Christian Müller für die Online-Zeitung INFOsperber
Nur noch selten ist von ihm die Rede. Immerhin, vor ein paar Tagen, im Hinblick auf seinen 90. Geburtstag, brachte sogar die «Washington Post» zu seinen Ehren einen längeren Gastbeitrag. Die Autorin, Katrina vanden Heuvel, ist die Witwe des im letzten Herbst verstorbenen Russistik-Professors Stephen F. Cohen, der auch persönlich mit Gorbatschow verkehrte. Und sie ist Mitherausgeberin der US-amerikanischen Wochenzeitschrift «The Nation». Sie weiss, wer auf dieser Welt etwas Entscheidendes zu sagen hatte und noch immer hat. Die Headline ihres Gorbatschow-Portraits in der «Washington Post» lautet denn auch unmissverständlich: «Here’s what leaders facing global crises can learn from Mikhail Gorbachev» (Das ist es, was politische Führungsleute in Anbetracht globaler Krisen von Michail Gorbatschow lernen können.)
Katrina van den Heuvel beginnt ihr Portrait mit einer aktuellen Aussage Gorbatschows:
«‹Was wir jetzt dringend brauchen, ist ein Überdenken des gesamten Konzepts der Sicherheit›, sagte der frühere sowjetische Präsident Michail Gorbatschow im vergangenen Jahr, nur einen Monat, nachdem die Covid-19-Pandemie das Leben auf der ganzen Welt fast zum Stillstand gebracht hatte. Anstatt Sicherheit rein militärisch zu messen, wie wir es gewöhnlich tun, ‹muss das übergeordnete Ziel die menschliche Sicherheit sein: die Bereitstellung von Nahrung, Wasser und einer sauberen Umwelt und die Sorge um die Gesundheit der Menschen.›
Gorbatschow war als Reformer erwünscht
Gorbatschow wurde 1985, damals 54jährig, Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und damit de-facto-Staatschef. Von März 1990 bis Dezember 1991 war er dann auch formell Staatspräsident der Sowjetunion. Mit seinen beiden Publikationen «Glasnost» (Transparenz) und «Perestroika» (Umbau) leitete er wichtige und notwendige Reformen ein. Und nicht zuletzt aussenpolitisch setzte er neue Schwerpunkte. Er war es, der die Wiedervereinigung Deutschlands ermöglichte. Leider wurde er am 19. August 1991 in Moskau weggeputscht, während er in Phoros auf der Halbinsel Krim Sommerferien genoss und dort unter Hausarrest gestellt wurde. Seit dem Tod seiner Frau Raissa 1999 lebt Gorbatschow in seiner Datscha in einem Vorort von Moskau.
In Russland geniesst Gorbatschow – leider – nicht grosses Ansehen. Es wird ihm dort vorgeworfen, die DDR an Deutschland sozusagen verschenkt zu haben, ohne einen Vertrag zu verlangen, wonach eine Osterweiterung der NATO verboten sein sollte. Und man kritisiert, dass er mit Glasnost und Perestroika zwar richtige Reformen vorangetrieben habe, dass er für die Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aber keinen Plan gehabt habe und konzeptlos hineingeschlittert sei.
Was man aber auch heute und auch zuoberst im russischen Establishment nicht vergessen hat, sind Gorbatschows Bemühungen für internationale Abrüstung. So etwa hat der russische Aussenminister Sergej Lawrow am 25. Februar 2020, also genau vor einem Jahr, in seiner Rede an der 43. Tagung des UN-Rats für Menschenrechte in Genf darauf aufmerksam gemacht, dass Russland die damaligen Gespräche zwischen Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan inhaltlich wieder aufnehmen möchte. Die «Gorbatschow-Reagan-Formel», wonach es in einem Atomkrieg keinen Sieger geben kann und ein solcher Krieg also nie entfacht werden darf, sollte bestätigt oder noch besser gestärkt werden. Leider habe Russland von den USA zu diesem Vorschlag bisher noch keine Antwort erhalten.
Gorbatschow plädiert noch immer für eine sicherere Zukunft
Katrina vanden Heuvel macht in der «Washington Post» darauf aufmerksam, dass Michail Gorbatschow noch immer für eine sicherere Welt eintritt und vor allem für drei Massnahmen plädiert:
«Erstens: Militarisierung macht uns nicht sicherer. Als sowjetischer Führer sah Gorbatschow aus erster Hand, wie sie stattdessen die Bedrohung durch Gewalt sogar oft eskalieren lässt, indem sie andere Länder dazu bringt, ihre Militärs ebenfalls aufzurüsten. Diese teuren Investitionen ziehen Ressourcen von Investitionen in Grundbedürfnisse wie Gesundheitsfürsorge und Bildung ab, die die menschliche Sicherheit wirklich vertiefen könnten. Gorbatschow, einer der engagiertesten Rüstungsreduzierer, der jemals eine Atom-Macht geführt hat, war revolutionär, als er in den 1980er Jahren die vollständige Abschaffung der Atomwaffen forderte. Zu einem grossen Teil ist es seiner Führung zu verdanken, dass bis zum Jahr 2015 85 Prozent der amerikanischen und russischen Atomwaffenarsenale auf dem Stand der Ära des Kalten Krieges ausser Dienst gestellt worden sind. Doch seine Vision der Entmilitarisierung bleibt nicht nur unvollendet, sondern ist zunehmend bedroht. Wichtige Rüstungsverträge sind ausgelaufen, und einige Nationen, darunter die USA, Russland und China, modernisieren nun ihre Arsenale. Die Vereinigten Staaten planen zum Beispiel die Bestellung von 600 neuen Langstreckenraketen mit Atomsprengköpfen, von denen jede 20-mal stärker ist als die über Hiroshima abgeworfene Bombe. Die Gesamtkosten? 100 Milliarden Dollar! […] Wir gewinnen weitaus mehr Sicherheit, wenn wir in die Gesundheit und das Wohlergehen unserer Zivilisation investieren, als wenn wir 600 neue Möglichkeiten kaufen, unsere Zivilisation zu zerstören.»
«Die zweite wichtige Einsicht Gorbatschows ist, dass Sicherheit mit Kooperation beginnt, selbst wenn diese Kooperation unmöglich erscheint. Präsident Ronald Reagan nannte die Sowjetunion bekanntlich ein ‹böses Imperium› (‹evil empire›). Diese Ausgangslage würde viele in Gorbatschows damaliger Position davon abhalten, auch nur den Versuch zu unternehmen, einen Dialog zu eröffnen. Aber, wie ich Gorbatschow im Laufe der Jahre oft in Versammlungen sagen hörte, ‹wenn wir nicht versuchen, auch was unmöglich erscheint, riskieren wir, mit dem Undenkbaren konfrontiert zu werden.› Also blieb er hartnäckig – und schliesslich kamen beide Führer zu der Einsicht, dass niemand den Kalten Krieg gewinnen konnte. Wie Gorbatschow es ausdrückte: ‹Wir haben erst gewonnen, als der Kalte Krieg zu Ende war›. Die unwahrscheinliche Partnerschaft mit Reagan hat die ganze Welt sicherer gemacht.»
Und Katrina vanden Heuvel in der «Washington Post» weiter:
«Schliesslich erinnert uns Gorbatschow daran, dass eine der besten Möglichkeiten, unsere nationale Sicherheit zu schützen, darin besteht, unsere demokratischen Institutionen zu erhalten und zu fördern. Gorbatschow hat gezeigt, wie selbst Führer, die aus autoritären Systemen hervorgegangen sind, wichtige Reformen zur Förderung der Demokratie durchführen können. Ab 1985, als er an die Macht kam, führte Gorbatschow Präsidentschafts- und Parlamentswahlen ein, die bis heute die freiesten und fairsten Wahlen in der Geschichte Russlands sind. Seine charakteristische Politik der Glasnost – also Offenheit – rollte sieben Jahrzehnte der staatlichen Zensur zurück. Er investierte sogar in den unabhängigen Journalismus, indem er einen Teil seines Nobelpreisgeldes der «Novaya Gazeta» vermachte, der führenden demokratischen Oppositionszeitung des Landes, die weiterhin wichtige investigative Berichte veröffentlicht.»
Katrina vanden Heuvel schliesst ihr Gorbatschow-Portrait mit den folgenden Worten:
«Es ist 30 Jahre her, dass Gorbatschow die Macht abgegeben hat. Aber seine grundlegende Einsicht, dass wahre Sicherheit besser durch Entmilitarisierung, Kooperation und Demokratisierung erreicht werden kann, gilt heute umso mehr, als die Bedrohungen unserer Sicherheit in mehr Formen denn je auftreten. Diese neue Situation zu verstehen, ist kein Idealismus. Es ist Realismus.»