Überall in Berlin sind Plakate und Transparente der Kampagne „Deutsche Wohnen & Co enteignen!“ zu sehen. Auch Mitglieder der Möckernkiez Genossenschaft engagieren sich. Zum Kampagnenstart sammelten sie Unterschriften vor ihrem Quartier an der Kreuzberger Yorckstraße.
In ihrer Rede betont Iris Veit von der „WG Lebendig Altern“, dass die Möckernkiez-Genoss*innen das Volksbegehren unterstützen, „weil wir wollen dass auch unsere Nachbarn gesichert sind gegen Mietwucher und lebenslang sichere und bezahlbare Mieten haben“ (youtube-Video). Die Senior*innen haben die Banner der Kampagne aus ihren Fenstern gehängt, einige Nachbar*innen ebenfalls.
Vom Vorstand der Genossenschaft bekamen sie daraufhin die Androhung einer fristlosen Kündigung, wenn sie die Banner nicht bis zum 8. März um 12h entfernen. Das irritiert aus vielerlei Gründen. So entstand die Genossenschaft aus einer Initiative, die 2007 mit dem Slogan „Anonyme Investoren oder WIR?“ auftrat. Ein Vorzeigeprojekt sollte es werden, „eine gemeinschaftliche und Generationen verbindende Wohnanlage, die ökologisch, nachhaltig, barrierefrei und sozial ist“. Das Projekt geriet noch während der Bauphase in Schwierigkeiten (MieterEcho online, 02.02.2016). Erst mit einem Wechsel von Aufsichtsrat und Vorstand gelang es, die drohende Insolvenz abzuwenden (MieterEcho 360, April 2016).
Genossenschaft für Gemeinwohl?
Die Genossenschaft ist stolz auf ihr Gemeinwohl-Testat: „Als erstes großes deutsches Wohnungsunternehmen hat die Möckernkiez eG im November 2020 eine Gemeinwohlbilanz vorgelegt“. Während eine herkömmliche Bilanz lediglich das finanzielle Geschäftsergebnis ausweist, stellt eine Gemeinwohl-Bilanz dar, wie ein Unternehmen gegenüber allen Beteiligten und Geschäftspartner*innen handelt. Dabei werden die Bereiche Menschenwürde, Solidarität und Gerechtigkeit, Ökologische Nachhaltigkeit sowie Transparenz und Mitentscheidung untersucht. Die Gemeinwohlökonomie (GWÖ) geht auf Christian Felber zurück und versteht sich als Bewegung für eine andere Wirtschaftsweise.
Bei einer Veranstaltung im Möckernkiez zu deren Gemeinwohlbilanzierung am 4. Februar 2020 verkündete Vorstand Frank Nitzsche stolz, er wolle nun die ganze Immobilienbranche der Stadt dazu bringen, die GWÖ einzuführen. Der externe Auditor Bernhard Oberrauch lobte das Projekt in den höchsten Tönen, nachdem er dort im Herbst 2020 zu Besuch war: „Überhaupt kann der Möckernkiez mit den Beteiligungsgremien, in denen ein Interessenausgleich stattfindet, für viele ein Vorbild sein“ und: „Ganz wichtig ist, das Wissen mit anderen Wohnungsgenossenschaften zu teilen. In Vielem ist der Möckernkiez Vorreiter, der andere motivieren kann, auch über den eigenen Beitrag zum Gemeinwohl nachzudenken.“ (Möckernkiez Newsletter Nr. 24, September 2020).
Nun ist ja das Gemeinwohl ein sehr schwammiger Begriff (Rabe Ralf, April 2019). Die Gemeinwohlbilanzierung versucht dafür Kriterien zu benennen. In der von ihnen selbst erstellten Gemeinwohlbilanz schreiben die Genoss*innen: „Der Möckernkiez ist eine partizipative Genossenschaft. Teilhabe- und Mitwirkungsmöglichkeiten im Unternehmen gehen weit über das im Genossenschaftsgesetz Festgelegte hinaus.“ Der Auditor bestätigt das in seinem Bericht: „Es werden auf formeller und informeller Ebene neue Möglichkeiten direkter Demokratie erprobt (z.B. liquid democracy), in die die Bewohnerinnenschaft in ihrer Heterogenität einbezogen ist. Dazu gehören auch Mediationsverfahren im Konfliktfall.“
Die Genossenschaft Möckernkiez wird gelb
Auf der Website der Alten-WG finden sich Fotos eines Projekts „Fassadenpalaver“, wo auch Banner aus den Fenstern hängen: „Wenn CO2 ein Virus wäre“ und „Rassismus tötet“, die bis September 2020 dort hingen. Günter Piening, der in der Redaktionsgruppe für die Gemeinwohlbilanz mitgearbeitet hatte, schreibt auf der Website der Initiative „Die Genossenschafter*innen“ zum Bannerstreit, dass damals der Beirat, eine Vertretung der Hausgemeinschaften, „nach intensiver Diskussion den Beschluss“ gefasst hätte: „Die Entscheidung zur Gestaltung der Fassaden und Balkonaußenseiten geht von oder mit der jeweils anwohnenden Nutzerin bzw. dem Nutzer aus. Im Streitfall zwischen Mitbewohner:innen im Haus entscheidet die Hausversammlung dieses Hauses.” Und weiter: „Um so überraschender kam für alle Beteiligten, dass Vorstand Frank Nitzsche zum schärfsten Sanktionsmittel griff, das das Mietrecht anbietet: die Androhung einer fristlosen Kündigung, wenn die Transparente nicht innerhalb von drei Tagen entfernt werden“.
Kündigungsdrohungen machen Angst und schüchtern ein. In einer Pressemitteilung schreiben die Betroffenen, dass sie dazu beitragen wollen, dass Menschen nicht aus Profitinteresse vertrieben werden, und: „Jetzt müssen wir, fast 25 Bewohner*innen, selbst um unseren Wohnraum bangen“. Einfach klein beigeben wollten die Senior*innen und ihre Nachbar*innen jedoch nicht und luden für den 8. März zu einer Aktion ein: „Wir haben jetzt keine andere Wahl als die zensierten Banner abzuhängen. Die Banner werden im Rahmen der Protestaktion an andere Mieterinnen der Stadt weitergegeben – bis sie wieder bei uns im Möckernkiez hängen können.“
Zur Kundgebung kamen Nachbar*innen und Leute aus anderen Hausprojekten, neben Mitgleidern des Möckernkiez von der Alten-WG, von der Familien-WG und von der AG Klimawandel sprachen unter anderem auch Vertreter*innen des ehemals besetzten Hauses in der Großbeerenstraße, von den Häusern Großgörschen-/Katzlerstraße, die noch immer wegen einem Rechtsstreit um das Vorkaufsrecht bangen müssen (MieterEcho 412, Oktober 2020) und von der Hausgruppe Oranienstraße 3, die die abgehängten Banner mitnahmen und bei sich aufgehängt haben.
Fotos von Elisabeth Voß:
Überall waren Plakate für das Volksbegehren zu sehen und im Möckernkiez hingen gelbe Tücher – gelb wie die Banner für das Volksbegehren, aber ohne Aufschrift – aus Fenstern und von Balkonen. „Das ist ja wie in einer Diktatur“ war mein erster Gedanke. Wo die freie Meinungsäußerung untersagt oder mit existenzgefährdenden Strafen belegt wird, greifen Leute zu Mitteln, ihre Meinung auf eine Weise kundzutun, die deutlich ist, ohne sich angreifbar zu machen. Eine Kündigungsdrohung in Berlin ist sehr existenziell.
Wo bleibt der Genossenschaftsgedanke?
Auf Nachfrage begründet Vorstand Frank Nitzsche die Kündigungsdrohung: „Es ging um die vertragswidrige Anbringung von sechs Bannern an der Hausfassade mit politischen Äußerungen, wobei es ausdrücklich nicht um den Inhalt/die Aussage ging.“ Eine Kündigung haben die Mitglieder nun nicht mehr zu fürchten: „Da die betreffenden Bewohner die Banner innerhalb der von uns gesetzten Frist abgenommen haben, ist die Angelegenheit für uns damit abgeschlossen“.
Der Möckernkiez-Vorstand hat nicht nur eine Chance vertan, deutlich zu machen, dass Genossenschaften anders sind als profitgetriebene Immobilienkonzerne, sondern er hat auch wieder einmal gezeigt, dass es ihm offensichtlich am Verständnis des Genossenschaftsgedankens mangelt. Eine Genossenschaft ist gesetzlich auf die Förderung ihrer Mitglieder verpflichtet. Das Unternehmen gehört den Mitgliedern, die Vorstände sind deren Angestellte. Nitzsches Bekenntnis zur Gemeinwohlbilanzierung bekommt den schalen Beigeschmack eines inhaltsleeren Werbespruchs – nicht zum ersten Mal. Im Sommer letzten Jahres behauptete er, die Genossenschaft sei durch den Mietendeckel gefährdet und könne 2026 in die Insolvenz geraten (Tagesspiegel, 05.07.2020).
Die Initiative „Die Genossenschafter*innen“ gründete sich im Februar 2020 aus den Protesten von Genossenschaftsmitgliedern gegen die Politik ihrer Vorstände. Viele große Genossenschaften sind Mitglied im „Verband Berlin-Brandenburger Wohnungsunternehmen“ (BBU), dem auch Konzerne wie Deutsche Wohnen und Vonovia angehören. Wenn Genossenschaftsvorstände bei der Lobbyarbeit des BBU gegen Enteignungsdiskussionen und Mietendeckel mitmachen, dann richten sie sich gegen die Interessen ihrer Mitglieder (MieterEcho 406, Dezember 2019). Vier Berliner Wohnungsgenossenschaften klagen sogar vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Mietendeckel (MieterEcho online, 18.02.2021). Mit dem Genossenschaftsgedanken der Mitgliederförderung hat das nichts zu tun.
Es ist höchste Zeit für frischen Wind im Genossenschaftswesen. Die Macht der Vorstände ist zwar auch im Genossenschaftsgesetz und in vielen Satzungen festgeschrieben, aber sie korrespondiert auch mit der Passivität der Mitglieder. Das scheint sich langsam zu verändern. Immer mehr Mitglieder sind unzufrieden und beklagen sich nicht nur, sondern nehmen aktiv Einfluss auf ihre Genossenschaft. Sie stellen kritische Fragen, nehmen ihre Mitgliederrechte wahr und kandidieren für die Vertreter*innenversammlung oder für den Aufsichtsrat. Die Demokratisierung von Genossenschaften ist eine große Herausforderung, sie kann sicher nicht von oben kommen, sondern liegt in der Hand der Mitglieder selbst.
Transparenzhinweis: Die Autorin moderierte im Auftrag der Möckernkiez Genossenschaft deren Veranstaltung „Wie viel Gemeinwohl steckt im Möckernkiez?“ am 4. Februar 2020 und für Die Genossenschafter*innen die Podiumsdiskussion „Die Rolle der Wohnungsgenossenschaften auf dem Weg zu einer sozialen Wohnungspolitik“ beim Alternativen Genossenschaftstag am 25.09.2020.
Der Artikel erschien am 11.03.2021 im MieterEcho online.