Ich hab heuer ja schon viele richtig gute Bücher gelesen, aber eigentlich wartete ich bisher noch immer auf meinen absoluten Buchstoffhöhepunkt für das Jahr 2021, und hier ist er nun, noch dazu in Form eines Debütromans aufgetaucht.
Judith Fanto erzählt in zwei Handlungs- und Zeitsträngen die Geschichte der Familie Rosenbaum, beziehungsweise nachdem sie ihren Namen oranjesiert haben, der Van den Bergs, wovon einer vor und in der Nazizeit in Wien spielt und der andere im Holland der heutigen Zeit. Ich liebe Wiener jiddische Familiengeschichten sehr, sie sind teilweise so herrlich witzig, brachial komisch, von einer respektlosen naiven Art, dass es eine Freude ist und dann wieder voller Melancholie, Klugheit und Nachdenklichkeit.
Da ich schon sehr viel Shoa-Literatur durch den Spiegel von vielen Sichtweisen und aus zahlreichen Ländern gelesen habe, interessieren mich mittlerweile die Geschichten um den Holocaust zwar noch immer sehr, viel interessanter finde ich aber die Literatur, die sich mit den Auswirkungen des Genozids auf die Folgegenerationen beschäftigt, und da gibt es heutzutage immer mehr sehr spannenden Stoff darüber. Wahrscheinlich auch, weil die Kriegsgeneration mittlerweile ausstirbt und die Folgegeneration ohnehin noch immer über die Traumata ihrer Eltern nichts wissen will oder sogar nichts weiß. Nun sind zwei Generationen vergangen, man kann die Großeltern nicht mehr durch Veröffentlichungen re-traumatisieren oder beleidigen, die Geschichte ist auch öffentlich einigermaßen aufgearbeitet und viele Enkel und Urenkel können nun mit etwas Abstand auch hinterfragen, was der Holocaust mit den Folgegenerationen gemacht hat. Wie sich die Überlebensstrategien der Großeltern und Urgroßeltern auf die Eltern, Enkel und Urenkel ausgewirkt haben.
Das ist insofern extrem spannend, denn die heutige Beschäftigung von jüngeren Generationen mit der jüdischen Identität haben durch ihren neutralen Blick und der Gnade der späten Geburt durchaus auch Gemeinsamkeiten mit den Problemen von jüdischen Familien, die um die Jahrhundertwende in Wien gelebt haben. Die Schnitzlers, die Freuds und andere integrierte und auch nicht in ihre Herkunftsländer integrierte Familien, wie die chassidischen Juden, trieb schon sehr oft eine Frage um: Sollen wir uns total assimilieren bis zur Aufgabe der Religiosität dem Übertritt zum Katholizismus und der Ablehnung der jüdischen Sitten, oder sollen wir unsere jüdische Identität und Religion offen und abseits der Herkunftsgesellschaft leben, oder sollen wir uns irgendeine Identität dazwischen suchen?
Auch die junge Geertje, die Protagonistin des Romans Viktor, ist mit dieser Frage konfrontiert, über die schon Arthur Schnitzler in einigen Werken sehr interessant philosophiert hat. Ihre Eltern und Großeltern haben ihre jüdische Identität in Holland bis zur Selbstverleugnung aufgegeben, inklusive Übertritt zum katholischen Glauben. Sie haben nicht nur ihren Nachnamen oranjesiert, sondern den Kindern sogar typisch holländische Namen gegeben, damit nicht mal der Verdacht aufkommen könnte, dass es sich um Juden handeln könnte. Scham kennzeichnet alles Jüdische, das ihnen begegnet, zu Hause wird kein Sabbat begangen und alle religiösen und kulturellen Traditionen bis auf ein paar jüdische Speisen werden auch massiv unterdrückt. Im Gegenteil, wenn sich in Mutter Paulinas Gegenwart irgendjemand jüdisch benimmt und seien es nicht mal die Kinder, sondern ein jüdischer Nachbar, dann bekommt die Mutter rote Stressflecken im Gesicht und einen Anfall. Selbstverständlich wird auch von den Großeltern so gut wie nie über die Vergangenheit gesprochen und wenn der Holocaust oder fehlende Verwandte erwähnt werden, wird sehr verklausuliert und indirekt in Metaphern umschrieben, dass sie es nicht geschafft haben, aber nicht wie sie gestorben sind.
Mit dieser Sozialisation hat Geertje nach und nach ein veritables Problem, als sie nach ihrer jüdischen Identität sucht. Als sie an der Uni ihren Kommmilitonten erzählt, dass sie Jüdin ist und in einer kleinen Rebellion gegen das Schweigen zu Hause offiziell ihren Namen in Judith ändert, wird sie von ihren Freunden mit Fragen zu jüdischem Leben bombardiert und muss feststellen, sie weiß von allen am wenigsten, was Jüdischsein bedeutet. Deshalb begibt sie sich durch Bibliotheksrecherchen, heimliches Wühlen in Dokumenten am Speicher der Großeltern und einigen vorsichtigen Fragen in der Familie auf die Suche nach ihrer Herkunft.
Im zweiten Erzählstrang wird das Leben ihrer Ur-Urgroßeltern, Urgroßeltern und Großeltern in Wien aufgerollt, in dem die Familie ein angesehenes großbürgerliches Leben im Stadtteil Währing genoss. Mit viel Humor wird geschildert, wie Geertjes, beziehungsweise Judiths Großvater Felix, seine Frau Trude kennenlernt und sein Lebenskünstler-Luftikus-Bruder Viktor mit seinem besten Freund Bubi und dem Dackel Wiener die Stadt unsicher machen. Das ganze jüdisch-bildungsbürgerliche Ambiente in Wien im Hause Rosenbaum ist sehr gut und höchst vergnüglich geschildert. Viktor, der Namensgeber des Romans, ist das schwarze Schaf der Familie, denn er strawanzt herum, lässt sich treiben, lebt in den Tag hinein, hat keinen ordentlichen Beruf ergriffen, sondern macht nur unterschiedlichste, nicht immer legale Geschäfte und will sich auch nicht länger als drei Verabredungen an irgendeine Frau binden. Vater Anton ist permanent enttäuscht von Viktor. So sagt Viktor von sich selbst:
Ah die Wissenschaft! Nein die heutigen Akademiker wissen sehr viel von sehr wenig. Ich betrachte mich eher als eine Art umgekehrter Professor, der etwas weniger weiß, dafür aber von viel mehr.
Auch Judith kommt in der Gegenwart in Den Haag und Niwegen mit ihrer Identitätsfindung ein bisschen voran, obwohl sie die ganze Familie immer noch Geertje nennt, und will nun auch offiziell einer jüdischen Gemeinschaft beitreten. Während die vorangegangenen Generationen sich möglichst assimilieren wollten und dann auch mussten, um den Holocaust zu überleben, muss Judith nun in Holland hohe Hürden zum Eintritt in die jüdische Gesellschaft überwinden, denn Sie braucht von ihren Eltern und Großeltern einen Judennachweis – eine ganz schön groteske satirische Analogie zur Vergangenheit.
Aber nicht nur satirisch komisch hat dieser Roman extrem viel drauf, später kommen dann viele nachdenkliche, sehr klug analysierte Szenen dazu, beispielsweise als Judith die Familie ihres Freundes Thomas kennenlernt und gravierende grundsätzliche Unterschiede feststellt.
Natürlich – in diesem Haus galten leichte, fröhliche Gesetze. Hier war das Streben nach Glück und Genuss kein Symptom für eine unmoralische Lebenshaltung. Hier tat keiner Buße, weil er etwas überlebt hatte, das anderen zum Verhängnis geworden war. In diesem Haus schien die Sonne, es gab keine Schatten. Mit Schrecken wurde mir bewusst, dass ich bisher in einem Farbnegativ gelebt hatte, in einem unterbelichteten Film, und erst jetzt das wirkliche, das klare und helle Positivbild betreten hatte.
Als sich Judith im Zuge ihres nicht immer angenehmen Findungsprozesses auch mit älteren Holocaustopfern trifft, wird sie plötzlich mit ganz aktuellen Problemen konfrontiert: Wem gehört die Shoa? Dürfen die jüngeren Generationen überhaupt mit den Zeitzeugen mitreden? Sind geflüchtete Überlebende und ihre Nachkommen nur Opfer zweiter und dritter Klasse, da sie nie das Konzentrationslager am eigenen Leib erlebt haben? Das ist wirklich spannend, solche Konfrontationen habe ich in Romanen bisher noch nicht gelesen, finde diese Thematisierung aber außerordentlich wichtig in der jüdischen Community. Aber auch was Judith mit ihren bohrenden berechtigten Fragen bei ihren Eltern anrichtet, lässt sie nicht los, wie ein Dialog mit ihrer Schwester zeugt.
„Sag mir, nehme ich ihnen ihr Leidensmonopol weg? Begehe ich Diebstahl? Ist es das?
„Im Gegenteil. Du verhältst Dich nicht wie ein Dieb, sondern wie ein junger Hund. Was sie von sich abgeworfen haben, bringst du dauernd wieder an. Sie wollen nichts lieber als die Vergangenheit ein für alle Mal begraben, aber du gräbst sie wie ein übermütiger Welpe wieder aus, als ob sie ein saftiger Knochen wäre.“
Je mehr Judith über ihre Vergangenheit herausfindet, desto mehr kommt die Story in Wien und das Naziregime in Fahrt. Sehr detailliert wird geschildert, wie die Stimmung gegen die Juden täglich mehr in der wunderschönen österreichischen Stadt kippt. Die ersten Opfer sind in der Familie Rosenbaum zu beklagen. Viktors Freund Bubi und der Dackel Wiener werden von den Nazis während einer Hausdurchsuchung ermordet. Viktor hat sich auch noch erstmals ernsthaft verliebt, ausgerechnet in eine Nicht-Jüdin, noch dazu in eine Sozialistin, die nichts von Nazi-Philosophie hält. Je weiter die Diktatur fortschreitet, desto mehr wird gewahr, dass das frühere schwarze Schaf der Familie Viktor mit seinen etwas unseriösen Verbindungen am besten die Situation im Griff hat und auch mehrmals als letzter Retter von mehreren Familienmitgliedern in die Bresche springen kann. Am Ende deckt die Judith der Gegenwart die gesamte Vergangenheit der Familie Rosenbaum auf und das gipfelt in einem furiosen Finale. Großartig! Sensationell!
Fazit: Ich bin total begeistert! Viktor ist eine humorvolle, kluge, tiefsinnige, traurige, furchtbare, spannende, lehrreiche Familiengeschichte über Identität und Selbstfindung mit einer gehörigen Portion Geschichte und mit einem überraschenden Finale. Diese jüdische Story hat wirklich alles, sprachlich, inhaltlich und plotmäßig. Und jetzt kommt wirklich der Hammer: Das ist ein Debüt! Ich glaube, noch nie habe ich einen so guten ersten Roman von Irgendjemandem gelesen. Lest ihn!
Viktor von Judith Fanto ist 2021 im Verlag Urachhaus als Hardcover erschienen. Rezension von Awogfli