Urs P. Gasche für die Online-Zeitung INFOsperber
«Wahrscheinlich wird die Zahl der von Pestiziden verursachten Krankheiten unterschätzt», erklärte Sitthided Reymond im neusten K-Tipp. Er war 14 Jahre lang in den Kantonsspitälern Genf, Lausanne, Lugano und Sitten als Arzt tätig und führt heute als Neurologe eine Praxis in Sitten.
Bei seinen Walliser Patientinnen und Patienten fiel ihm auf, dass einige schon vor dem 50. Geburtstag an Parkinson erkrankten. Zudem würden überdurchschnittlich viele Menschen an chronischer Müdigkeit, Migräne, Muskelschmerzen oder an nervösen sensorischen Störungen leiden. Viele beklagten sich über den Sprühnebel von Pestiziden in der Nähe ihrer Häuser, wenn Hubschrauber die nahegelegenen Wein- und Obstgärten spritzen.
Weil der Neurologe keine anderen Ursachen für die Symptome fand, liess er das Blut von 33 Patienten auf Pestizide untersuchen. Und siehe da: «Alle Erkrankten waren mit einem regelrechten Cocktail aus giftigen Pestiziden belastet.» Doch der benachrichtigte Kantonsarzt Christian Ambord wollte nicht handeln, sondern erklärte dem K-Tipp: «Die Auswirkungen dieser Substanzen [Pestizide] muss durch wissenschaftliche Studien auf überregionaler oder nationaler Ebene geklärt werden.»
Offensichtlich ist der Walliser Kantonsarzt ungenügend informiert:
- Neue Forschungsergebnisse sehen Pestizide, Lösungs- und Entfettungsmittel als Hauptursache der Parkinson-Krankheit, die sich seit 1990 weltweit stark verbreitet hat.
- Viele Parkinson-Erkrankte wohnten in unmittelbarer Nähe von Gemüseäckern, die mit einem bestimmten Pestizid behandelt wurden. Dass die beiden Pestizide Paraquat und Mancozeb das Risiko für Parkinson erhöhen ist höchstwahrscheinlich. Das jedenfalls zeigt eine von mehreren Studien der Epidemiologin Beate Ritz und anderen Forschern in Kalifornien.
Erst im ab Juli 2021 wird der Verkauf von Macozeb in der EU verboten. In der Schweiz Gehörte Macozeb 2019 noch zu den am meisten verkauften Pestiziden. Paraquat ist in Europa längst verboten, aber Syngenta verkauft es weiterhin in der Dritten Welt. - Kinder von Müttern, die während der Schwangerschaft bis zu drei Kilometer von einem mit Pestiziden gespritzten Feld entfernt wohnten, haben ein um den Faktor 2,5 erhöhtes Risiko, an Krebs zu erkranken. Das zeigt eine Studie vom April 2021.
- Hirntumore bei Kindern kommen gehäuft im Berner Seeland und im Nordes des Kantons Zürich vor, wie eine Forschergruppe der Universität Bern vor zwei Jahren herausfand. Als Co-Ursache werden Pestizide vermutet.
- Wer dem Allround-Pestizid Glyphosat regelmässig ausgesetzt ist, hat ein um 40 Prozent höheres Risiko, am Non-Hodgkin-Lymphom zu erkranken. Das zeigten mehrere wissenschaftliche Studien.
- Ein US-Gericht hat im März 2021 in einem rechtskräftigen Urteil festgestellt, dass Glyphosat Krebskrankheiten verursacht.
Im Jahr 2017 hatte das Staatssekretariat für Wirtschaft in einer Studie empfohlen, die Schweiz solle Daten erfassen, um Zusammenhänge zwischen Pestizidbelastungen und Krankheiten wie Parkinson zu abzuklären. Doch bisher vergeblich.
Freiwillig haben die Konzerne bisher selten auf ein gewinnbringendes Pestizid verzichtet. Normalerweise riskieren sie nicht sehr viel, weil gesundheitliche Langzeitschäden wie Krebserkrankungen nur schwer auf eine einzige Ursache zurückgeführt werden können. Und viele Behörden beschwichtigen allzu leichtfertig, dass «bei vorschriftsgemässer Anwendung» kein Risiko bestehe. Eine solche Anwendung ist in vielen Fällen nicht möglich.
Grosse Pestizid-Hersteller haben schon vor Jahren erkannt, dass die Öffentlichkeit in demokratischen Ländern nicht mehr allzu lange akzeptiert, dass Pestizide, die zum Teil nur schwer abbaubar sind, sich in Böden, Grundwasser und Nahrungsmitteln anhäufen. Deshalb investieren Agrokonzerne grosse Summen, um einzelne DNA-Bausteine von Pflanzen mit einer «Genschere» so zu verändern, dass sie keine Pestizide mehr brauchen. Die Technologien heissen Crispr 2.0 oder Crispr-Cas. Die Industrie lobbyiert zur Zeit dafür, dass diese Methoden gesetzlich nicht als genveränderte Pflanzen behandelt werden.
Urs Niggli, bis 2020 Leiter des Forschungsinstituts für biologischen Landbau in Frick, sieht in diesen Methoden schon seit längerem «ein grosses Potenzial», was bei einem Teil der Bio-Verfechter heftige Reaktionen auslöste.
Falls diese neuartigen Genbearbeitungen Pestizide tatsächlich überflüssig machen könnten, wird es die Opposition dagegen schwer haben.