Einem Bericht der Nationalen Vereinigung von trans Personen und travestis (ANTRA) zufolge wurden im vergangenen Jahr in Brasilien 175 trans Frauen ermordet. Im Vorjahr wurden 124 trans Personen ermordet, was einen Anstieg um 41 Prozent ausmacht. 78 Prozent der Opfer waren Schwarze Frauen.
Die Vereinigung ANTRA veröffentlichte diese Daten in einem Dossier zum 29. Januar, dem landesweiten Tag für die Sichtbarkeit von trans Personen. Ihrer Statistik zufolge liegt die Zahl der ermordeten trans Personen 43,5 Prozent über dem seit 2008 ermittelten Gesamtdurchschnitt. In den vergangenen 13 Jahren haben sich die Straftaten mehr als verdoppelt. Anders als in anderen Jahren wurden 2020 ausschließlich travestis und trans Frauen ermordet. Über die Tötung von trans Männern wurde nichts bekannt.
Die Monate mit der höchsten Anzahl an Morden waren Januar, Februar, Mai, Juni, August und Dezember. Die Zahlen belegen, dass es während der Corona-Pandemie einen bedeutenden Anstieg an Morden gab. Trans Personen leben während der Pandemie in einer Situation, in der sie sozioökonomisch noch verletzbarer sind.
Bundesstaat São Paulo mit den höchsten Zahlen
Die absoluten Zahlen zeigen, dass im Bundesstaat São Paulo mit 29 Fällen die meisten Morde stattfanden – ein Anstieg von 38 Prozent gegenüber den Fällen im Jahr zuvor. Zum zweiten Mal in Folge weist der Bundesstaat die höchste Zahl auf. Bereits im Jahr 2019 gab es im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg um 50 Prozent.
Nach São Paulo folgt Ceará mit 22 Fällen und einem Anstieg um 100 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Der Bundesstaat im Nordosten Brasiliens war bereits im Sommer stark in den Medien, denn in den Monaten Juli und August ereigneten sich insgesamt neun Morde an trans Personen. Der Bundesstaat Bahia taucht im Dossier mit 19 Morden an dritter Stelle auf. Die drei Bundesstaaten bilden seit 2017 die Spitze dieser Liste. Die Staaten Minas Gerais und Rio de Janeiro stehen an vierter und fünfter Stelle.
Bruna Benevides, Zuständige für politische Arbeit bei ANTRA und eine der Autor*innen des Dossiers erklärt, dass die Gewalt gegen trans Personen in unmittelbarem Zusammenhang zu ihrem fehlenden Zugang zu Grundrechten wie dem Recht auf Bildung und Gesundheit stehen. Auch der Ausschluss aus ihren Familien und fehlende politische Maßnahmen tragen dazu bei.
Die verschiedenen Formen von Gewalt und die strukturelle staatliche Misswirtschaft machen es trans Frauen unmöglich, die soziale Distanzierung während der Ausbreitung des Coronavirus einzuhalten, so Benevides. So waren sie während der größten Gesundheitskrise in der Geschichte der Gefahr einer Ansteckung besonders ausgeliefert. „Wir sprechen hier von einer Bevölkerungsgruppe, von der ein großer Teil unter prekären Bedingungen lebt und die sich, auch während der Pandemie, auf der Straße prostituieren muss. Dort boten sie eine umso größere Angriffsfläche: Ein Szenario mit weniger Polizei und anderen Menschen auf der Straße begünstigt die Straflosigkeit“, sagt Benevides.
„Das Gesprochene an sich tötet nicht, aber es bestimmt ein Ziel der Gewalt“
Wie ANTRA dokumentiert, waren 73 Prozent der ermordeten travestis und trans Frauen Sexarbeiter*innen. Die Organisation hebt hervor, dass davon 90 Prozent als Prostituierte tätig und nur sechs Prozent in Angestelltenverhältnissen und vier Prozent im informellen Feld sind. Benevides, selbst trans Frau und die einzige trans Person in der brasilianischen Marine, beobachtet, dass die Grausamkeit der Verbrechen besonders ausgeprägt ist. Sie spricht von Gewaltexzessen und Verstümmelung der Körper. Für sie sind die Morde auf die hassbeladenen Äußerungen in Brasilien zurückzuführen: „Wir beobachten einen unproportionalen Anstieg [der Fälle] im selben Moment, in dem die Politik und vor allem die Regierung öffentlich, und das auch auf internationaler Ebene, ihre und Anti-trans- und Anti-Gender-Positionen einnimmt“, so Benevides. Ihr zufolge mache die Regierung aus trans Personen Feind*innen, indem sie sich gegen die Debatte um Gender-Diversität positioniert. „Wenn sich das im Geist des normalen Bürgers festsetzt, spornt das Hass an, der sich im Mord entfaltet. Das Gesprochene an sich tötet nicht, aber es bestimmt ein Ziel der Gewalt“, meint die Aktivistin.
Neben den Morden könne Hate-Speech auch „zum Suizid führen, zu Erkrankungen der geistigen Gesundheit“, mahnt Benevides. „Es gibt mehrere Morde: den symbolischen, wenn die Geschlechtsidentität oder der Name der Person nicht respektiert wird; wenn trans Personen keine Anstellung finden oder nicht am sozialen Leben teilnehmen und zuletzt die Tötung als Auslöschung der Existenz“, führt sie an. Der Organisation Transgender Europe zufolge war Brasilien auch 2020 das Land, in dem die meisten Morde an trans Personen stattfanden – im 13. Jahr in Folge.
175 Morde im Jahr 2020, Bericht offenbart rassistische Markierung der Transfeindlichkeit
Allein zwischen März und April, während das Coronavirus sich im Land auszubreiten begann, wurden in Brasilien 66 Morde an trans Personen dokumentiert. Die Wachstumstendenz bleibt aufrecht und so wurde bereits zwischen Juli und August die Anzahl von 132 Toten der Ermordeten in 2019 übertroffen. Es kamen immer weitere Fälle dazu, bis in den letzten zwei Monaten des Jahres die Anzahl von 149 auf 175 Tötungen anstieg. Dem ANTRA-Dossier zufolge lag die höchste Konzentration der Morde im Nordosten Brasiliens, wo 43 Prozent der Verbrechen stattfanden. Die Region befindet sich seit der Veröffentlichung des ersten Berichts an dieser Position. Die Region Südosten folgt dem mit 34 Prozent der Fälle. Im Süden traten acht Prozent der Fälle auf. Der Norden und Mittlere Westen dokumentierten jeweils sieben Prozent.
Mit den Daten des Berichts wird eine rassistische Markierung der Transfeindlichkeit offengelegt: Menschen, die sich zuvor als Schwarze travestis oder Schwarze trans Frauen, als Schwarz oder parda definierten, machten 78 Prozent der Gesamtzahl der Fälle aus. In drei Prozent war eine Zuordnung der Todesopfer nicht möglich. Ein weiterer hervorstechender Punkt ist das Alter der ermordeten trans Frauen, die seit Jahren immer jünger sterben. Die Statistik der Morde im Jahr 2020 zeigt, dass das Durchschnittsalter der Opfer bei 29,5 Jahren lag. Dies bestätigt die durchschnittliche Lebenserwartung einer brasilianischen trans Person von 35 Jahren – die Hälfte der Lebenserwartung auf Landesebene.
Betrachtet man die 109 Fälle, in denen es möglich war, das Alter der Opfer zu identifizieren, so waren 61 ermordete Personen, also über die Hälfte, zwischen 15 und 29 Jahren alt. Weitere 31 (28,4 Prozent) waren 30 bis 39 Jahre alt, acht (7,3 Prozent) zwischen 40 und 49. 9 ermordete trans Frauen (8,3 Prozent) im Alter zwischen 50 und 59 Jahren ermordet. Fast drei Viertel aller Morde fanden im öffentlichen Raum statt. Acht Opfer waren wohnungslose Personen.
Auswirkungen der Covid-19-Pandemie
Im Dossier wird besonders hervorgehoben, dass trans Personen während der Pandemie keine Hilfe gewährt wurde. Die Untersuchungen schätzen, dass etwa 70 Prozent der travestis und trans Frauen keinen Zugang zu den Coronamaßnahmen des Staates wie der finanziellen Nothilfe hatten.
Neben der ohnehin bereits prekären Alltagssituation verhinderten andere soziale Umstände einen Zugang zu den entsprechenden Plattformen der Behörden. Ohne andere Möglichkeiten zu haben, musste also die Arbeit auf den Straßen fortgesetzt werden, was diese Bevölkerungsgruppe während aller Phasen der Pandemie dem Virus besonders aussetzte. Von 150 travestis und trans Frauen gab über die Hälfte an, zur Risikogruppe für eine Erkrankung an Covid-19 zu gehören.
Es gab weiterhin keine Empfehlungen aus dem Gesundheitsbereich, die speziell an die Lebensrealität von trans Personen angepasst waren. Auch wenn es dazu noch keine abschließenden Studien gibt, so weist das Dossier darauf hin, dass die Nutzung von Hormonen und industriell gefertigtem Silikon Risikofaktoren für das Coronavirus seien. Silikon beispielsweise kann Entzündungen verursachen, die unbeaufsichtigte Einnahme von Hormonen kann zu einer Erhöhung von arteriellem Blutdruck führen.
Nach einer Analyse von Daten, die über die Kanäle von ANTRA eingingen und anderen Fällen, über die im Internet berichtet wurde, wurden 16 Todesfälle von trans Personen im Zusammenhang mit Atemwegserkrankungen verzeichnet. Allerdings wird im Dossier darauf hingewiesen, dass die Zahl weitaus höher liegen kann, da die Institutionen immer wieder Schwierigkeiten darin beweisen, Personen anhand ihrer Geschlechtsidentität zu identifizieren und nicht anhand ihres biologischen Geschlechts und ihrer Geschlechtsorgane.
Unbekannte Realitäten
Der Mangel an Informationen über trans Personen als Bevölkerungsgruppe lässt sich nicht nur auf den Moment der Pandemie beschränken. Bruna Benevides erklärt, dass es sich dabei um ein strukturelles Problem in Brasilien handele. Es gebe eine regelrechte Auslöschung von Daten, wenn es um LGBTI-Personen und besonders wenn es um trans Personen geht.
Erst 2020 wurden in der jährlich erscheinenden Statistik über öffentliche Sicherheit Daten über Gewalt an lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans und intergeschlechtlichen Personen veröffentlicht. Die 15 Bundesstaaten und der Regierungsbezirk haben jedoch keinerlei eigene Datenlage über Gewaltakte, die durch die sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität des Opfers motiviert waren.
Die meisten staatlichen Stellen erhalten ihre Informationen von der Meldestelle für Erkrankungen (Sinan), die ihre Daten aus den Annahmestellen des öffentlichen Gesundheitssystems und des Nottelefons für Fälle von (häuslicher) Gewalt Disque 100 bezieht. Für Bruna Benevides ist klar, dass der Unwille, Gewalttaten zu dokumentieren und der allgemeine „Daten-Blackout“ im Zusammenhang mit trans Personen Teil einer bewussten Politik sind: „Zum Beispiel nicht zu wissen, wie viele wir sind – wir haben keine Bevölkerungsdaten über LGBTI-Personen – zeigt, dass der Staat kein Interesse daran hat, dieses Profil zu verfolgen, eben damit er die Besonderheiten nicht anerkennen muss. Wenn dieses Nicht-Melden zur politischen Maßnahme wird, muss der Staat keine finanziellen Mittel oder Gesetze gegen Transphobie einsetzen“, erklärt die Aktivistin.
Angesichts dessen, was das Dossier als „Politik des Todes“ und die Aufrechterhaltung der Gewalt durch Hate-Speech definiert, steht es perspektivisch schlecht um das Überleben brasilianischer trans Frauen und travesti. Gleich in den ersten Tagen dieses Jahres wurde Keron Ravach als jüngstes trans Mordopfer im Land getötet. Die 13-Jährige wurde unter brutaler Gewaltanwendung mit Steinschlägen und Messerstichen in einer Kleinstadt im Bundesstaat Ceará ermordet. „Wir haben 2021 schon elf Morde und sieben Mordversuche. Das sind 18 Vorfälle in 29 Tagen. Das ist wirklich besorgniserregend“, bedauert Benevides.
Übersetzung: Nadine Weber