Erdgeschichtlich existiert eine natürliche Spannungslinie entlang den pazifischen Küstenregionen als Teil des vulkanischen Feuerringes. Eine zweite, von Menschen gemachte beherrscht seit etwa 5 Jahrhunderten von Kap Horn bis zum Rio Grande del Norte, der Grenze zu den USA. Es ist die Zeitspanne der Kolonialgeschichte Spaniens, Portugals und der anschließenden Profitlogik voller sozialer Spannungen.
Die Eroberung des amerikanischen Kontinents durch europäische Feudalmächte vollzog sich mit einer gewaltsamen Aneignung aller Landflächen und der Bodenschätze. Gemeineigentum wurde in Privateigentum umgewandelt. Im Gefolge der Machtausübung wurde eine europäische Rechtssystem eingeführt, beispielsweise Grundbücher zum Landbesitz und Ureinwohner wurden Privateigentum der Landbesitzer oder Leibeigene. Die feudale Rangordnung „Gott : Kaiser : Adel : Untertan“ galt fortan auch für die Völker des amerikanischen Südkontinents. An politischen Wahlprozessen konnten nach der Eroberung nur Landesbürger teilnehmen, die amtlich registriert waren und die Steuern zahlten. Das waren die weißen Männer. Frauen erhielten Rechte meist erst im 20. Jahrhundert. Landarbeiter, informell Arbeitende, Hauspersonal u.ä. Stände waren so von Wahlen ausgeschlossen.
In der Neuzeit haben sich im Verlauf der marktwirtschaftlichen Ordnung, mit ihrer neoliberalen Ausprägung und den Finanzmarkt-Instrumenten, neue Widersprüche und soziale Spannungen aufgebaut.
Hauptgrund war und ist die erzwungene Arbeitsteilung zwischen der Rohstoffförderung in den Ländern Lateinamerikas und der Rohstoffverarbeitung in den USA und Industrieländern Europas. Der lukrative Teil des Wertbildungsprozess der Rohstoffverarbeitung fand im Ausland statt. Er standen für die finanzielle Akkumulation in Lateinamerika nicht zur Verfügung. Industriell verarbeitete Produkte kamen und kommen überwiegend per Import in die Länder. Im Klartext: Die notwendigen Finanzmittel zur Entwicklung des Bildungswesens, der Wissenschaften, der Technologien, sowie zum Aufbau von Industrien wurden in den Industrieländer generiert. Hinzu kommt, dass die Entwicklungsländer Lateinamerikas keine Wertbildungsanteile aus dem Rohstofftransport, der Versicherung, der Kreditierung etc. durch die Monopole der Industrieländer erhielten. Beispiel: Das erdölreiche Venezuela hat keine Tankerflotte und muss Benzin importieren, um den Inlandsbedarf voll abzudecken. Der bolivianische Ex-Präsident Evo Morales sagte bei der Vorstellung seines Programms der plurinationalen Regierung 2006:
“Wir können nicht noch einmal 500 Jahre warten, um die Menschenwürde unseres Volkes wieder herzustellen.“
Der Rio Grande del Norte ist nicht nur Staatsgrenze zwischen Mexiko und den USA, sondern er trennt unterschiedliche Auffassungen zum politischen Ordnungssystem und zu den Wirtschaftskreisläufen zum Wohle der Bevölkerung.
Die politischen Spannungsverhältnisse Lateinamerikas sind in die weltweiten Auseinandersetzungen zwischen den Systemen in West und Ost eingebettet. Frühestens seit dem Mexiko nach der Bauernrevolution 1917 soziale Rechte in seine fortschrittliche bürgerliche Verfassung verankert hatte und spätesten seit der erfolgreichen Revolution in Kuba. Die sozialen Ideen erhielten Mitte des 20. Jahrhundert in Nikaragua, Chile, Guatemala, El Salvador, Peru, Brasilien, Bolivien, Panama, Haiti u.a. Ländern Zustimmung. Die von Präsident Kennedy 1961 initiierte „Allianz des Fortschritts“ brachte keine Trendwende zu Gunsten der Lateinamerikaner. Auch nicht die von Präsident Bush vorgeschlagene Freihandelszone von Alaska bis Kap Horn. Die Politik des Internationalen Währungsfonds und die Handelsbedingungen der westlichen Konzerne brachten für Lateinamerika in der Realität ein verlorenes Jahrzehnt zur Problembewältigung.
Das konservative System setzt auf die Beibehaltung der Logik der Kapitalanhäufung als Entwicklungsmotor mit fatalen Folgen sozialer Spaltungen und Zerstörung der Natur. Das grundsätzlich sozial und ökologisch orientierte Lager setzt auf soziale Gleichstellung und in ihrer zweiten Phase auf die Einhaltung der Gesetze der Natur. Die Alternative Lateinamerikas wurde ab den 70-ziger Jahren des 20. Jahrhunderts von der Bewegung der Befreiungstheologie mit ihren urchristlichen Themen der sozialen Gerechtigkeit und Lebensbejahung begleitet. Es ist nicht verwunderlich, dass der amtierende Papst Franziskus, ein Argentinier, die jetzige kapitalistische Art des Wirtschaftens als einen Tanz um das „Goldene Kalb“, jenseits humaner Herausforderungen verurteilt und zur Meinung gelangt: „Diese Wirtschaft tötet“. Diese Einschätzung unterscheidet sich deutlich von den vorherigen Päpsten Paul II. (Jozef Woytila) und Benedikt der XVI. (Joseph Aloisius Ratzinger).
Im Gegensatz zu anderen Kontinenten der Erde ist die wirtschaftliche Integration Lateinamerikas bisher nur gering entwickelt. Die spanische Kolonialmacht hat den Handel zwischen seinen Kolonien verboten. Eisenbahnverbindungen und Stromnetze zwischen den Ländern sind noch heute rudimentär. Die Haupthandelsströme verlaufen nicht untereinander. Die USA nehmen jeweils die ersten Plätze in den Export- und Importstatistiken ein. Erst anfangs des 21. Jahrhunderts unternahmen Venezuela und Kuba besondere Anstrengungen zur Integration mit dem 2004 geschaffenen Alba-Verbund (9 Länder mit wirtschaftlichen Schwerpunkten), der seine politische Erweiterung 2010 in der Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten (33 Länder mit 581 Millionen Einwohnern) fand. Die Wurzeln für das gemeinsames Handeln gehen auf Simon Bolivar (1783-1830) zurück. Seine Visionen galten im übertragenden Sinn einem „Großen Vaterland“ (Patria Grande).
Die Schwerpunkte der lateinamerikanischen Alternativen sind nachlesbar in ihren neuen Verfassungen mit starken demokratischen und partizipativen Elementen oder mit Festlegungen, die die Natur als Rechtssubjekt bestimmen. Zu beachten sind indigene erkenntnistheoretische Vorstellungen des „Buen vivir“ (auskömmliches Leben). Ihre Erkenntnisse stehen der frühbürgerlichen Aufklärung Europas nah. Beispiele: Rousseau, “Das Volk ist alleiniger Souverän mit unteilbaren, unveräußerlichen Rechten oder „Die Früchte der Erde gehören allen, doch die Erde selbst niemanden“.
Die Bürgerliche Revolution von 1789 wurde von den Losungen der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit getragen. Die Gleichheit und Brüderlichkeit ging in den Kolonien und der anschließenden hegemonialen Entwicklung in der westlichen Welt verloren. Mit den neuen lateinamerikanischen Alternativen soll ihr gesellschaftlicher Stellenwert wieder gehoben werden, eingepasst die Menschenrechte gemäß der Charta der UNO.
Gewalteingriffe von außen, Militärdiktaturen, versorgt mit Waffen und Beratungen vom Norden, sowie Sanktionen haben die politischen Spannungen erhöht.
Seit 1847 wurden 48 Militärinterventionen vom Norden des Kontinents kommend unternommen. (BUO, R, Gerhard Antwort an R. Lee Ermey, 22.10. 2016, 19.33 Uhr). Die Nummer 49 befindet sich in einer Planungs- und Manöverphase gegen Venezuela. Die grundsätzliche Solidarität in Lateinamerika und vernunftbegabte Kräfte in den USA geben Hoffnung, dass es zu keinem Ausbruch kommt.
In den vergangenen 171 Jahren gab es in Lateinamerika, mit 3 Ausnahmen, zwischen den Staaten keine Kriege, jedoch Militärdiktaturen und bewaffnete Rebellionen. Die Waffen kamen vom Ausland. Der Hotspot der gegenwärtigen Spannungen liegt in Kuba, Venezuela, Bolivien, Honduras, Chile, Nikaragua und Ecuador.
Geschichtlich gab es in Mexiko die größten Spannungsentladungen Lateinamerikas. Mexiko verlor 1848 unwiederbringlich etwa die Hälfte seines Territoriums an die USA. Anlass war die Aufhebung der Sklaverei durch die mexikanische Regierung. Die USA hoben Sklavereien erst Jahrzehnte später auf. Die Rassendiskriminierung ist noch nicht beendet. (Romeo Rey, Geschichte Lateinamerikas vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Verlag C:H:Beck).
1911/1917 zeitgleich mit der russischen Revolution unternahmen landlosen Bauern Mexikos unter der Losung „Tierra y Libertad“ (Land und Freiheit) eine Rebellion und gaben dem Land eine fortschrittliche Verfassung. Bestimmungen legen fest, z.B. dass Rohstoffe und Land nationales Eigentum sind, Auslandsinvestitionen in Bereiche des Gemeinwohles sind nicht erlaubt oder nur zu Prozentsätzen unter der 50 Prozent Marke. Solche Verfassungsregeln stoßen auf Widerstand der großen Kapitalgesellschaften des Nordens und der EU. Mexiko hat in die Gremien der UNO 1974 das Projekt einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung“ eingebracht und die Unterstützung der Mehrheit der Mitglieder dazu erhalten. Zwei Resolutionen zur Anwendung der Empfehlungen hat die UNO verabschiedet. Ihre Ratifizierung wurde von den westlichen Industrieländern verweigert. Mexiko war Initiator des Vertrages von Tlatelolco, der 1967 die erste atomwaffenfreie Zone der Welt schuf. Auch dieses Vertragswerk wurde abgelehnt. Die Präsidentschaft von Donald Trump begann mit seinem ersten Dekret, die Grenze zu Mexiko undurchlässig umzubauen und zwar auf Kosten Mexikos. Die Überheblichkeit der weißen Männer ist kaum zu überbieten.
Mitte des 20. Jahrhunderts begann in Lateinamerika eine Periode, in der die Länder die positiven Aufbauerfahrungen des sozialistischen Lagers unter der Beachtung der eigenen Bedingungen und ohne Kopien für sich genutzt. So für den Ausbau des Bildungswesens und der Wissenschaften. Die Politik unternahm Anstrengungen, den Nutzen des Rohstoffreichtum für die nationale Entwicklung über Verhandlungen mit den Transnationalen Konzernen umzulenken. Die USA reagierten mit der Anstiftung zum Putsch ihrer Juniorpartner und mit militärischen Eingriffen (Guatemala, Nikaragua, Chile, Santo Domingo, Bolivien. Ihre IV. Flotte wurde wieder mobilisiert). Venezuela erhöhte mit seinem Programm der „Missionen“ deutlich das Lebensniveau der abhängigen Schichten. Sanktionen waren die Antwort. Das Land konnte seinen detaillierten und demokratisch abgestimmten nationalen Entwicklungsplan für die Periode 2013 bis 2019 nicht mehr weiterführen.
Es verdient dennoch Hochachtung, dass lateinamerikanische Regierungen, die Millenniumsziele der UNO zur Bekämpfung der extremen Armut, Verbesserungen im Bildungs- und Gesundheitswesen und Wohnmöglichkeiten u.ä. erfüllen. Kuba gehört dazu. Latein- und mittelamerikanische Regierungen setzen als paktfreie Entwicklungsländer Hoffnungen auf den Gründergeist und auf die Kraft der UNO und ihre Organe.
Nicht erst mit der Präsidentschaft von Trump ist ein Rechtsruck in Lateinamerika eingetreten. Schon Präsident Bush hat die Schwäche der UdSSR um 1990 genutzt, um das sozialistische Lager weiter zurück zu drängen. Länder, die ähnliche Gesellschaftsmodelle anstrebten, wurden verwarnt, wie auch die Fehler der Alternative ausgenutzt wurden. In Brasilien, Ecuador und in Bolivien wurden juristische Stolpersteine für eine Trendwende eingesetzt. In Venezuela gab die nur geringe Zahl der Stimmenmehrheit für Maduro den Anlass, um eine Regime-Change einzuleiten. Mit einer Vielzahl von Sanktionen, der Blockierung von venezolanischen Guthaben im Ausland und Drohungen an Lieferfirmen, den USA Markt zu verlieren, wurde Venezuela destabilisiert. Die Bevölkerung Kubas musste weiterhin Einschränkungen hinnehmen. Das weltweite Monopol des Dollars und der US-Banken sind wirksame Instrumente, ihren Machtwillen durchzusetzen. Deutschland ist in Handlungsnot geraten, weil die USA das Nordstream 2 Projekt sanktionieren. Kuba erlitt 2020 eine weitere Sanktion.
Die künftige EINE WELT braucht Lateinamerika mit seinen Potentialen an Wissen und praktischen Erfahrungen, mit dem Beitrag des Amazonasbeckens zur Klimastabilität, zur Welternährung, die ohne Kartoffeln, Mais, Tomaten, Kakao u.v.a. schwer zu denken wäre und schließlich mit den Rohstoffvorkommen und seinem Importbedarf an Produkten des Welthandels. Nicht hoch genug zu schätzen ist die Entdeckung der Null durch die Olmeken und Maya, parallel zu China. Ein Quantensprung in der Mathematik.
Die globale Welt wird ihre Proportionen im Blick haben müssen, nicht nur die Größen von Russland und China. Brasilien ist mit 8,5 Millionen Quadratkilometer flächenmäßig größer als Australien (7,7). Auch die Verhältnisse bei den Bewohnern geben zu denken: Lateinamerika 651 Millionen, Europa 513 und Australien 47.
Wie die Spannungen zwischen dem nördlichen und südlichen Teil des amerikanischen Kontinents, zwischen den beiden Lager aufgelöst werden, ob auf Verhandlungsweg, mit humaner Vernunft oder über Konfrontationskonzepte, die militärische Optionen einschließen können, ist zu einer Herausforderung an die Politik im 21. Jahrhunderts geworden. Nur multipolares Denken zusammen mit der UNO kann die Zukunft sein. Es wird darauf ankommen, wie beide Seiten die Realitäten im Sinne Hegels sehen und anerkennen. Ein deutsches Sprichwort sagt Hochmut und Selbstüberschätzung kommen zu Fall. Der Homo Sapiens hat in seiner vieltausendjährigen Entwicklung bisher immer einen Weg für seine Zukunft gefunden.
Das zweite große Fragezeichen in Lateinamerika besteht im Umgang mit den tektonischen Spannungen. Die praktischen Verläufe zeigen, dass die Politik, bis auf Kuba, fahrlässig mit der Katastrophenvorsorge umgeht. Beispiel: 11 Jahre nach dem Beben in Haiti mit 200 000 Toten leben noch 2021 Tausende in Notunterkünften.
Die Politik sorgt sich eher um die gewinnbringende Vermarktung der Güter der Natur. Bis auf die Atemluft und das Sonnenlicht ist alles was die Natur hervorgebracht hat zu einer verkaufbaren Ware geworden. Auch Corona und sein Umfeld sind zu Geschäftsfällen geworden. Davon zeugen die Mechanismen der Verteilung des Serums, die Monopolbildungen und die fehlende internationale Kooperation zwischen West und Ost. Es sprießt der Markt der Produkte zur Medikamentation.
Der Autor ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft „Lateinamerika“ beim Parteivorstand der Linken. Er war langjährig als Handelsrat in Mexiko und Venezuela tätig, er koordinierte in der Plankommission Wirtschaftsbeziehungen zu Lateinamerika. Im November erschien sein Sachbuch „Hat die Welt eine Zukunft?“ Verlag am Park, ISBN 978-3-947094-79-0, Alternativen der Planung, in einer humanen Welt.