globale Handel wird bestimmt von einem halben Dutzend multinationaler Konzerne, darunter Cemex, Heidelberger und Lafarge Holcim.
Kaum Daten zu einer der wichtigsten globalen Ressourcen
Die Daten, die es zum Handel mit Sand gibt, weisen etliche Lücken auf. So hat Singapur in den letzten Jahrzehnten wohl hunderte Millionen Tonnen illegal importiert. In anderen Ländern ist nicht klar, wo Sand abgebaut wird und wo er verwendet wird. Neben den schnellwachsenden Städten Asiens brauchen europäische Länder sowie Nordamerika, vor allem Kanada, viel Sand. Da es kein globales Monitoring gibt, schlägt die UNEP vor, die globale Zementproduktion als Massstab zu verwenden, wo China, Indien und die USA führend sind.
Um weiteren Schaden zu verhindern, ist es wichtig zu wissen, wo Sand herkommt, damit gestohlener Sand gar nicht erst in den Handel gelangt. Wer denkt, dass ein Sandkorn aussieht wie das andere, irrt sich übrigens. Es gibt einige Möglichkeiten, die Herkunft von Sand festzustellen. Forschende in den Niederlanden haben zum Beispiel eine Methode gefunden, die akustische Eigenschaften identifiziert, wenn man ihn in Säure auflöst.
Die UNEP appelliert nicht nur an sandexportierende Länder, sondern auch an die Importeure und Verwender: Sand sei ein knapper Rohstoff und müsse nachhaltig eingesetzt werden. Das heisst: Sand sparen am Bau, in Technologie und Produktion. Inwieweit das möglich ist und welchen Effekt es hat, ist noch unklar. Eine andere Möglichkeit wäre Recycling, vor allem von Glas und Baumaterialien. Dessen Umfang würde aber nicht ausreichen, um die globale Sandbilanz wesentlich zu verschieben.
Mögliche Alternative: Bauen mit Wüstensand
Hilfe bringen könnte auch eine technologische Innovation, die es möglich macht, Wüstensand zum Bauen zu verwenden. Dieser sei zum Bauen ungeeignet, weil er zu rund sei, dachte man bisher. Forschende aus Hannover fanden, das sei falsch. Es liege daran, dass er zu fein sei.
Münchner Ingenieure kamen auf die Idee, Wüstensand noch feiner zu mahlen und danach zu einer Art Pellets zu verkleben, damit sich damit bauen lässt. Andere versuchten, mit bakterieller Hilfe eine Art Ziegel daraus zu machen. Für Länder mit grossen Wüstensandvorkommen könnten sich solche Ansätze lohnen, weil Sand wegen seines Gewichts teuer zu transportieren ist. Wüstensand muss auch nicht wie Meeressand vor der Verwendung entsalzt werden, damit der Bewehrungsstahl nicht rostet.