Wie schwierig es doch ist, sich in diesen unruhigen die Zukunft vorzustellen! Zurzeit erleben wir, wie den Menschen mehrheitlich die Vorstellung vom eigenen Leben in der Zukunft verloren geht.
Als ob alle Welt den Atem anhält, um sich nicht mehr zu bewegen. Quälender als mit Maske zu leben, besorgniserregender als die Angst geimpft zu werden oder nicht, macht die Unmöglichkeit, sich die Zukunft vorzustellen, die Gegenwart erdrückender und krankhafter als jede Maske oder Ausgangssperre. Denn es liegt im Wesen des Menschen, sich ständig in die Zukunft hinein zu versetzen, auch wenn er sie sich negativ oder leidend vorstellt. Jedoch versuchen alle seit gewisser Zeit, sich der morbiden Haltung hinzugeben, „vorerst bloß nichts zu planen, lasst uns abwarten!“.
Sich die Mühe zu machen und sich die Zukunft vorzustellen, sogar wenn sie für einen selbst und für andere positiv aussieht, ist nicht naiv oder gar utopisch, wird aber beinahe zu einem revolutionären Akt, zu einem Akt zivilen Ungehorsams.
Nicht die Zukunft in drei Wochen oder in drei Monaten, ich meine die Zukunft in 5, in 10 Jahren!
Kein Unternehmen projiziert mehr so in die Zukunft, auch keine politische Partei … (dafür bräuchte es ein gesamtgesellschaftliches Konzept). Aber der Mensch ist weder ein Unternehmen noch eine Partei. Der Mensch weiß, dass er dutzende und dutzende Jahre wird leben können, wird leben müssen (jedenfalls die überwiegende Mehrheit).
Niemand heiratet mit einer Zukunftsvision von drei Monaten, niemand bekommt Kinder und malt sich nur die nächsten drei Wochen aus! Kinder träumen nicht davon, in einem Jahr Lehrer oder Feuerwehrmann/-frau zu sein. Studierende strengen sich nicht mehrere Jahre lang an, um in sechs Monaten an einem bestimmten Punkt zu sein!
Wenn wir all diese Pläne für die Zukunft entwerfen, beziehen sie sich nicht nur auf konkrete Aspekte. Wir nehmen nicht einfach nur einen Kredit auf, jagen nicht nur nach einem Abschluss oder Ehepartner. Im Grunde stellen wir uns damit vor allem unseren inneren Zustand vor, den wir in Zukunft gerne hätten; unser Streben gilt dem Verlangen nach persönlicher Entfaltung, dem Verlangen nach Ausgeglichenheit, dem Wunsch, kultivierter zu sein, der Abenteuerlust, dem Wunsch zu lieben und geliebt zu werden…
Die Konzepte Haus, Kind, Ehe, Abschluss, Arbeit, Reisen usw. sind nur die Mittel, um dieses tiefe und legitime Verlangen zu stillen.
Es stimmt, uns werden derzeit bestimmte Mittel und Freiheiten genommen. Aber was uns wirklich „tötet“ ist die Tatsache, dass wir davon überzeugt sind, dass die Erfüllung unserer tiefen Wünsche vollständig von diesen Mitteln abhängt. So lassen wir unsere tiefsten Wünsche und Bestrebungen mit dem Verlust der materiellen Mittel sterben.
Diese tiefen und legitimen Bestrebungen waren schon immer ein Teil der Menschheit. Und der Mensch hat sich auf den Weg gemacht, sich persönlich zu entfalten – auf tausende verschiedene Arten, je nach Epoche und Kultur. Und nichts wird dies aufhalten.
Die Entfaltung des Wichtigsten und Schönsten in jedem hört nicht gezwungenermaßen mit dem Mangel an Dingen oder dem Mangel an Zugang zu bestimmten Möglichkeiten auf. Hingegen kann sie aussetzen, wenn es an tiefen Sehnsüchten oder an der Frage fehlt, wer ich SEIN will und was ich IN MIR erfahren und empfinden will.
Hängt das, was ich sein will, von meinem Job ab? Von meiner Partnerschaft? Von meinem Bankkonto? Muss ich damit aufhören, die Sehnsüchte der Person, die ich heute bin, in die Zukunft zu projizieren, weil ich derzeit in meinem Job und in meinen Ausgehzeiten eingeschränkt bin? Muss ich meinen inneren Entwicklungs- und Reifungsprozess aufgrund externer materieller Faktoren beenden?
Natürlich wissen wir, dass der Stress, die Angst um sich selbst und um die Liebsten und das Fehlen eines sichtbaren Auswegs einen vom Nachdenken abhalten. Das ist eine Tatsache. Aber es ist auch etwas, worauf ich direkt Einfluss nehmen kann.
Keinen direkten Einfluss habe ich auf die politischen Entscheidungen, die Entscheidungen meines Arbeitsgebers, der Schulen… Aber ich habe die Macht zu entscheiden, wer ich heute bin und wer ich morgen und übermorgen sein werde. Diese Tür steht mir offen.
Eine der größten rebellischen Handlungen ist es heute, sich auch weiterhin die Zukunft vorzustellen! Und vor allem, sich dabei lebendig, glücklich, liebend und geliebt, wohlwollend und solidarisch zu sehen. Also… rebelliere ich gegen die Bedingungen, die sich mir aufzuzwingen scheinen, so wie es die Menschen schon immer im Laufe der Geschichte getan haben? Oder unterwerfe ich mich den Bedingungen?
Es ist Zeit, sich zu fragen „Was kann ich heute tun, um die Person, die ich sein will, in die Zukunft zu projizieren?“
„Jetzt, da mir bestimmte materielle Mittel entzogen worden sind, die es mir (so glaubte ich) erlaubt hätten, mir meine tiefen Wünsche zu erfüllen – welche neuen Mittel gebe ich mir nun, um so zu leben, wie ich bin und wie ich sein möchte?“
Übersetzung aus dem Französischen von Andrea Förtsch vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam. Wir suchen Freiwillige!