Zwei der größten sozialen Bewegungen in Amerika haben im vergangenen Jahr außergewöhnliche und vielversprechende soziale Ereignisse angestoßen. Beide sind berühmt für die Radikalität und Kohärenz ihres zivilen Widerstands und ihre moralische und faktische Entschlossenheit. Auch in Kolumbien erstarkt gerade eine breite Mobilisierung, die umfassende gesellschaftliche Veränderungen fordert. Nähern wir uns den Ereignissen mit einem ehrfürchtigen und zugleich neugierigen Blick, um von den jüngsten Widerstandsbewegungen zu lernen.
Friedlicher ziviler Widerstand: die Streik-Bewegung in Kolumbien
Die kolumbianische Universidad de la Amazonía berichtete als erste von der breiten sozialen Erhebung, die sich selbst als „friedlicher ziviler Widerstand“ begreift und sich auf alle Bereiche des Landes erstreckt. Die klassenübergreifende Bewegung verbindet verschiedene Identitäten und zivilgesellschaftliche Organisationen. Kennzeichnend für den „nationalen Streik“ sind Verweigerung, radikale Positionierung und ziviler Ungehorsam. Der Begriff „Streik“ mag Assoziationen hervorrufen, die nicht recht zu den Ereignissen passen wollen. Denn es geht nicht um Stillstand, sondern um Voranschreiten mit Riesenschritten, um die ersehnten Ziele zu erreichen: Gerechtigkeit, Würde und Frieden. Natürlich passiert auch viel Schreckliches, und natürlich ist auch Angst im Spiel angesichts der brutalen Unterdrückung durch die Regierung, der außergerichtlichen Hinrichtungen, dem Verschwinden von Personen und der existenziellen Not, von der das ganze Land betroffen ist. Aber noch größer ist die Hoffnung fast der ganzen Bevölkerung, die sich mit tatkräftiger Entschlossenheit den öffentlichen Raum zurückgeholt hat.
BLM: Rassismus und Klassismus von Grund auf bekämpfen
Im Prozess um den Tod George Floyds erklärten die elf Geschworenen den Polizisten Derek Chauvin einstimmig für schuldig ‑ ein „historisch einzigartiges Urteil“ für den „gewalttätigen Normalzustand“, den etliche Communities Tag für Tag erleben: in Form von Missbrauch, brutaler militärischer Gewalt, die ungestraft bleibt und natürlich im systematischen Rassismus gegenüber Afroamerikaner*innen und anderen Minderheiten, verbreitet und potenziert in den sozialen Medien, bestätigt durch unzählige Augenzeugenberichte, Fotos und Videos, die immer größere Verbreitung in der Öffentlichkeit finden, aber auch durch die Arbeiten professioneller Filmemacher*innen. Besonders hervorheben möchten wir „Der 13.” von Ava Du Vernay, die auch bei “Selma”, einem Spielfilm über Martin Luther King und seinen Kampf für Bürgerrechte, Regie führte.
Die Verurteilung Derek Chauvins markiert einen Wendepunkt
Zwar ändert sich durch dieses außergewöhnliche Urteil weder das System noch die Rechtsprechung, dennoch ist es ein wichtiger Schritt in Richtung eines unverzichtbaren und dringenden Wandels. Es ist ein Anfang, kein Sprint über die Ziellinie, und doch: Die breite Unterstützung, die wachsende Welle der Empörung, der Widerstand und die unerwartete Neuverhandlung der Machtfrage geben Anlass zu echter Hoffnung, die über substanzlose Träumereien hinausgeht. Die aus etlichen sozialen Organisationen, Kollektiven und Einzelpersonen bestehende Black Lives Matter-Bewegung fungierte als Wegbereiterin für die Verurteilung Chauvins. Auf Gleichberechtigung beruhend und ohne Personenkult, dezentral und gewaltfrei organisiert, hat Black Lives Matter den brutalen Rassismus, das Prinzip der „weißen Vorherrschaft“ und den strukturellen Klassismus der Gesellschaft und des nordamerikanischen Staats – national wie international – mit einer enormen Klarheit und Legitimität öffentlich entlarvt und deutlich gemacht, dass dieses Land nicht nur ein Problem mit Rassismus hat, sondern auch mit Klassen, mit Armut und mit sozialer Ausgrenzung.
Entmenschlichung: ein Lernziel der Polizeiausbildung
Was die aktuellen sozialen Bewegungen gemeinsam haben: Sie sind strategisch wie taktisch ausgesprochen einfallsreich und vielfältig, machen in Foren, Medien und öffentlichen Diskussionen auf sich aufmerksam, organisieren in öffentlichen Räumen große Protestaktionen, Demos und Kundgebungen, Boykotte und zivilen Ungehorsam wie Nichtachtung der Ausgangssperre. Dabei wird immer versucht, möglichst viele Menschen unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft und mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen für die Aktionen zusammenzubringen, die oft symbolischen und festlichen Charakter haben, und Provokationen durch gewalttätige Gruppen und der militärisch aufgerüsteten Polizei möglichst aus dem Weg zu gehen. Ziel ist es, etwas gegen die Terrorisierung der Bevölkerung zu unternehmen und die öffentliche Aufmerksamkeit auf das menschenverachtende Verhalten der Sicherheitskräfte gegenüber den schwächsten Gliedern der Gesellschaft zu richten. Parallel begann die Bewegung, neue Ansätze für das Bildungswesen, die Justiz und die Politik im allgemeinen zu entwickeln, um die Grundlagen des institutionellen, strukturellen und systematischen Rassismus, Klassismus und politischer Gewalt zu bekämpfen und für die Demilitarisierung der Polizei zu streiten: Position zu beziehen gegen militärische Aufrüstung und das aggressive Auftreten auf den Straßen und in den Vierteln, das die Bewohner*innen zu „Feinden und Kriegszielen“ erklärt. Ein weiterer Kernpunkt der Kritik: der entmenschlichende Drill der Polizeiausbildung, der den jeweiligen Zweck völlig von den Mitteln abkoppelt. Die Argumente, die Chauvins Anwalt im Prozess vorbrachte, um seinen Mandanten zu verteidigen, sind exemplarisch für den Prozess der Entmenschlichung, den Polizist*innen während der Ausbildung durchlaufen und die dazu führen, dass fertig ausgebildete Polizist*innen am Ende nicht dazu in der Lage sind zuzuhören –aus Misstrauen oder rassistischen Motiven –, nicht einmal dann, wenn ein anderer Mensch sagt: „Ich kann nicht atmen“. Entsprechend argumentierte sein Verteidiger, Chauvins Handeln sei eine „rechtlich legitimierte Form der Gewaltausübung“, ein „angemessener Strafverfolgungsstandard“ und „keine unrechtmäßige Aggression“. Chauvin sei ein „vernünftiger Polizist“. Unterm Strich bedeutet das, ein Psychopath und ein vernünftiger Polizist, der die Regeln des Staates und des Systems vollständig befolgt, sind quasi ein und dasselbe.
Was hätte man tun können, um Floyds Tod zu verhindern?
Die damals 17-jährige Afroamerikanerin Darnella Frazier filmte neun Minuten lang die Ermordung George Floyds mit ihrem Handy. Ihr Telefon nutzte sie als „gewaltfreie Waffe“, um „die Wahrheit zu dokumentieren“, die Täter zu entlarven und das Opfer zu entlasten. Sie stellte den Film ins Netz und brachte damit eine internationale Welle der Empörung ins Rollen. Was jedoch hätte man tun können, um Chauvin zu bremsen? Das Filmen und Veröffentlichen waren notwendig zur Offenlegung der polizeilichen Gewalt. Aufgehalten wurde die neun Minuten lange Ermordung damit nicht. Wie kann eine Zivilgesellschaft „dagegenhalten“, statt angesichts der Gewalt von Autoritäten immer machtloser zu werden? Sicher ist Angst ein Faktor, der uns vom Einzugreifen abhält, aber es ist wichtig, nicht in lähmenden Schrecken zu verfallen. Kontrollierte Angst hilft zu reflektieren, um kollektiv sogar besser zu handeln, Vielleicht könnte man sich für die nächste Gelegenheit überlegen, wie man nach den eigenen moralischen Überzeugungen handeln und sich, ohne weitere Tote zu riskieren, gewaltfrei, aber entschlossen physisch einmischen kann, beispielsweise indem man sich sofort möglichst dicht neben das Opfer stellt und laut „Hört auf!“ ruft, oder indem man die Polizei einkreist und sie anschreit, dass sie aufhören sollen und dass gefilmt wird. Es geht darum, sich den Täter*innen irgendwie gewaltfrei zu nähern, sie herauszufordern, um eine Reaktion zu provozieren und ihnen bewusst zu machen, was eigentlich gerade geschieht in dieser von ihnen geschaffenen „Blase“, die sie wie ein Sicherungsfeld um sich herum geschaffen haben. Möglich, dass die Reaktion der Polizei gefährlich und gewalttätig ausfällt, aber darin läge vielleicht die Chance, als Kollektiv ein Leben zu retten.
Es geht nicht darum, anderen vorzuschreiben, was sie tun sollen, zumal auch kein Patentrezept existiert. Es ist ein Versuch, laut darüber nachzudenken, wie die Wehrlosigkeit der Gesellschaft verringert werden kann, ohne das „Realitätsprinzip“ außer Acht zu lassen, und inwiefern eine moralische Identität des gewaltfreien Widerstands konkretes Handeln erfordert, sofern ein Spielraum vorhanden ist. Die Tat an George Floyd war keine paramilitärische oder außergerichtliche Hinrichtung, denn es gab einen, wenn auch minimalen, rechtlichen, institutionellen Rahmen, und es wurde in aller Öffentlichkeit gehandelt. In so einer Situation muss man also irgendwie versuchen, kollektiv zu der gewalttätigen Autorität durchzudringen und sie mit ihrem Vorgehen zu konfrontieren.
Widerstand: Der zapatistische Berg, der Kurs auf Europa nimmt
So paradox es auch scheinen mag: In einer Zeit, in der fast die gesamte Welt paralysiert ist angesichts der Pandemie, durchbricht die zapatistische Bewegung wieder einmal die Grenzen und kreiert ihren ganz eigenen Weg des gesellschaftlichen Widerstands. Bewohner*innen des Dschungels sind zu einer achtwöchigen umgekehrten Eroberungstour aufgebrochen. Das Segelschiff „La Montaña“ (der Berg) wird sie von der Islas Mujeres in Mexiko nach Vigo in Galizien bringen, wo diese erste Delegation im Juni mit weiteren per Flugzeug angereisten Vertreter*innen zusammentreffen wird, um sich „von gleich zu gleich“ und „mit gleichgesinnten“ Aktivist*innen, Widerstandsgruppen und Organisationen aus rund 30 europäischen Ländern zusammenzusetzen. Sie ind verbunden durch Allianzen, Koalitionen und Solidaritätsbewegungen, die in fast 30 Jahren des internationalen Zapatismus entstanden sind und ihren Fokus auf die Mobilisierung „von unten“, „von den Ausgeschlossenen“, vom „sozialen Kampf ausgehend“ legen.
Die Botschaft der Zapatist*innen ist international und nicht an das Heute gebunden
Welche Ergebnisse aus der kollektiven Reflektion, dem gegenseitigen Lernen und der Allianz der internationalen Kämpfe für einen grundlegenden Wandel des kapitalistischen globalisierten Systems hervorgehen, wird man sehen, aber es besteht definitiv Hoffnung, denn es gibt diesen strategischen Ansatz, der uns ermutigt, nicht nachzulassen und weiterzukämpfen. Fast alle Bewegungen und ihre Aktivist*innen sind in einem regionalen Kollektiv, einem Dorf bzw. einer lokalen Community verortet, und doch ist ihr Kampf universell und ihre Botschaft international und nicht an das Heute gebunden. Hier liegen die Wurzel und die Inspiration für die „andere Globalisierung“, paradoxerweise getragen von den Vertreter*innen der „Globalisierungsphobie“.
Der Zapatismus hat von jeher Humor und das Paradoxe als Waffe des sozialen Kampfes eingesetzt: „Wir bedecken unsere Gesichter, damit sie uns sehen. Wir benutzen Gewehre in der Hoffnung, dass wir sie nicht brauchen, wir reisen auf einem Berg auf dem Seeweg. Wir bewegen uns in einer Zeit, in der die Welt aufgefordert ist, zu Hause zu bleiben. Wo das System uns auffordert, uns mit ihren tödlichen Fehlern abzufinden, leisten wir Widerstand“.
Übersetzung: Sezer Yasar