Seit Anfang März haben sich Beschäftigte an zwei von fünf Produktionsstandorten von Nestlé in Kolumbien inmitten der Pandemie zu einer „Protestkarawane“ zusammengeschlossen. Hintergrund sind die Missachtung gemeinsamer Vereinbarungen, die die Gewerkschaft der Lebensmittelbeschäftigten Sintraimagra (Sindicato Nacional de Trabajadores de Alimentos) mit dem Unternehmen abgeschlossen hat.
Einer der Hauptkonfliktorte ist die Stadt Bugalagrande, wo der größte kolumbianische Produktionsstandort des multinationalen Konzerns mit Sitz in der Schweiz ist. Die Fabrik liegt im Bundesstaat Valle del Cauca, 354 Kilometer westlich der Hauptstadt Bogotá. Ein weiterer Standort von Nestlé, in dem die Gewerkschaft Verletzungen von Arbeiter*innenrechten vorwirft, liegt in Florencia im Bundesstaat Caquetá, 547 Kilometer südlich der Hauptstadt.
Die Gewerkschaft Sintraimagra wurde bereits vor 52 Jahren gegründet und ist seit 2012 an den Standorten Bugalagrande und Florencia aktiv. Die Vereinbarungen mit Nestlé wurden am 31. Mai 2012 abgeschlossen, jedoch wurden sie nach Gewerkschaftsangaben seither mehrmals von dem Unternehmen missachtet.
Mobbing und Diskriminierung in Bugalagrande
Bei Protesten am 9. März vor dem Verwaltungssitz von Nestlé in Bogotá forderten mehrere Hundert Protestierende die offizielle Anerkennung von Sintraimagra als gewerkschaftliche Vereinigung von Seiten des Unternehmens. Sie kritisieren, dass Arbeiter*innen, die der Gewerkschaft angehören, diskriminiert und ihre Forderungen in den drei-Parteien-Komitees übergangen und ignoriert würden.
In diesen Komitees sind Repräsentant*innen des Unternehmens, der Gewerkschaft Sintraimagra sowie der nationalen Gewerkschaft der Arbeiter*innen in der Lebensmittelindustrie SINALTRAINAL (Sindicato Nacional de Trabajadores de la Industria de Alimentos) vertreten, um spezifische Themen zu besprechen. Es gibt zudem Komitees für Bildung, Wohnen, Sport und weitere.
In der größten Fabrik von Nestlé in Kolumbien arbeiten etwa 1.100 Beschäftigte in der Herstellung von Gemüsebrühen, Suppen, Milchprodukten und bekannten Produkten wie Nesquik, Nescafé und Milo, ein Schoko-Instantgetränk, das in Kolumbien sehr beliebt ist. In der gleichen Fabrik werden Verpackungen wie Dosen für all diese Produkte hergestellt.
Die brasilianische Zeitung Brasil de Fato führte ein Interview mit Andrés Mauricio Rubio Ortiz, Sprecher von Sintraimagra in Bugalagrande, in dem er berichtete, wie sich die Arbeitsrechtsverletzungen auf den Alltag der Beschäftigten in der Fabrik auswirken.
„Seit wir 2012 in Bugalagrande angefangen haben, sind wir Opfer von Mobbing, Einschüchterungen, Rechtsmissachtung und konstanten Diskriminierungen geworden. Unsere gewerkschaftlichen Aktivitäten werden kontinuierlich delegitimiert und lächerlich gemacht. Das Unternehmen erkennt uns nicht als gewerkschaftliche Vereinigung an. Unsere Komitees sind im Arbeitsministerium offiziell anerkannt, aber das Unternehmen bezieht uns nicht in seine Entscheidungen ein“, so der Gewerkschaftsvertreter.
Ortiz bekräftigt, dass das Unternehmen nur SINALTRAINAL als legitimen Partner anerkennt, womit die Forderungen oder Vorteile für die Angehörigen von Sintraimagra ausgehebelt werden: „Wir sind damit nicht einverstanden, aber das Unternehmen bevorzugt die Position der einen Gewerkschaft zum Nachteil der anderen.“ Zum Beispiel wurden in Bugalagrande 81 neue, unbefristete Arbeitsplätze geschaffen die für diejenigen, die bereits längere Zeit in der Firma arbeiten, eine gute Bezahlung in Aussicht stellen. Von den 65 bereits eingestellten Beschäftigten gehört jedoch keiner Sintraimagra an. „Das ist eine krasse Diskriminierung. Es gibt keine arbeitsrechtliche Gleichstellung in der Fabrik in Bugalagrande!“, schimpft Ortiz.
Weitere Formen der Diskriminierung
Die Diskriminierungen setzen auch beim Zugang zu Dienstleistungen wie dem Transport zur Fabrikhalle ein, kritisiert der Gewerkschaftsvertreter: „Es gab bereits Situationen, bei denen wir alle aus dem Bus aussteigen mussten, um Platz zu machen für die Arbeiter*innen der anderen Gewerkschaft. Das Unternehmen ist daran direkt oder indirekt beteiligt, da es unsere Beschwerden nicht entgegennimmt.“
Ein weiteres von Ortiz erwähntes Beispiel ist, dass das Unternehmen den Arbeiter*innen den Zugang zu Darlehen für kleinere Reparaturen verweigert. Laut den gemeinsam getroffenen Bestimmungen haben die Arbeiter*innen das Recht, Zugang zu einem spezifischen Fonds für Reparaturen zu erhalten. „Einer unserer Gewerkschaftsgenossen in Sintraimagra hat Probleme mit dem Abfluss. Wenn es regnet, fließt bei ihm Urin und Fäkalien aus dem Abflussrohr heraus. Das Unternehmen verweigert ihm jedoch ein Darlehen und gibt es stattdessen einem Arbeiter der anderen Gewerkschaftsorganisation, der eigentlich nur sein Haus neu streichen möchte“, erzählt der Gewerkschaftsvertreter.
Gleichzeitig vergibt das Unternehmen lediglich Restmittel aus dem Fonds für Freizeit, Kultur und Sport an Sintraimagra. Als Begründung heißt es, dass es zu wenig Arbeiter*innen seien. „Wir werden immer weniger, weil wir diskriminiert werden.“ entgegnet darauf Ortiz.
Der Gewerkschaftsvertreter kritisiert außerdem die Frist von vier Jahren, die das Unternehmen Sintraimagra-Mitgliedern gibt, um ein Darlehen zu begleichen, das für eine neue Transportverbindung gedacht ist. Das Unternehmen habe anscheinend selbst bereits einen Dienstleister beauftragt, der jedoch von SINALTRAINAL kommt. Die jetzigen Transportmöglichkeiten zum Fabrikstandort halten die Nutzer*innen für unzulänglich, nicht nur aufgrund der Verspätungen, sondern auch aufgrund der Verkehrssicherheit. In der jüngsten Vergangenheit ist es immer wieder zu Unfällen gekommen.
Ortiz kritisiert außerdem, dass es keinen ausreichenden Gesundheitsschutz und Zugang zum Gesundheitsservice gibt. Die Covid-19-Pandemie wirkt sich weiter verschärfend auf diese Situation aus: „Es gibt nicht genügend Personal im Gesundheitsbereich und unsere Genoss*innen müssen bis nach Bogotá reisen, um behandelt zu werden.“ Die Gewerkschaft Sintraimagra hatte einst 300 Genoss*innen in Bugalagrande und Florencia, heute sind es nur noch 90. SINALTRAINAL hat über 700 Mitglieder.
Gewerkschaft mobilisiert mit „Protestkarawane“
Mit einer Reihe an Demonstrationen mobilisierte die Gewerkschaft Sintraimagra Anfang März. Die Proteste fanden ihren Höhepunkt am 9. März in Bogotá. Ziel war ein Treffen mit Antonio Núñez, dem Vorstandsvorsitzenden von Nestlé Kolumbien, um mit ihm über die Verletzungen der Arbeitsrechte zu sprechen. Diese widersprächen eigentlich den eigenen Prinzipien des Unternehmens, , so Ortiz, nämlich die Menschenrechte in all seinen unternehmerischen Aktivitäten zu achten.
Letztlich gelang es jedoch nicht, das Treffen mit dem Nestlé-Chef einzuberufen. „Es ist sehr traurig, dass der Präsident eines großen multinationalen Konzerns in Kolumbien sich gegenüber einer Organisation zurückzieht, die immer gute Verbindungen mit ihr halten wollte, zum Wohlergehen aller Beteiligten.“ beklagt Ortiz.
„Wir sind bereits seit Jahren dabei, ein gutes Verhältnis mit den verschiedenen Verantwortlichen in der Fabrik in Bugalagrande aufzubauen. Die einzige Antwort von Seiten des Unternehmens ist, dass wir uns anstrengen sollen, um ein gutes Arbeitsklima zu schaffen. Aber sie selbst tun nichts Effektives, um das zu erreichen.“ Artikel 37 der kolumbianischen Verfassung garantiert den Arbeiter*innen das Recht auf Beschwerde sowie Demonstrationsfreiheit.
Die formelle Reaktion von Nestlé auf die Proteste erfolgte am 19. März. Eine Versammlung sollte daraufhin am 29. März einberufen werden, um die von Sintraimagra eingebrachten Themen zu besprechen. Allerdings werde Núñez nicht an dem Dialog teilnehmen, sondern nur der Werksleiter von Bugalagrande, Juan Felipe Orozco und eine Arbeitsgruppe von ihm, die für Menschenrechte zuständig ist. „Leider stellen wir fest, dass der Präsident von Nestlé weiterhin sehr ausweichend reagiert und uns nicht zuhört“, beklagt Ortiz.
Internationale Reaktionen
Im November 2020 berichtete Brasil de Fato bereits, dass Arbeiter*innen von Nestlé in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern sich verbündeten, um gemeinsam für ihre Arbeiter*innenrechte zu kämpfen.
Auch die Gewerkschaft SINALTRAINAL nahm demnach an diesen Bündnissen teil. Sie repräsentiert 85 Prozent der Arbeiter*innen in den Fabriken von Nestlé in Kolumbien, ist also als einzige an allen fünf Standorten von Nestlé in Kolumbien präsent.
Die Anklage von Sintraimagra erreichte auch José Guzmán, Gewerkschaftsfunktionär bei der überregionalen Vereinigung der Gewerkschaften von Nestlé und der Dienstleistungsgewerkschaft Fesinem. Er ist gleichzeitig einer der Vertreter*innen der kontinentalen Vereinigung der Arbeiter*innen von Nestlé (CONFECONTRANES).
In einem Schreiben vom 11. März informierte CONFECONTRANES den Vorsitzenden von Nestlé in Kolumbien über die Beschwerden und bat um eine baldige Konfliktlösung. „Abgesehen von der fehlenden Anerkennung von Sintraimagra als gewerkschaftliche Organisation kommt es zu einer kontinuierlichen Rechtsmissachtung. Nestlé hält die gemeinsam getroffenen Vereinbarungen nicht ein und wenn die Arbeiter*innen das einfordern, erhalten sie keine Antwort.“ bekräftigt Guzmán.
„Wir sind darum bemüht, diesen Konflikt weitläufig zu kommunizieren und öffentlich zu machen, denn das Unternehmen verstößt gegen die Kernarbeitsnormen 87, 98 und 111 der Internationalen Arbeiterorganisation (ILO), in denen gewerkschaftliche Freiheit explizit festgeschrieben ist. Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen können sich organisieren, wie sie möchten – das Unternehmen muss das respektieren!“, so Guzmán.
Nestlé sieht kein Fehlverhalten
Nestlé Kolumbien reagierte auf den Bericht von Brasil de Fato und betonte, das Recht auf Versammlungsfreiheit zu gewährleisten. „Bei uns sind derzeit 100 Prozent der Angestellten in unseren Fabriken Gewerkschaftsmitglieder, das ist die höchste Zahl in der Industrie im ganzen Land“, behauptet das Unternehmen. Laut den Aussagen von Nestlé würden jede Woche Treffen mit Sintraimagra abgehalten, um die angesprochenen Themen zu behandeln und Lösungen zu suchen, die im Einklang mit den gemeinsam getroffenen Vereinbarungen stünden.
Die Auswahlkriterien für neue Arbeitsplätze seien transparent, so Nestlé, und so gestaltet, dass die Kandidat*innen mit den besten Qualifikationen, die den Anforderungen der Stelle entsprechen, die meisten Chancen haben. Nestlé Kolumbien setze auf Dialog und gibt an, derzeit keinen offenen juristischen oder verwaltungsrechtlichen Prozess zu haben.
„Die Darlehen für die Wohnung entsprechen ganz den getroffenen Vereinbarungen und damit den Kriterien, die mit den Gewerkschaftsorganisationen definiert wurden“, betont das Unternehmen. „Es gibt durchaus Arbeiter*innen, die Mitglied bei Sintraimagra sind, und in den Genuss der Darlehen kommen.“ In den letzten fünf Jahren habe es keine Beweise für Mobbingfälle oder Arbeitsrechtsverletzungen in der Fabrik gegeben, heißt es in der Stellungnahme an Brasil de Fato.
Bezüglich des Themas Transport unterstreicht Nestlé, dass sie den Arbeiter*innen einen Zuschuss bezahlen, aber keine Möglichkeit hätten, einen unabhängigen Dienstleister dafür einzustellen. Weiterhin betont das Unternehmen, dass sie den Arbeitgeberanteil für die Gesundheit der Arbeiter*innen im ganzen Land zahlen und außerdem einen zusätzlichen Beitrag pro Halbjahr, damit die gewerkschaftlichen Organisationen Aktivitäten im Bereich Sport und Kultur durchführen können. Der Beitrag für das erste Halbjahr 2021 sei bereits im Februar gezahlt worden.
Übersetzung: Birgit Hoinle