Aus Furcht, Rechten Zündstoff zu liefern, schweigt die parteipolitische und außerparlamentarische Linke zum Thema Islam. Der „Islamophobie“-Vorwurf soll Kritiker mundtot machen. Es ist an der Zeit, die Zurückhaltung im Umgang mit dem politischen Islam aufzugeben. Galt nicht Religionskritik spätestens mit Voltaire einmal als Selbstverständlichkeit?

Von Helmut Ortner

Die Tat war barbarisch: Im Oktober wurde der 47-jährigen Lehrer Samuel Paty nahe seiner Schule in einem Pariser Vorort auf offener Straße enthauptet. Der Täter: ein junger islamistischer Terrorist. Patys „Verbrechen“: in seiner Unterrichtsstunde zur Meinungsfreiheit hatte er Mohammed-Karikaturen aus der Satirezeitschrift Charlie Hebdo gezeigt. Er wollte Denken lehren, nicht Glauben.

Der Mord löste Entsetzen aus. Präsident Macron hielt danach auf einer Trauerfeier ein Plädoyer für Meinungsfreiheit und verteidigte die religionskritischen Karikaturen und Texte. Dafür bekam er viel Kritik, vor allem in der islamischen Welt. Das sunnitische Rechtsinstitut Al Azhar in Kairo verurteilte Macrons Aussagen als „rassistisch und dazu geeignet, die Gefühle von zwei Milliarden Muslimen in der Welt entflammen zu lassen“ (zeit-online vom 28.10.2020). Kurz darauf kam es zu „entflammten“ Protesten in muslimischen Ländern und zu Boykottaufrufen gegen Frankreich. Beschämend aber: Macron erhielt kaum Rückendeckung aus Europa, auch nicht aus Deutschland. Keine klaren Worte aus der Politik. Keine Zeitung, kein Magazin druckte die Karikaturen (über die Paty aufklären wollte) nach, nicht die Süddeutsche Zeitung, nicht der SPIEGEL, nicht die ZEIT, nirgendwo gab es Solidaritäts-Demonstrationen. Man blieb im Allgemeinen, verurteilte den „Terror, woher auch immer er kommt…“. Von religiösem Wahn wollte niemand reden.

Nach Paris kam Nizza, dann Wien: Allahs verwirrte Bodentruppen setzten ihren mörderischen Amoklauf fort. Er ist der blutige Begleitrahmen eines Prozesses, der seit einigen Jahren in Gange ist: die Einschüchterung des Denkens, das Bekämpfung des Rechts auf freie Meinung, einschließlich des Rechts auf Spott. Während die Kritik an den Kirchen und am Christentum – inklusive derber Witze über Papst und Klerus – als legitim anerkannt ist, wird Kritik am Islam mit dem Vorwurf der Islamophobie zum Schweigen gebracht. Der Islam wird großflächig exkulpiert.

Dass der mörderische Terror „nichts mit dem Islam zu tun hat“, das behaupten gerne weite Teile des linken Polit-Milieus. Wer den Islam als doktrinäre, meinungs- und frauenfeindliche Ideologie brandmarkt, wird schnell des Rassismus verdächtigt. Der Begriff Islamophobie wird zum Verteidigungs-Kampfbegriff gegen jede Kritik am Islam gemacht. Das kritische linke Welt-Bewusstsein – ansonsten jederzeit und allerorten gegen abrufbar – kommt zum Erliegen. [1] Eine fragwürdige linke Einäugigkeit. Was ist da los?

Warum schweigt die politische Linke, präziser: das linksliberale Moralmilieu, wenn die Werte der Aufklärung durch fundamentalistische Islamisten bedroht werden? Wie ist es möglich, dass einer sich als emanzipatorisch verstehenden Linken ausgerechnet in der Auseinandersetzung mit dem Islam ihre Sprache abhandenkommt (und sie diese notwendige Auseinandersetzung damit der Rechten überlässt)? Man sollte meinen, für Aufklärung und Freiheit zu kämpfen, gehöre zur politischen DNA der kulturell-politischen Linken. [2]

Schon nach dem Mordanschlag auf Charlie Hebdo am 7. Januar 2015, als zwei maskierte Täter in die Redaktionsräume der Zeitschrift eindrangen und elf Menschen bestialisch ermordeten (darunter ein zum Personenschutz abgestellter Polizist und ein weiterer Polizist auf der Flucht), gab es zahlreiche französische linke Intellektuelle, die die „Verantwortungslosigkeit“ des Satiremagazins beklagten. Sie machten Charlie Hebdo letztlich selbst für das Blutbad verantwortlich, weil Zeichnungen im Blatt immer wieder islamfeindlich gewesen seien. Beispielsweise auf einer Titelseite aus dem Jahr 2006, die Kurt Westergard gewidmet war, der wegen seiner Karikaturen in der dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten ebenfalls von Fundamentalisten mit dem Tod bedroht worden war. Was war auf dem Titelblatt zu sehen?

Ein bärtiger Mann mit Turban hält seinen Kopf zwischen den Händen. Er weint oder ist sehr ärgerlich. In der Sprechblase steht: „Schon hart, wenn einen Idioten lieben…“. Die Zeilen über der Zeichnung erläutern: „Mohammed beklagt sich… Er wird von Fundamentalisten überrollt!“. Der Prophet beklagt sich also über die Haltung seiner fanatischen Anhänger. In einer aufgeklärten, freien Gesellschaft nennt man das politische Karikatur. Nicht jeder muss über diese Karikatur schmunzeln, jeder darf sich beleidigt fühlen. Aber Frankreich hat den Blasphemie-Paragraphen, dieses „imaginäre Verbrechen“ (Jaques de Saint Victor) schon 1871 abgeschafft.

In der Beschwörung des „Respekts vor religiösen Anschauungen“ sind sich alle Religionen einig, und mittlerweile nicht nur die. Pochten früher nur ultra-religiöse und konservative Kreise auf unbedingte Einhaltung der „Gewissens- und Religionsfreiheit“ (deren Einschränkung ja nirgendwo propagiert wird, allenfalls das Recht, Religionen, ihre Dogmen und Verkünder zu kritisieren oder diese zu verspotten), machen sich mittlerweile auch vermeintlich progressive, antirassistische Bewegungen für die Einschränkung oder Abschaffung der Meinungsfreiheit stark. Das Bündnis zwischen Religionsvertretern und progressiven Denkern sagt viel aus über die geistige dogmatische Verwandtschaft. Alle diese Bedenkenträger äußern, dass die „Laizität“ achtenswert sei, „solange sie alle religiösen Anschauungen“ akzeptiere. Dabei hat der Laizismus stets die Gläubigen, nie aber eine einzige Religion beschützt.

Viele halten politische Karikaturen, in denen Propheten und Götter nach Gusto des Zeichners „sichtbar“ gemacht werden für strafwürdige Blasphemie und Charlie Hebdo nach wie vor für eine islamophobe, rassistische Zeitung. Ein heuchlerischer Vorwurf.

In einer Streitschrift, die Chefredakteur Charb (Stephane Charbonnier) erst zwei Tage vor seiner Ermordung beendet hatte, wandte er sich gegen den Vorwurf, sein Magazin würde Angst und Aggression „gegen den Islam“ entfesseln. Die Tonalität des Textes wie immer provokant, polemisch, sarkastisch. Ein unerschrockenes, beeindruckendes Plädoyer für Meinungsfreiheit und gegen jegliche Zensur. [3]

Charb sollte recht behalten, denn nur wenige Monate später, nach den Massakern vom November 2015 im Club Bataclan und in den Straßencafes des 11. Bezirks, meldeten sich alle großen links-liberalen Geister der Republik zu Wort, so, wie er vorausgesagt hatte. Für Alain Badiou erklärten sich die Morde aus „der Leere und Verzweiflung, bedingt durch die aggressive Dominanz des westlichen Kapitalismus und der ihm dienenden Staaten“. Ein anderer Philosoph, der viel gelesene und populäre Michel Onfray, ließ wissen, für die Toten sei ausschließlich der französische Staat verantwortlich, da er eine „islamophobe Politik“ betreibe und nun ernte, was er gesät habe. [4]

Nach dem Anschlag von Nizza am französischen Nationalfeiertag, dem 14. Juli 2016, als ein Attentäter mit einem LKW in eine Menschenmenge raste, äußerte sich auch Jean-Luc Nancy, der zu den bekanntesten Philosophen der Gegenwart nicht nur in Frankreich zählt: „Wir müssen uns selbst anklagen, wir müssen endlich unser unstillbares und universelle Streben nach Macht stoppen. Wir müssen die verrückten LKWs unseres angenommenen Fortschritts stoppen und demolieren, unsere Dominanz-Phantasien und die kommerzielle Gewinnsucht“ … Man könnte fragen: Hat den Mann eine gravierende Schwindsucht erfasst und seinen Geist vollends vernebelt? Die Opfer sollen für ihr Schicksal selbst verantwortlich sein. Ist das grenzenloser Zynismus, grobe Dummheit oder tiefsitzender Selbsthass? In jedem Fall eine Ermutigung für weitere mörderische Gotteskrieger und fanatische „Islamphobie“-Streiter.

Der Islamophobie bezichtigt

Im März 2021 mussten zwei Universitätsprofessoren in Grenoble um ihr Leben fürchten, weil Studenten ihre Namen in großen Lettern an das Unigebäude plakatiert hatten und sie der Islamophobie bezichtigten. Auch in den sozialen Netzwerken hielten die von der Studentengewerkschaft UNEF (Union nationale des étudiants de France) unterstützten Aktivisten den beiden Professoren islamfeindliche Haltungen vor. Ausgangspunkt war eine Diskussion unter Studenten und Lehrkräften darüber, ob für ein geplantes Seminar zum Thema Gleichheit die Islamophobie gleichrangig mit Antisemitismus und Rassismus im Titel stehen sollte. Einer der beiden Professoren, Klaus Kinzler, der als Professor für deutsche Sprache und Kultur am Institut des Sciences Po bereits seit 25 Jahren angestellt ist, äußerte sich gegenüber Medien, es treffe ihn schwerer, dass etwa 80 Prozent seiner Professoren-Kollegen die Unterstützung verweigerten oder heuchlerisch verlauten ließen, er habe ja selbst zu der Polemik beigetragen. „Ich habe wirklich keinen Kreuzzug gegen den Islam geplant. Ich wollte nur das Konzept der Islamophobie kritisch hinterfragen“, sagte er.

Vincent T., ebenfalls Professor am Institut des Scienes Po, sprang seinem Kollegen in Folge zur Seite und geriet auf Facebook ebenfalls ins Visier der Studentengewerkschaft UNEF. Eine Kollegin aus Kinzlers Institut zeigte sich über dessen Aussagen so empört, dass sie sich kurzerhand eine Woche krankschreiben ließ. Die Affäre zog laut Kinzler im Anschluss ohne sein weiteres Zutun immer weitere Kreise und erreichte nun sogar die politische Bühne. So verteidigte die beigeordnete Innenministerin Marlène Schiappa das Recht des Professors, seine Einschätzung zu dem Begriff der Islamophobie kund zu tun und kritisierte die Kampagne der studentischen Aktivisten scharf: „Nach der Enthauptung Samuel Patys ist das eine besonders widerliche Tat, denn er war genauso den sozialen Netzwerken zum Fraß vorgeworfen worden“, erklärte Schiappa im Fernsehsender BFM-TV. „UNEF hat in Kauf genommen, die beiden Professoren in Lebensgefahr zu bringen“, zeigte sich die Politikerin empört und bezeichnete es als verstörend, dass die Studentengewerkschaft in den sozialen Netzwerken zu einer beleidigenden Hasskampagne gegen die Professoren mobilgemacht habe. Auch Marine Le Pen griff nun die Debatte dankend auf und sah sich darin bestätigt, dass es an Universitäten eine „abstoßende, sektiererische Islamo-Linke gibt, die keine Grenzen kennt“. Das Verhalten der Aktivisten spielt somit auch der rechtspopulistischen Partei Frankreichs Rassemblement National in die Hände, der Marine Le Pen vorsteht. [5]

Fälle, in denen an Universitäten Dozenten für Meinungen und Aussagen von aktivistischen Gruppen heftiger, diffamierender Kritik ausgesetzt sind, sind mittlerweile keine Einzelfälle mehr. In Deutschland hatte die Frankfurter Uni-Professorin Susanne Schröter, Direktorin des dortigen Instituts für Ethnologie, eine Veranstaltung „Das islamische Kopftuch – Symbol der Würde oder der Unterdrückung?“ geplant und war deshalb zur Zielscheibe empörten Studenten und Aktivisten geworden. Unter dem Hashtag #schroeter_raus hatten sie in den sozialen Netzwerken eine Kampagne initiiert, mit der ihre Forderung nach einer Absetzung der Professorin unterstrichen werden sollte. Die Initiative warf Schröter sowie einigen der eingeladenen Referentinnen – darunter der bekannten Autorin und Frauenrechtlerin Alice Schwarzer und der Schriftstellerin Necla Kelek – antimuslimischen Rassismus vor. Deren Positionen zum politischen Islam bezeichnete sie als „Islam-Bashing im Deckmantel der Religionskritik“. [6]

Die Universitäten und ihre Vertreter knicken nur allzu oft vor lautstark empörten Aktivisten ein. Auch die Ausladung von Rednern oder das Niederbrüllen von Diskutanten reihen sich in derartige Fälle ein. Ein solches Klima an Hochschulen und könnte zur ernsthaften Gefahr für die Meinungsfreiheit und die Debattenkultur werden.

Ob an Hochschulen, in Debatten-Foren oder auf medialen Plattformen: Wer den gegenwärtigen Islam als eine frauenfeindliche, doktrinäre und rassistische Ideologie brandmarkt, wird gern des Rassismus und als „islamophob“ verdächtigt, auch hierzulande. Die Linke hat den Begriff Islamophobie zum Verteidigungs-Kampfbegriff gegen jede Kritik am Islam gemacht. Cinzia Sciuto, in Deutschland lebende Korrespondentin der italienischen kultur-politischen Zeitschrift MicroMega, beschreibt ein simples Experiment, um den instrumentellen Charakter des Wortes Islamophobie zu verdeutlichen:

„Auf Demonstrationen sieht man seit jeher aggressiv anti-religiöse und blasphemische Schilder und Slogans, was die [christliche] Kirche gewiss nicht erfreut. Man kann diese Slogans unangebracht, unangemessen, geschmacklos und noch vieles mehr finden, aber bisher wurde noch niemand, der sie präsentiert hat, der ‚Christophobie‘…“. [7]

Während die Kritik an den Kirchen und am Christentum – inklusive derber Witze über Papst und Klerus – als legitim betrachtet wird, wird Kritik am Islam mit dem Vorwurf der Islamophobie zum Schweigen gebracht, gerne mit dem Hinweis, dass es sich dabei um die Religion einer Minderheit handelt, die häufig rassistischer Diskriminierung ausgesetzt sei.

Die islamischen Lobbyverbände Inssan e.V. und CLAIM („Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit“), präsentierten im März dieses Jahres aktuelle Zahlen und Statistiken als Beleg einer zunehmenden „Islam- und Muslimfeindlichkeit in Deutschland“. Folgt man den Angaben, steigt von Jahr zu Jahr der Grad der Diskriminierung, unter der Musliminnen und Muslime in Deutschland zu leiden haben. Doch stimmt diese Aussage tatsächlich mit den empirischen Befunden überein? Der Sozialwissenschaftler Carsten Frerk, Leiter der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid), hat sich dies genauer angeschaut: „Ich bezweifele keineswegs, dass es Muslimfeindlichkeit in unserer Gesellschaft gibt“, sagt er, „aber mit den Methoden, die Inssan beziehungsweise CLAIM anwenden, lässt sich dieses bedauernswerte Phänomen nicht in angemessener Weise darstelle.“ Die Forschungsgruppe warnt davor, die Ergebnisse unkritisch zu übernehmen, da sie ideologisch verzerrt sind und einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten. „Im Zuge dieser Analyse“ schreibt Frerk in seiner Studie, „erhärtete sich immer stärker der Eindruck, dass es nicht um eine korrekte Darstellung der sozialen Verhältnisse geht, sondern um die Stärkung der Strukturen des islamischen Lobbyismus beziehungsweise des legalistischen Islamismus, der die ‚Diskriminierungskarte‘ zückt, um sich Vorteile gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen zu verschaffen. Hierzu passt, dass beide Organisationen zum Netzwerk der Muslimbruderschaft in Deutschland gezählt werden.“ [8] Klare Worte.

Schweigen im Toleranz-Universum

Und die Linke? Sie schweigt. Ihr kritisches Welt-Bewusstsein – ansonsten jederzeit und allerorten abrufbar – kommt zum Erliegen. Galt nicht Religionskritik spätestens mit Voltaire einmal als Selbstverständlichkeit? Gibt es Rettung aus dem linken Toleranz-Delirium? Vielleicht kann die Lektüre von Ruud Koopmans dazu beitragen.

François-Marie Arouet (Voltaire), Porträt von Nicolas de Largillière (Atelier/Werkstatt von Nicolas de Largillière | Gemeinfrei).

Der Niederländer ist Direktor der Abteilung „Migration, Integration und Transnationalisierung“ am Wissenschaftszentrum in Berlin und beschäftigt sich seit Jahren mit den strukturell-politischen Problemen islamischer Länder und dem grassierenden, systemimmanenten Fundamentalismus. Koopmans stellt die Frage, was Muslime und Nichtmuslime selbst tun können, um den Fundamentalismus zu schwächen und liberale, reformorientierte Kräfte innerhalb des Islam zu fördern. Zentral für den Beitrag zu einer Lösung sei es – so Koopmans – anzuerkennen, dass die Hauptursache für die Probleme der islamischen Welt nicht außerhalb des Islam – beim westlichen Kolonialismus, bei der Islamophobie – sondern in der Mitte der islamischen Gesellschaft selbst liege, in Form einer weit verbreiteten intoleranten Glaubensauffassung, die mit Hass und Gewalt gegen Andersgläubige und Ungläubige einhergeht. Hier sieht er auch die massiven Integrationsprobleme konservativ-religiöser Muslime in westlichen Einwanderungsgesellschaften, die zu einem erheblichen Teil auf die gleichen religiösen Ursachen – etwa die ungleiche Behandlung der Frauen, die soziale Distanz zu Andersgläubigen – zurückgingen. Und hier nennt er diverse Islamverbände, deren religiöse Basisarbeit und öffentliche Verlautbarungen nur selten mit einer liberalen, weltoffenen, demokratischen Gesellschaft in Einklang zu bringen sind. So zitiert er beispielsweise eine Predigt mit dem Titel „Der hohe Rang bei Allah: Das Märtyrertum“ – nicht aus einer Predigt vor 200 Jahren in einem fernen Land, sondern aus einer Predigt, die 2014 in einer deutschen Moschee verlesen wurde:

„Keiner, der das Paradies betritt, möchte zurück auf die Erde… Nur der Schahid (der Märtyrer), er möchte zurück und wieder den Märtyrertod sterben, wenn er sieht, welches Ansehen und welchen Rang er hier im Paradies genießt. Diese Frohbotschaft war es, die unseren Propheten und seine Gefährten und später auch unsere Vorfahren beseelten und sie von einer zur nächsten Front treiben, um diesen hohen Rang zu erreichen. Rein für den Weg Allahs, um Seinen Namen zu verbreiten. Für das Land und die Landsleute.“ [9]

Fatalerweise ist ein großer Teil der bundesdeutschen Linken bislang sprachlos. Sie sollte ihr unangenehm auffälliges Schweigen beenden. Es steht der Vorwurf im Raum, in linken Weltbildern gebe es „richtige“ und „falsche“ Opfer oder Samuel Schirmbeck, ehemaliger ARD-Korrespondent in Nord-Afrika, hat auf diese fragwürdige linke Einäugigkeit hingewiesen. In einer Streitschrift nennt er Punkte linker Ignoranz: [10]

  • Die Linie exkulpiert den Islam vom Terror islamischer Fanatiker, der „nichts mit dem Islam zu tun“ habe.
  • Die Linke stellt Religionsfreiheit über Freiheit von Religion.
  • Die Linke unterstützt religiöse Penetranz im staatlich neutralen Raum eines säkularen Staates durch Befürwortung des „Kopftuches“ für muslimische Lehrerinnen
  • Die Linke akzeptiert das Verbot von Gewissens- und Religionsfreiheit für Muslime.
  • Die Linke überlässt die Homosexuellen in der muslimischen Welt tatenlos ihrem Schicksal.
  • Die Linke relativiert muslimischen Judenhass.

Das linke Schweigen – so Schirmbeck – ist ignorant und beschämend. Und es wird ausgenutzt. Es ermöglicht den Fundamentalisten einerseits und Funktionären der muslimischen Verbände anderseits, den öffentlichen Diskurs und das kollektive Bewusstsein zu besetzen. Beispielsweise wenn sie – aufgerufen und organisiert von verschiedenen Gruppen und Moslemverbänden – auf die Straße gehen. Nicht gegen den Terror irrsinniger Glaubensbrüder oder für Meinungs- und Religionsfreiheit, noch weniger aus Solidarität mit den Opfern und deren Angehörigen. Ihr demonstrativer Abwehr-Mechanismus: „Es ist nicht unsere Schuld, wir müssen uns nicht rechtfertigen“.

Warum herrscht das große Schweigen, wenn die Werte der Aufklärung durch fundamentalistische Islamisten bedroht werden? Gehört nicht der Kampf für Aufklärung und Freiheit zur politischen DNA der kulturell-politischen Linken? Immerhin: Kevin Kühnert, der SPD-Vize Deutschlands, hat den Anfang gemacht und spricht von einem „blinden Fleck der Linken“. [11] Der Fraktionschef im Deutschen Bundestag Dietmar Bartsch plädiert dafür, endlich „die falsche Scham“ abzulegen und auch Grünen-Chef Robert Habeck fordert jetzt eine konsequentere Haltung im Kampf gegen militante Islamisten. Schönfärberei hält er für fehl am Platz. Sicherheitsbehörden und Justiz müssten den radikalen Islamismus „mit der ganzen Härte des Gesetzes verfolgen“, so Habeck. Neue Töne aus dem links-grünen Toleranz-Universum. [12]

Es ist an der Zeit, dass sowohl Funktionsträger und Mandatsträger innerhalb der Parteien – also der Linken, der Grünen sowie in Teilen der SPD – auch in den links-grünen außerparlamentarischen Milieus die auffällige Zurückhaltung im Umgang mit dem politischen Islam ein Ende hat. Sie alle müssen ihre Stimme erheben, weil es auch ihre proklamierten Werte sind, die bei ausnahmslos jedem Terroranschlag mit Füßen getreten und mit Sprengsätzen in die Luft gejagt werden. Es geht um den Kampf gegen Gewalt, Terror und religiöse Anmaßung – um die Verteidigung der Weltlichkeit unseres demokratischen Verfassungsstaates. Hier gilt: der Staat vor Religion, der Bürger vor dem Gläubigen.

In Kürze erscheint: Helmut Ortner, WIDERSTREIT – Über Macht, Wahn und Widerstand, 220 Seiten, 20 Euro im Nomen Verlag Frankfurt


Quellen- und Literaturhinweise

[1] Daniela Wakonigg / Armin Pfahl-Traughber, „Islamismus ist innerhalb der Linken meist ein Nicht-Thema“, in: Humanistischer Pressedienst vom 16. November 2020
[2] Frank A. Meyer, „Denken, nicht beten“, in: Cicero, 12-2020
[3] Charb (Stephane Charbonnier), Brief an die Heuchler – und wie sie den Rassisten in die Hände spielen, Stuttgart 2015
[4] Die Zitate und Äußerungen von Allain Badiou, Michel Onfray sowie Jean-Luc Nancy, vgl. Pascal Brückner, „Die Islam-Linke oder: Die Vereinigung des Zorns“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 12-20, Seite 85 f
[5] Joscha Wölbert , Hochschullehrer in Gefahr wegen angeblicher „islamophober“ Einstellungen, in: Humanistischer Pressdienst, 12. März 2021
[6] Vgl. dazu u.a zu den Vorfällen um Susanne Schröter, Die Welt vom 26. 4.2019,
www.welt.de/politik/deutschland/article192434681/Susanne-Schroeter-Frankfurter-Goethe-Universitaet-verteidigt-Islamforscherin-vor-Rassismus-Kritik.html
Ebenso:Schröter, Susanne, Politischer Islam – Stresstest für Deutschland, Frankfurt 2019 sowie Kelec, Necla, Chaos der Kulturen – Die Debatte um Islam und Integration, Köln 2016
[7] Cinzia Sciuto, „Stehen wir auf: gegen die Deutungsmacht der Islamisten“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 12-20, Dezember 2020. Ebenso: Sciuto, Cinzia, Die Fallen des Multikulturalismus in einer vielfältigen Gesellschaft, Zürich 2020
[8] Frerk, Carsten, Forschungsgruppe Weitanschauungen in Deutschland, Studie: „Muslimfeindschaft und Empirie“, 16. März 2021
[9] Koopmans, Ruud, Das verfallene Haus – Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt, München 2020
[10] Schirmbeck, Samuel, Gefährliche Toleranz – Der fatale Umgang der Linken mit dem Islam, Zürich 2018
[11], Kevin Kühnert, „Die politische Linke sollte ihr Schweigen beenden“, in: spiegel-online 21. Oktober, 2020
[12] Dietmar Bartsch, „Die Linke sollte ihre falsche Scham ablegen“, in: spiegel-online, 23. Oktober 2020 , ebenso Constanze von Bullion, „Robert Habeck will Islamismus konsequent bekämpfen“, in: Süddeutsche Zeitung, 30. Oktober 2020