Amerika vs. China: „Kampf der Kulturen“
Hillary Clinton sagte bekanntlich: „Ich möchte nicht, dass meine Enkel in einer von den Chinesen dominierten Welt leben.“
Während seiner Amtszeit startete Präsident Obama seinen „Pivot to Asia“ („Fokus auf Asien“), indem er 60% der US-Marinemacht auf Stützpunkte in der Umgebung Chinas verlegte, den Vertrag über die Trans-Pazifik-Partnerschaft speziell auf die wirtschaftlichen Isolierung Chinas abzielte, die Luft-See-Schlacht zur offiziellen US-Doktrin machte, um China militärisch einzudämmen, und kühn verkündete, dass es sein Ziel sei, Chinas wirtschaftlichen Aufstieg einzudämmen.
Es überrascht nicht, dass bei China die Alarmglocken läuteten. Der Kalte Krieg sei längst vorbei, Chinas wirtschaftlicher Aufstieg sei ein friedlicher gewesen, es habe keine aggressiven Absichten gegenüber den USA oder irgendjemandem, und vor Obamas „Pivot to Asia“ seien die Beziehungen stabil und die Spannungen gering gewesen, argumentierte China. Solche Einwände aus China wurden jedoch von der US-Führung außer Acht gelassen.
Im Januar 2018 veröffentlichte die Trump-Administration eine neue Nationale Verteidigungsstrategie, in der sie China und Russland als „revisionistische Mächte“ bezeichnete, die eingedämmt werden müssten, und Verteidigungsminister Jim Mattis sagte: „…der Wettbewerb der Großmächte, nicht der Terrorismus, ist jetzt der primäre Fokus der nationalen Sicherheit der USA.“ Googelt man „China“ und „existential threat“ („existenzielle Bedrohung“), erhält man inzwischen weit über sechs Millionen Treffer.
Im Jahr 2019 trat die Trump-Administration aus dem Vertrag über nukleare Mittelstreckenwaffen (INF-Vertrag) aus und öffnete damit die Tür für die USA, nukleare Mittelstreckenwaffen zu entwickeln, um den Anti-Access/Area Denial (A2AD)-Waffensystemen zu begegnen, die China zur Verteidigung seiner Küste einsetzt, begann einen Handelskrieg mit China, verhaftete die Finanzchefin von Chinas größtem Privatunternehmen, Meng Wanzhou von Huawei, rief die „Space Force“, einen neuen Zweig des US-Militärs, ins Leben und begann im Grunde einen zweiten Kalten Krieg, komplett mit einem neuen Raketen-, Raketenabwehr- und Atomwettrüsten. Die amerikanische Seemacht hat sich so positioniert, dass sie in der Lage ist, Chinas wesentliche Handelsrouten im Südchinesischen Meer abzuschneiden. China hat dort mit dem Aufbau seiner eigenen Seemacht und Inselbasen reagiert und es kam zu Konfrontationen. Das „Feiglingsspiel“ und die Verhandlungen mit Nordkorea gehen weiter und weiter. Auch die Spannungen um Taiwan und die wegen Hongkong vorbereiteten Sanktionen erhöhen das Risiko. Amerikanische Strategen sprechen von „Kampf der Kulturen“, „volle Spektrums-Dominanz“, „gewinnbaren Atomkriegen“ und „Gesamtgesellschaft“-Konflikten. China interpretiert das so, dass es die vollständige Zerstörung Chinas bedeutet, und bereitet sich darauf vor, sich zu verteidigen. Während die Spannungen zunehmen, beschleunigt sich ein Wettrüsten in Asien sowohl mit konventionellen als auch mit nuklearen Waffen und Kräften. Die Gefahr, dass ein zweiter Kalter Krieg plötzlich in einen konventionellen, möglicherweise sogar in einen Atomkrieg ausbricht, steigt von Tag zu Tag.
Wie real ist die Gefahr eines Atomkrieges? Daniel Ellsberg, bekannt durch die „Pentagon Papers“, ist ein prominenter Amerikaner mit tiefen Insider-Erfahrungen auf den höchsten Ebenen des US-Militärsystems. Im Jahr 2017 veröffentlichte er das Buch „The Doomsday Machine: Confessions of a Nuclear War Planner“. Darin enthüllt er, dass er nicht nur in die höchsten Ebenen der Vietnamkriegsplanung eingeweiht war, sondern auch in die höchsten Ebenen der Atomkriegsplanung. Er nimmt uns mit von den Planungsräumen zu den Flugplätzen, von denen aus die Bomber gestartet werden sollten, um uns im Detail zu erklären, wie leicht Dinge schief gehen konnten, wie zahlreiche kurzfristige Entscheidungen während des ersten Kalten Krieges tatsächlich stattfanden und wie ein zweiter Kalter Krieg leicht in einer globalen Katastrophe enden könnte. Nuklear ist NICHT „undenkbar“, denn es gibt Menschen auf höchster Ebene, die jeden Tag darüber nachdenken, die detaillierten Pläne und Gegenpläne schmieden, die Waffen jederzeit bereit haben und neue, viel komplexere Waffen und Gegenwaffensysteme entwickeln, während wir sprechen. Die größere Komplexität erhöht das Risiko eines Krieges durch Fehlkalkulation oder aus Versehen; es gibt viel mehr Dinge, die schief gehen können. Außerdem würde jeder nukleare Angriff, der in der Lage wäre, entweder China oder Amerika zu besiegen, auch einen nuklearen Winter auslösen (selbst wenn der Gegner keinen Gegenangriff unternähme), was unabhängig von anderen nuklearen Auswirkungen das Ende der Menschheit bedeuten würde. Dennoch gibt es einen starken parteiübergreifenden Konsens für einen weiteren Kalten Krieg gegen China.
Wie sind wir zu diesem aktuellen Stand der Dinge gekommen?
Der Angst-Faktor
Was ist die eigentliche Ursache für den derzeitigen „Kampf der Kulturen“? Die Antwort ist so einfach wie Hillary Clintons ursprüngliche Aussage: „Ich möchte nicht, dass meine Enkelkinder in einer von den Chinesen dominierten Welt leben.“
Graham Allison, ein ehemaliger stellvertretender US-Verteidigungsminister und Gründungsdekan der Harvard Kennedy School, brachte es im Titel seines 2017 erschienenen Buches „Destined For War: Can America and China Escape Thucydides’s Trap?“ auf den Punkt. Thukydides war ein griechischer Historiker und ehemaliger General, der den katastrophalen Peloponnesischen Krieg, der das antike Griechenland vor zweieinhalbtausend Jahren zerstörte, beobachtete und sagte: “ Es war der Aufstieg Athens und die Angst, die dies Sparta einflößte, die den Krieg unvermeidlich machte.“ Thukydides-Falle ist die klassische Konfrontation zwischen einer etablierten Macht und einer aufsteigenden Macht, die in einem Krieg endet. Allison untersucht sechzehn Fälle in den letzten fünfhundert Jahren, in denen eine aufsteigende Macht von einer etablierten Macht als bedrohlich wahrgenommen wurde, und stellt fest, dass zwölf dieser Rivalitäten in verheerenden Kriegen endeten. Er verdeutlicht sehr detailliert, wie unsere aktuelle Situation mit China mit diesen vergangenen Ereignissen vergleichbar ist.
Aber ist ein Krieg mit China unvermeidlich? Nein. Zwölf von sechzehn Fällen in Graham Allisons Buch endeten in verheerenden Kriegen. Aber vier Fälle nicht. Die Wahrscheinlichkeit für Krieg ist zwar groß, aber Frieden ist möglich. Wie können wir Frieden erlangen? Zunächst müssen wir unserer Angst ins Gesicht sehen und sowohl uns als auch China vollständig verstehen.
China verstehen
Beginnen wir mit den grundlegenden Fakten der chinesischen Geschichte. China ist eine 5.000 Jahre alte Zivilisation, eine, die überlebt hat, während die alten Reiche der Ägypter, Griechen, Römer, Byzantiner, Europäer der Kolonialzeit und andere alle kamen und gingen. Wie konnte China fünftausend Jahre lang überleben, während so viele andere Mächte dies nicht taten?
Die Antwort liegt in den grundlegenden Elementen des chinesischen Denkens, dessen Basis in Chinas drei Hauptschulen des traditionellen Denkens liegt: Konfuzianismus, Taoismus und Buddhismus. Alle diese Denkschulen lehren eine holistische Sicht auf die Welt, die langfristiges Denken und ein Gleichgewicht der Aspekte, den „Mittleren Weg“ zwischen den Extremen, einschließt. Schüler des Tai-Chi und anderer chinesischer Kampfkünste kennen das Konzept von Yin und Yang, die inhärente Existenz von gegensätzlichen Aspekten von allem in der Realität: Männer und Frauen, Tag und Nacht, oben und unten, usw., und die Notwendigkeit, scheinbar gegensätzliche Aspekte auszubalancieren, so dass sie harmonisch zusammenarbeiten und sich gegenseitig ergänzen, anstatt destruktiv aufeinanderzuprallen.
Historisch gesehen hat China in allen Angelegenheiten, auch in Staatsangelegenheiten und Außenbeziehungen, die langfristige Perspektive und die Ausgewogenheit der Aspekte berücksichtigt. So sicherte China, als es stark war, seine Grenzen und inneren Angelegenheiten, aber es übertrieb nicht mit Welteroberungsfeldzügen, wie es andere Reiche taten. Zum Beispiel entwickelte China vor tausend Jahren, während der Song-Dynastie, vierhundert Jahre vor allen anderen, das Schießpulver und wusste, wie man es im Krieg einsetzt. China war eine große Nation mit einer fortgeschrittenen Zivilisation, guten natürlichen Ressourcen, einer großen Bevölkerung und einem Monopol für Schießpulver. Dennoch unternahm es keinen Versuch, die Welt zu erobern, anders als der Westen, der Hunderte von Jahren später das Schießpulver entwickelte und während der Kolonialzeit einen Großteil der Welt eroberte. Warum hat China dies nicht getan? Weil es die Eroberung der Welt als eine große Überforderung ansah, die schließlich zu seinem eigenen Untergang führen würde. Tausend Jahre später verdeutlichen die Überreste vergangener Imperien und das Scheitern vieler ehemaliger Kolonialmächte die Weisheit der chinesischen Strategie.
Uns selbst verstehen
Bewusst oder unbewusst sind die Vereinigten Staaten in das Vakuum gefallen, das die untergehenden ehemaligen Kolonialmächte hinterlassen haben, und sind nun überfordert. Darüber hinaus sind die USA in die jahrtausendealte Falle getappt, zu glauben, dass die einzige Möglichkeit, Sicherheit und Wohlstand zu erhalten, darin besteht, einen mittlerweile nicht mehr nachhaltigen Status quo aufrechtzuerhalten oder sogar auszuweiten. Wenn man so weitermacht, ereilt einen unweigerlich das gleiche Schicksal wie alle anderen historischen Imperien, die dies versuchten – Niedergang und Scheitern.
China hat fünftausend Jahre lang überlebt, gerade weil es die natürlichen Grenzen der Macht verstanden hat und es immer vermieden hat, sich selbst zu übersteigern. Das moderne China wird genau das tun, was es in der antiken Vergangenheit immer getan hat: seine eigenen Grenzen und inneren Angelegenheiten sichern und durch den Handel mit dem Rest der Welt über die „Neue Seidenstraße“, die „Belt and Road Initiative“, florieren.
Während eines Großteils der Antike war die Welt in viele Staaten unterschiedlicher Größe aufgeteilt, mit mehreren Machtzentren und keinem einzelnen Staat, der die ganze Welt dominierte. Dies ist eigentlich der natürliche Zustand der Welt. Die Beherrschung der gesamten Welt durch einen einzelnen Staat erfordert einen außerordentlichen Aufwand seitens dieses Staates, der schließlich seine Ressourcen und seine Leute erschöpfen würde. Dies ist in der Tat genau der Punkt, an dem sich die Vereinigten Staaten heute befinden.
Aber anstatt unsere Position realistisch anzupassen, versucht unsere Führung in Washington umso mehr, unsere Dominanz in der Welt nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern sogar noch auszuweiten, indem wir endlose Kriege führen, um Regierungen zu stürzen, mit denen wir nicht einverstanden sind, und anderen Regierungen (sogar unseren Verbündeten) vorzuschreiben, was sie tun dürfen oder nicht. Wie wir im Nahen Osten und anderswo gesehen haben, ist dies zum Scheitern verurteilt.
Warum tun wir das? Einige in Amerika sagen, dass „Wenn wir es ‚ihnen‘ nicht zuerst antun, werden ’sie‘ ‚es‘ uns antun.“ Mit anderen Worten, einige in Amerika glauben, bewusst oder unbewusst, an das „Nullsummenspiel“: entweder bist du der Eroberer, oder du bist der Eroberte. Die Geschichte der westlichen Zivilisation, von den vielen kleinen Königreichen Europas im Mittelalter, die sich gegenseitig bekämpften, über die Kolonialzeit und das „große Spiel der Nationen“ bis hin zu den beiden Weltkriegen und dem Kalten Krieg, bestärken dieses Weltbild und die sogenannten „knallharten Realisten.“ Hillary Clintons Angst vor einer Dominanz Chinas über Amerika ist ein klassisches Beispiel dafür.
Die gesamte Realität verstehen
Aber das war die Sichtweise aller gescheiterten Imperien der Vergangenheit, die zu großer Macht aufstiegen, sie für ein paar hundert Jahre hielten und dann in der Geschichte verschwanden. Es ist nicht die Geschichte Chinas, einer Zivilisation, die sich einfach innerhalb ihrer natürlichen Grenzen hielt, nicht versuchte, die Welt zu beherrschen, und nie unterging.
China versteht die Grenzen der Macht und dass es mit anderen Nationen – besonders mit anderen mächtigen Nationen – kooperativ zusammenarbeiten muss, um seinen eigenen Frieden, seine Sicherheit und seinen Wohlstand aufrechtzuerhalten. Das ist es, was China in der alten Vergangenheit immer getan hat und was es auch heute tun wird. Deshalb sprechen Xi Jinping und andere chinesische Führer von einer „multipolaren Welt“ und der Menschheit als einer „Schicksalsgemeinschaft“. Sie verstehen, dass keine einzelne Nation – weder Amerika noch China – die Welt dominieren kann, und dass wir entweder alle zusammen leben oder alle zusammen sterben.
Amerika kann sich ein Beispiel an China nehmen, uns selbst und unser Land neu ausbalancieren, sich aus endlosen Kriegen zurückziehen, kooperativ mit dem Rest der Welt zusammenarbeiten, Beschränkungen nicht nur unserer, sondern der Macht aller Nationen akzeptieren, durch die Vereinten Nationen und mit anderen Nationen für gegenseitige Belange und gegenseitigen Nutzen arbeiten und mit einer langfristigen Perspektive und einer Ausgewogenheit von Aspekten und Politiken weit in die Zukunft hinein überleben, nicht als Dominator der Welt, sondern als eine der dauerhaft führenden Nationen. Die eigentliche „knallharte Realität“ ist diese: China braucht uns, und wir brauchen China. China weiß das. Die Frage ist: Tun wir das auch?
Frieden, langfristiges Überleben, Wohlstand und eine fortgesetzte Rolle an der Weltspitze sind in unserer Reichweite. Lasst uns danach greifen.
Text von Michael Wong für Pivot to peace, übersetzt aus dem Englischen von Mai Ly Nguyen aus dem ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam. Wir suchen Freiwillige!
Empfohlene Lektüre:
Destined For War: Can America and China Escape Thucydides’s Trap? by Graham Allison, 2017, published by Houghton Mifflin Harcourt, Boston — New York
The Doomsday Machine: Confessions of a Nuclear War Planner. by Daniel Ellsberg, 2017, published by Bloomsbury, New York — London — Oxford — New Delhi — Sydney
China Condensed: 5000 Years of history and culture, by Dr. Ong Siew Chey, 2008, Marshall Cavendish International, Singapore. This is a brief introduction to China’s history and culture for first time readers of the subject.
Eine Zusammenfassung der Nationalen Verteidigungsstrategie 2018: https://dod.defense.gov/Portals/1/Documents/pubs/2018-National-Defense-Strategy-Summary.pdf
Professor Kishore Mahbubani beschreibt Chinas alte Geschichte der Ablehnung globaler imperialer Ambitionen: https://www.youtube.com/watch?v=ixa6ZIk-b6U&feature=youtu.be. Kishore Mahbubani ist ein singapurischer Akademiker und ehemaliger Diplomat, der als ständiger Vertreter Singapurs bei den Vereinten Nationen diente und zwischen Januar 2001 und Mai 2002 die Position des Präsidenten des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen innehatte. Später diente er als Dekan der National University of Singapore (NUS) Lee Kuan Yew School of Public Policy
Ein amerikanischer Hedge-Fonds-Manager mit 34 Jahren Erfahrung in China beschreibt die Verbindung zwischen Chinas Kultur und dem modernen wirtschaftlichen Aufstieg des Landes: https://www.linkedin.com/pulse/looking-back-last-40-years-reforms-china-ray-dalio/
“The Pivot to Asia Was Obama’s Biggest Mistake,” von Captain John Ford, US Army: https://www.japantimes.co.jp/opinion/2017/01/23/commentary/world-commentary/pivot-asia-obamas-biggest-mistake/#.XopmJXJlCUk
Eine große Anzahl ehemaliger hochrangiger US-Diplomaten, Beamter und Wissenschaftler unterzeichnen eine Erklärung, in der sie ein stärkeres diplomatisches Engagement der USA mit China statt einer Konfrontation fordern, und erklären, warum: https://www.washingtonpost.com/opinions/making-china-a-us-enemy-is-counterproductive/2019/07/02/647d49d0-9bfa-11e9-b27f-ed2942f73d70_story.html?noredirect=on&utm_term=.fdf342a07a86
Michael Wong ist der Vizepräsident von Veterans For Peace, Chapter 69, San Francisco, und ein pensionierter Sozialarbeiter mit einem Masterabschluss in Sozialarbeit. Er ist in den Sammelbänden „Veterans of War, Veterans of Peace“, herausgegeben von Maxine Hong Kingston, und „Waging Peace in Vietnam“, herausgegeben von Ron Craver, David Cortright und Barbara Doherty, veröffentlicht. Er trat auch in dem Dokumentarfilm „Sir! No Sir!“ über den Widerstand der GIs gegen den Vietnamkrieg auf.