Amalia van Gent für die Online-Zeitung INFOsperber
Mitte März sind die Kurden plötzlich wieder ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gerückt: Zunächst forderte das Europäische Parlament (EP) mit einer aufsehenerregenden Resolution vom 11. März die Türkei auf, ihre Streitkräfte aus Nordsyrien abzuziehen. Denn diese würden diesen Landesteil Syriens ohne Mandat der Vereinten Nationen «rechtswidrig besetzen». Die Abgeordneten des EP äusserten sich besorgt über die anhaltende Vertreibung der syrisch-kurdischen Bevölkerung, was einer ethnischen Säuberung gleichkommen könnte. Zudem ist es inzwischen gängige Praxis des türkischen Geheimdienstes (MIT), kurdische Syrer aus dem besetzten Nordsyrien willkürlich in die Türkei zu überführen und sie einer türkischen Strafverfolgung auszusetzen. Dieses Vorgehen wertet das Europäische Parlament als Verstoss gegen die internationalen Verpflichtungen des Landes im Rahmen der Genfer Konventionen. Schliesslich folgerten die EP-Abgeordneten: «Die illegale Invasion und Besetzung durch die Türkei hat den Frieden in Syrien, im Nahen Osten und im östlichen Mittelmeerraum gefährdet.»
Eine unverbindliche Empfehlung?
Selten zuvor hatte eine Institution der EU eine derart klare Stellung zu den Geschehnissen im kurdischen Norden Syriens genommen, seit türkische Truppen Anfang 2018 in Nordsyrien einmarschierten und die damals mehrheitlich von Kurden bewohnte Provinz Afrin besetzten. Diese völkerrechtswidrige Invasion verwandelte ein bis dahin vom syrischen Bürgerkrieg verschontes Gebiet in einen Ort des Grauens. Nach dem Fall von Afrin wurden je nach Quellenangaben 150’000 bis 300’000 Zivilisten vertrieben. Internationale Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty Internationaldokumentieren aus diesem Gebiet unter der Kontrolle türkischer Streitkräfte und ihrer syrischen Alliierten seither unzählige Fälle von Folter und Mord, von Entführungen, um Geld zu erpressen, von willkürlichen Enteignungen und von Vergewaltigungen, die systematisch als Mittel des Kriegs eingesetzt werden.
Mazlum Abdi, Generalkommandant der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), begrüsste deshalb die EP-Resolution mit Erleichterung – beinahe dankbar. Der Kurdenführer, dem nachgesagt wird, dass er auch in schlimmsten Situationen die Nerven bewahrt, dürfte eine der tragischen Figuren des syrischen Bürgerkriegs sein: Zwischen 2015 und 2018 führte Mazlum Abdi mit logistischer Unterstützung der USA und anderen europäischen Verbündeten erfolgreich den Kampf gegen die Terrororganisation IS in Syrien. Doch kaum waren Nord- und Nordostsyrien von den Dschihadisten des IS befreit, marschierte die türkische Armee mit Duldung der USA in den syrischen Norden ein und vertrieb die Truppen des Kurdenführers sowie Abertausende kurdische Zivilisten aus ihren Städten und Dörfern.
Dass die Abgeordneten des Europäischen Parlaments den Beitrag der kurdischen Truppen im Kampf gegen den IS ausdrücklich lobten, erfüllte Generalkommandant Mazlum Abdi mit Genugtuung. Die Resolution des EP war für Kurden die erste gute Nachricht seit langem. Und sie dürfte es auch lange bleiben.
Die türkische Regierung nahm die Resolution des Europäischen Parlaments gelassen hin, etwa wie eine unverbindliche Empfehlung: Kurz nach der Abstimmung im Europäischen Parlament meldete die türkische Presse die Errichtung eines neuen türkischen Militärstützpunktes nördlich der syrischen Stadt Raqqa. Man kann das als Hinweis deuten, dass die Türkei kaum dazu bereit ist, dem Aufruf des EP zu folgen und die Truppen in absehbare Zeit abzuziehen. Ohnehin deklarierte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Anti-Terror-Operationen der Türkei inner- und ausserhalb ihrer Grenzen «als legitimes Recht seines Landes». Auch der Vorwurf des Europäischen Parlaments, die Türkei verstosse gegen die internationalen Verpflichtungen im Rahmen der Genfer Konventionen, lässt Ankara unbeeindruckt. Erdogans Leibblatt «Sabah» brüstete sich, es sei dem türkischen Geheimdienst MIT am 14. März gelungen, unweit vom syrischen Raqqa den kurdischen Kommandanten Ibrahim Babat, genannt auch Scheich Guyi, zu entführen.
«Massive, surrealistische Repression ohne Ende»
Kaum zwei Wochen zuvor, hatte der türkische Präsident seinen europäischen Partnern versprochen, in den türkisch-europäischen Beziehungen eine neue Seite aufzuschlagen und mit einem neuen Aktionsplan für Menschenrechte die Menschenwürde, die Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit in den Mittelpunkt zu stellen. Am 17. März zeigte seine Regierung, was dieses Versprechen wert ist: Am Vormittag beschloss das türkische Parlament, dem Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Ömer Faruk Gergerlioglu, den Parlamentssitz und die parlamentarische Immunität zu entziehen.
Gergerlioglu hatte sich einen Namen gemacht als engagierter Kämpfer für Menschenrechte, weil er auf seiner Internet-Plattform furchtlos auf die von staatlicher Seite verübten, gravierenden Menschenrechtsverletzungen hinwies – etwa mutmassliches Verschwindenlassen, Folter und andere Misshandlungen. Nun soll er hinter Gitter, weil er im Jahr 2016 per Twitter eine Erklärung von Murat Karayilan verbreitete, einer Spitzenfigur der verbotenen Kurdischen Volkspartei (PKK). Dieser hatte zu Friedensgesprächen mit der türkischen Regierung aufgerufen, und wurde deshalb in erster Instanz zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Vor wenigen Tagen hat auch das Kassationsgericht seine Strafe bestätigt.
Dramatische Szenen spielten sich im Parlament ab: Gergerlioglu verurteilte seinen Ausschluss als illegitim und erklärte, er werde das Parlamentsgebäude so lange nicht verlassen, bis das Verfassungsgericht ein endgültiges Urteil in dieser Angelegenheit gefällt habe. Als Mitglieder der regierenden Allianz mit drohenden Absichten auf ihn zuliefen, kamen ihm seine Parteikollegen zu Hilfe. Aber nur sie. Die Mitglieder der beiden anderen Oppositionsparteien wollten oder wagten nicht, in der Grossen Kammer ihren gewählten Kollegen physisch zu verteidigen.
Am Nachmittag klagte die Generalstaatsanwaltschaft am türkischen Kassationsgerichtshof vor dem Verfassungsgericht auf ein Verbot der HDP. In der Anklageschrift werden Politikerinnen und Politiker der HDP beschuldigt, «in Wort und Tat für die Zerstörung und Abschaffung der unteilbaren Einheit des Staates und der Nation» einzutreten, einvernehmlich mit der PKK zu handeln und sich als verlängerter Arm dieser «Terrororganisation» zu betätigen. Es war ein Paukenschlag, dessen Folgen vorerst nicht absehbar sind. Abgesehen vom Verbot der Partei sollen 687 HDP-Funktionäre aus der Politik verbannt werden, darunter die beiden Co-Vorsitzenden Pervin Buldan und Mithat Sancar sowie der ehemalige Parteichef Selahattin Demirtas. Zudem sollen sämtliche Gelder und Immobilien der Partei beschlagnahmt werden. Gefordert wird laut der prominenten Journalistin Amberin Zaman nichts weniger als «die totale Vernichtung dieser Partei». So hatte es sich auch der Vorsitzende der rechtsnationalistischen MHP-Partei Devlet Bahceli gewünscht. Sicherzustellen, dass eine solche Partei nie mehr unter einem anderen Namen gegründet werden könne, sei eine «Ehrenpflicht gegenüber der Geschichte, der Gerechtigkeit, unserer Nation und unseren kommenden Generationen», so Bahceli.
Seit 2016 arbeiten die Islamisten Erdogans mit den rechtsaussen Nationalisten Bahcelis in einer Regierungsallianz eng zusammen. Seither hält der Druck auf die kurdische Bewegung der Türkei unvermindert an: Laut Angaben der HDP wurden insgesamt 16’300 ihrer Mitglieder festgenommen. Davon sind über 3500 immer noch hinter Gitter, manche wie der ehemalige Parteivorsitzende Selahattin Demirtas seit Jahren in Untersuchungshaft. Gewählte Bürgermeister im mehrheitlich kurdischen Südosten der Türkei wurden ihrer Ämter enthoben. Dörfer wurden bombardiert beziehungsweise zwangsevakuiert. Der kurdische Intellektuelle Hamit Bozarslan spricht von einer «massiven, surrealistischen Repression», die immer wieder vom neuen unter Beweis stelle, dass diese Regierung keine Grenzen kenne und weiter gehen könne, «ungeachtet des nationalen oder internationalen Rechts».
Die linksliberale Demokratische Partei der Völker (HDP) ist die einzige Partei in der Türkei, die sich für eine Anerkennung der kurdischen Identität und um die Angelegenheiten der kurdischen Bevölkerung der Türkei einsetzt. Ein Verbot dieser Partei würde bedeuten, dass die Kurden des Landes, laut Schätzungen immerhin über 15 Millionen Menschen, keine Stimme im türkischen Parlament mehr haben.
Der EU-Aussenbeauftragte sieht «positive Entwicklungen»
Der Job des hohen Vertreters der EU für Aussen- und Sicherheitspolitik mag herausfordernd und zermürbend sein. Anfang Februar hatte der EU-Aussenbeauftragte Joseph Borrell Moskau besucht, um von seinen russischen Gesprächspartnern nachdrücklich die Freilassung des inhaftierten Kremlkritikers Alexei Nawalny zu fordern. Zwar respektiere man «die russische Souveränität voll und ganz», doch «Menschenrechte und politische Freiheiten sind von grundlegender Bedeutung für unsere gemeinsame Zukunft, sowohl für die Europäische Union als auch für Russland», teilte Borrell dem russischen Aussenminister Sergei Lawrow mit. Doch Lawrow zeigte sich wenig beeindruckt. Die Glaubwürdigkeit der EU im Allgemeinen und Borrells im Besonderen in Sache Demokratie und Verteidigung der Menschenrechte, hat nicht nur in Moskau gelitten.
Joseph Borrell, der kurz darauf Ankara besuchte, will in der Türkei nämlich überaus «positive Entwicklungen» ausgemacht haben. Als würden Regierung und Parlament der EU zwei völlig unterschiedliche Welten vertreten, machte er sich noch zu Beginn dieser Woche für eine Annäherung zwischen der EU und der Türkei sowie für einen neuen Flüchtlingsdeal mit Ankara stark. Der Spanier Borrell ist sich dabei bewusst, dass die drei Grossen der EU, namentlich Berlin, Madrid und Rom, einen neuen Flüchtlingsdeal mit der Türkei anstreben und dafür bereit sind, Ankaras Unzulänglichkeiten in Sachen Menschenrechte zu übersehen. Dieser Tatsache ist sich allerdings auch Erdogan bewusst.
Die US-Regierung hat Ankara vor einem Verbot der HDP gewarnt: Ein Verbot «würde den Willen der türkischen Wähler in unzulässiger Weise untergraben, die Demokratie in der Türkei weiter aushöhlen und Millionen von türkischen Bürgern ihre gewählte Vertretung verweigern», tönte es aus dem US-Aussenministerium. Ob die Regierung Biden bei einem Verbot auch zu schmerzhaften Sanktionen gegen die Türkei bereit wäre, ist ungewiss. Die Spaltung des «westlichen Lagers» in Bezug der Menschenrechtslage in der Türkei verschafft Ankara aber vorerst eine Verschnaufpause. Am Freitag hat die türkische Polizei die Büros des grössten Menschenrechtsvereins in der Türkei gestürmt und seinen Co-Vorsitzenden Öztürk Türkdogan festgenommen. Am 19. März ist die Türkei schliesslich aus dem internationalen Schutzabkommen für Frauen, bekannt auch als Istanbul-Konvention ausgetreten. Es handelt sich um das weltweit erste verbindliche Abkommen, dass Gewalt an Frauen, Vergewaltigung in der Ehe oder Genitalverstümmelung bekämpft.