PRO ASYL und Refugee Support Aegean (RSA) warnen davor, dass das Recht auf Asyl und die Flüchtlingskonvention von 1951 in Griechenland – mit aktiver Unterstützung der Europäischen Union – großen Teils außer Kraft gesetzt wird. Während Europa das 70-jährige Bestehen der Genfer Flüchtlingskonvention begeht, werden Versuche unternommen, deren Grundprinzipien zu verletzen.
Griechenland erklärt die Türkei zum sicheren Drittstaat für Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, Bangladesch und Somalia. Seit dem 7. Juni 2021 werden Asylanträge von Antragsstellern aus den genannten fünf Ländern, so sie noch keine Anhörung hatten, lediglich in Bezug auf die Türkei geprüft. Dies geschieht unabhängig davon, ob die Einreise nach Griechenland über die See- oder die Landgrenze erfolgt ist. Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) hat in den vergangenen Tagen bereits Sachbearbeiter*innen in dem neuen Asylregime geschult.
Die Einstufung der Türkei als sicherer Drittstaat hat große politische Bedeutung und ist Teil der Abschottungslogik des toxischen EU-Türkei-Deals. Die Entscheidung demontiert im Wesentlichen die minimalen Sicherheitsvorkehrungen des maroden griechischen Asylsystems und gefährdet Tausende von Schutzsuchenden in eklatanter Missachtung grundlegender rechtsstaatlicher Prinzipien. Im Jahr 2020 stammen zwei von drei Asylsuchenden in Griechenland aus einem der fünf aufgeführten Länder (66 Prozent). 77 Prozent aller Menschen, denen im gleichen Zeitraum in Griechenland internationaler Schutz gewährt wurde, stammen aus einem der aufgeführten Länder.
Fehlender Flüchtlingsschutz in Griechenland wird drastische Konsequenzen haben
Zehntausende Menschen, Familien, Männer, Frauen und unbegleitete Kinder werden dem Risiko des Refoulement ausgesetzt sein. Sie sind gefangen in der Hoffnungslosigkeit auf den Inseln und dem Festland, in Haft, ohne Zugang zu Arbeit, Unterbringung und staatlicher Unterstützung. Die Entscheidung bringt eine weitere Generation von „abgelehnten“ Menschen hervor, die am Rande der Gesellschaft ohne Dokumente und Rechte leben. Dies eröffnet Schmugglernetzwerken gute Profite und befeuert Ausbeutung auf allen Ebenen.
Jenseits der unmittelbaren Auswirkungen auf das Leben von Geflüchteten wird die Entscheidung auch einen Vorwand für den Rückzug der Regierung aus grundlegenden Maßnahmen zum Schutz von Flüchtlingen und zur Gewährleistung ihres Zugangs zu Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Bildung und Integration bilden. Durch den gemeinsamen Ministerialbeschluss 42799/7–6‑2021 wird Griechenland erneut zu einem institutionellen Versuchslabor flüchtlingsfeindlicher Politik. Es stellt sich politisch und institutionell auf die Seite der ungarischen Regierung, die als erste in Europa durch ähnliche Beschlüsse eine konkrete flüchtlingsfeindliche Politik vorantrieb, die von internationalen und EU-Institutionen als menschenrechtswidrig verurteilt wurde.
Weiterwanderung anerkannter Flüchtlinge: Griechenland unter Druck
Derweil gewähren die zuständigen EU-Institutionen und die Mitgliedsstaaten der griechischen Regierung eine „Carte blanche“. Es ist offensichtlich im Interesse der Staaten Europas, dass Griechenland die Ankunft von Flüchtlingen in der EU „vor Ort managt“ – mit militärischen Mitteln und unter Anwendung von Gewalt und illegalen Pushbacks – statt Schutz zu gewähren und EU-weit Verantwortung für die Flüchtlingsaufnahme zu übernehmen.
Die Entscheidung kommt nur wenige Tage, nachdem sich Deutschland, Frankreich und vier weitere europäische Regierungen am 1. Juni 2021 mit einem Brief an die Kommission gewandt haben. In diesem prangerten sie die „Sekundärbewegungen“ von anerkannten Flüchtlingen mit Reisedokument aus Griechenland scharf an und drängten auf Maßnahmen, die Abschiebung dieser Gruppe zu ermöglichen. Am 4. Juni 2021 wies die griechische Regierung die Vorwürfe des „eklatanten Missbrauchs von Reisedokumenten für Flüchtlinge“ zurück und erinnerte daran, dass die Ausstellung von Reisedokumenten eine Pflicht nach internationalem und EU-Recht sei.
Griechenland macht aus schutzbedürftigen Flüchtlingen Statuslose und Abschiebekandidat*innen
Nur drei Tage später bringt der gemeinsame Ministerialbeschluss die vollständige Demontage des griechischen Asylsystems. Mit einem einzigen Trick versucht Griechenland, seine Verpflichtung, Asylanträge von Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan, Somalia, Pakistan und Bangladesch inhaltlich zu prüfen, zu umgehen – im krassen Widerspruch zum Rechtstaat, zur Verfassung und zu internationalen Verpflichtungen. Das vorgelegte Verfahren verstößt auch gegen EU-Recht. Der Beschluss erklärt die Türkei als sicher, obwohl sie es offensichtlich nicht ist, um Flüchtlinge aus dem Asylverfahren zu drängen. Mit der Ablehnung ihrer Asylanträge als unzulässig werden aus schutzbedürftigen Flüchtlingen aus den genannten Ländern Abschiebekandidat*innen in die Türkei.
Griechenland erklärt die Türkei einseitig zu einem sicheren Drittland für Flüchtlinge während
– die Türkei nicht in vollem Umfang an die Konvention von 1951 und das Flüchtlingsprotokoll von 1967 gebunden ist, da sie ihre Ratifizierung für außereuropäische Asylbewerber geografisch beschränkt hält. Die Türkei bietet ihnen nur einen befristeten Status, der in der Praxis kaum Schutz bietet. Dementsprechend fallen außereuropäische Flüchtlinge – in diesem Fall Staatsangehörige aus Syrien, Afghanistan, Somalia, Pakistan und Bangladesch, die in der griechischen Entscheidung als „Rückkehrer*innen“ definiert werden – nicht unter einen internationalen Schutzstatus nach der Genfer Konvention.
– offizielle Berichte und die ständige Rechtsprechung internationaler Gerichte und Gremien systematische und langjährige eklatante Verletzungen der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei belegen, die von der griechischen Regierung und der Mehrheit der europäischen Länder angeprangert werden: Folter und unmenschliche und erniedrigende Behandlung, Fehlen einer unabhängigen und unparteiischen Justiz, politische Willkür, Straflosigkeit, Freiheitsberaubung, Entführungen und so weiter.
– die Türkei Menschenrechtsverteidiger verfolgt, offene militärische Fronten mit Minderheiten hat, in Syrien einmarschiert ist und zur Zwangsvertreibung beigetragen hat.
Forderungen von Refugee Support Aegean und PRO ASYL
Refugee Support Aegean (RSA) und PRO ASYL fordern die griechische Regierung auf, den Gemeinsamen Ministerialbeschluss 42799/7–6‑2021 zurückzuziehen, da er gegen grundlegende Prinzipien des Völker‑, Verfassungs- und EU-Rechts verstößt.
RSA und PRO ASYL fordern die zuständigen internationalen Organisationen und Institutionen, einschließlich der EU-Institutionen, auf, sich öffentlich zu den Risiken der Verletzung der Rechte von Tausenden von Flüchtlingen aufgrund der Umsetzung des genannten Beschlusses zu positionieren.
RSA und PRO ASYL unterstützen die griechische Regierungsposition, dass ein gemeinsames europäisches Asylsystem auch beinhalten muss, dass die Mitgliedstaaten die Statusentscheidungen der jeweils anderen voll anerkennen und dass anerkannte Flüchtlinge die Freizügigkeit wie EU-Bürger genießen.