Zu einem landesweiten Generalstreik gegen die neoliberalen Reformen der Regierung von Iván Duque hatten am 28. April kolumbianische Gewerkschaften, soziale und indigene Organisationen sowie Studierende aufgerufen. Anlass war ein Gesetzesvorschlag zur Steuerreform. Auch nach der Rücknahme des Gesetzes und brutaler Repression gegen die Streikenden, mit bisher fast 40 Todesopfern und mehr als 470 Verschwundenen in nur einer Woche, halten die Proteste unvermindert an.
„Wenn ein Volk mitten in einer Pandemie auf die Straße geht und demonstriert, ist die Regierung gefährlicher als das Virus“, war eines der vielen Mottos des Streiks, der am 28. April mit einer symbolträchtigen Aktion begann: Um sechs Uhr morgens stürzten indigene Aktivist*innen die Statue des spanischen Eroberers Sebastián de Belalcázar. Die Wut der Streikenden entzündete sich vor allem an einer geplanten Erhöhung der Mehrwertsteuer auf die Preise der öffentlichen Energie- und Wasserversorgung sowie der Produkte des täglichen Bedarfs, wie Mehl, Salz, Zucker, Eier und Benzin. Dies hätte dazu geführt, dass sich große Teile der Bevölkerung mindestens eine der täglichen Mahlzeiten nicht mehr hätten leisten können. Darüber hinaus sollten ab 2022 monatliche Einkommen von mehr als 2,4 Millionen Pesos (umgerechnet etwa 630 US-Dollar) besteuert werden. „Die Wirtschaft ist in der Krise und trotzdem will die Regierung den Menschen der Mittel- und Unterschicht mehr Steuern aufbürden. Natürlich sind wir besorgt und entrüstet“, erklärt Ferney Darío Jaramillo, Gewerkschafter und Mitarbeiter der Escuela Nacional Sindical die Gründe für die Proteste. „Aber wir müssen auch auf die Straße gehen, um bessere Maßnahmen gegen die Auswirkungen der Pandemie zu fordern. Die Regierung hat den am meisten Benachteiligten nur 50 Dollar im Monat gegeben und die Subventionen für die Unternehmen waren nicht ausreichend, um die Beschäftigung zu erhalten. Es gibt etwa 3,6 Millionen Arbeitslose.“
Noch mehr Steuern in der Krise
Doch die Menschen gehen nicht nur wegen der neoliberalen Reformen der Regierung von Iván Duque auf die Straße. Sie protestieren auch gegen die Massaker und Morde an sozialen Aktivist*innen und Gewerkschafter*innen, die in der Pandemie noch zugenommen haben. „Wir haben eine Pandemie, die schlecht gemanagt wurde, die mehr als 70.000 Tote verschuldet hat. Außerdem wurden in weniger als zwei Jahren mehr als 200 Aktivist*innen umgebracht“, sagte Diego Agudelo García, Gewerkschafter der Föderation der Erzieher*innen (FECODE) aus Pereira. Seit Jahresbeginn zählt die Organisation INDEPAZ landesweit 35 Massaker, die von unterschiedlichen, teils schwer zu identifizierenden, bewaffneten Gruppen verübt wurden. In den ersten vier Monaten des Jahres sind laut INDEPAZ 57 Gewerkschafter*innen und Aktivist*innen für Indigenen-, Umwelt- und Bauernrechte sowie 22 ehemalige FARC-Kämpfer*innen getötet worden.
Täglich neue Meldungen von Polizeigewalt
„Wir sind müde von so vielen Ungerechtigkeiten. All die friedlichen Demonstrationen haben nie eine Veränderung bewirkt, also müssen wir jetzt alles niederbrennen. Wir haben alles Recht dazu, denn diese Regierung ist mittelmäßig und absurd, gierig und schmutzig,“ so bringt Mariana, eine Künstlerin aus Medellín, ihre Wut und Verzweiflung zum Ausdruck. Die aktuellen Forderungen der Streikenden schließen sich an die des landesweiten Streiks vom 21. November 2019 an, der unter anderem durch die Weihnachts- und Neujahrsfeiern unterbrochen wurde. Gründe waren schon damals die neoliberalen Reformen, die Korruption und die Kriminalisierung der sozialen Proteste. Einer der traurigen Höhepunkte im Jahr 2020 war der Mord an dem 18-jährigen Dilan Cruz durch die ESMAD, die Aufstandsbekämpfungseinheit der Polizei, am 23. November.
Indigene Aktivist*innen stürzten die Statue des spanischen Eroberers Sebastián de Belalcázar in Cali, Foto: Sebastián Díaz
Auch im Vorfeld des aktuellen Streiks wurde vor der Infiltration der Proteste durch Einheiten der Polizei gewarnt, die sich immer wieder als Randalierende ausgeben, um den Streik zu diskreditieren. So kam es in den Städten Medellín und Bogotá vereinzelt zu Zerstörungen von Bankautomaten. Obwohl die Proteste anfangs friedlich verliefen, verhängten die Bürgermeister*innen von Bogotá und Medellín, Claudia López und Daniel Quintero, eine nächtliche Ausgangssperre. Die Proteste setzten sich jedoch über die nächsten Tage fort, ebenso wie die Gewalt, die von den Staatsorganen ausging. Verlässliche Zahlen sind unter den gegebenen Umständen nur schwer zu erheben. Die unabhängige Organisation Temblores zählt bis zum 6. Mai 934 willkürliche Verhaftungen und elf sexuelle Übergriffe auf Frauen seitens der Polizei. 471 Verschwundene meldetet die unabhängige Menschenrechtsplattform CCEEU nach einer Woche des Protests. Unter den Hashtags #SOSColombia und #NosEstanMatando werden in den sozialen Netzwerken jeden Tag Videos geteilt, die zeigen, wie Polizei und ESMAD wahllos auf Demonstrierende schießen, wobei nicht nur Tränengas, sondern auch scharfe Munition eingesetzt wird.
Temblores schätzt die Zahl der Todesopfer durch Polizeigewalt bis zum 6. Mai auf 37. Besonders betroffen ist die Stadt Cali, hier gingen Polizei und Militär gezielt gegen die Bevölkerung der ärmeren Stadtviertel vor. Berichtet wurde auch von Störungen des Internets, was nicht nur die Kommunikation der Streikenden erschwerte, sondern auch die Veröffentlichung von Bildern der Polizeigewalt. Während dennoch täglich die Meldungen von Polizeigewalt zunehmen, bemüht die Regierung das alte Narrativ des Terrorismus, um die Proteste zu diskreditieren. „Kolumbien steht vor einer terroristischen Bedrohung, kriminelle Organisationen stecken hinter den Gewalttaten, die den friedlichen Protest trüben. Es handelt sich um vorsätzliche Taten, organisiert und finanziert von Dissidentengruppen der FARC und ELN“, verkündete der Verteidigungsminister Diego Molano. Der ehemalige Präsident Álvaro Uribe Vélez twitterte sogar, man solle die Armee gegen die Randalierer einsetzen, was eine Welle der Empörung in den sozialen Netzwerken auslöste und dafür sorgte, dass der Twitter-Account von Uribe kurzzeitig gesperrt wurde.
Immerhin zog Präsident Duque am 2. Mai die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer zurück und einen Tag später trat Finanzminister Alberto Carasquilla zurück. Die Proteste gehen trotzdem weiter. Sie richten sich jetzt vor allem gegen die Gesundheitsreform, die eine weitere Privatisierung des Gesundheitssystems bedeuten würde. Derweil schreitet auch die Militarisierung voran. So wurde der Bürgermeister von Cali abgesetzt und durch den Armeegeneral Eduardo Zapateiro ersetzt. Nun wächst die Angst, dass die Situation erneut in einen bürgerkriegsartigen Zustand umschlagen könnte.