Felix Schindler für die Online-Zeitung INFOsperber
An Tagen wie diesen ist es nicht unbedingt lustig, Fahrrad zu fahren. Der Schnee ist nass und kalt, die Strassen rutschig – nicht jedermanns und jederfraus Sache. Doch dass man im Winter nicht Velo fahren kann, ist kein Naturgesetz.
Oulu ist die fünftgrösste Stadt in Finnland – und mit über 200’000 Einwohnern grösser als Genf oder Basel. Dort werden 20 Prozent aller Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt. 50 Prozent der Bevölkerung geben an, auch im Winter Fahrrad zu fahren. In Oulu liegen die Temperaturen von November bis und mit März fast immer unter dem Gefrierpunkt, im Januar und Februar ist es im Durchschnitt kälter als 10 Grad Celsius unter Null. An rund 100 Tagen pro Jahr schneit es.
Das hält die Leute nicht vom Velofahren ab, im Winter sind so viele Menschen auf Fahrrädern unterwegs wie im Sommer. Laut dem Magazin Bloomberg Citylab kommt der Knick erst, wenn es kälter wird als minus 20 Grad – dann lässt ungefähr einer von sechs Radfahrern das Velo im Keller. Den anderen fünf ist auch das egal. In Oulu sind im Winter auch die Fahrradabstellplätze vor den Schulen voll – das zeigt, dass nicht nur ein paar Verrückte ohne jegliches Temperaturempfinden Velo fahren, sondern auch ganz normale Kinder.
In Oulu sind zwei Dinge grundsätzlich anders als in der Schweiz: Erstens gibt es ein durchgehendes Netz von Radwegen, das vom Autoverkehr getrennt ist. 875 Kilometer lang ist das Netz – weite Teile davon sind befahrbar, ohne dass eine Strasse mit schnellem Autoverkehr überquert werden muss. Zum Vergleich: Laut einem Bericht der Stadt war das Hauptroutennetz in Zürich 2019 98 Kilometer lang, wobei nur 42 Kilometer die «Standardanforderungen» erfüllten. In Oulu kann jeder Rad fahren, ohne von einem Autofahrer bedrängt, schikaniert oder überfahren zu werden.
Zweitens werden die Radwege gepflügt, und zwar noch vor den Autostrassen. Wenn es sein muss, mehrmals pro Tag. Hier kommt allerdings auch eine klimatische Gegebenheit ins Spiel, die wir in der Schweiz nicht replizieren können: Weil es so kalt ist und so viel schneit, liegt auf den Radwegen stets eine dünne, kompakte Schicht Schnee. Diese ist griffig und angenehm zu befahren – viel sicherer als Glatteis und Schneematsch. Wer mehr darüber wissen will, wie die selbsternannte Welthauptstadt des Winterradfahrens funktioniert, dem sei dieser Kurzfilm eines kanadischen Filmemachers, der letzte Woche erschienen ist, wärmstens empfohlen.
Auch Finnen fahren nur dann im Winter Velo, wenn die Routen sicher sind (Video: Not Just Bikes)
Zurück in die Schweiz. Hier gehen die Frequenzen der Velofahrten im Winter zwar zurück, aber nicht so stark, wie Gegner der Veloförderung behaupten. Ja, Winterradfahrer brauchen Handschuhe und geeignete Kleidung. Doch dass das tatsächlich für viele einen Hinderungsgrund darstellt, ist alles andere als zwingend. Wir, die stolzen Angehörigen der Skination Schweiz, tun ja eigentlich nichts lieber, als uns bei Schnee und Kälte draussen zu bewegen. Niemand kommt auf die Idee, Skifahren oder Wandern sei wegen der Witterung irgendwie unzumutbar.
Die Angst vor Stürzen dürfte dagegen tatsächlich Menschen vom Velofahren abhalten – allerdings weniger wegen des Sturzes an sich als wegen des Risikos, anschliessend von einem Auto überfahren zu werden. Und dieses Szenario ist im Gegensatz zu Oulu durchaus realistisch. Hier sind die allermeisten Radwege nicht abgetrennt, sondern mit ein bisschen Farbe am rechten Rand der Autostrasse aufgepinselt. Routen, auf denen keine Gefahr durch Autoverkehr besteht, gibt es praktisch keine.
Und mindestens in Zürich werden die Radwege im besten Fall ganz zuletzt geräumt. In den weniger guten Fällen wird der Schnee von der Strasse auf die Velostreifen gepflügt. Diese bleiben dann unpassierbar – auch lange nachdem der Schnee überall sonst geschmolzen ist. Das kann ziemlich absurde Dimensionen annehmen. Auf der einspurig befahrenen Freiestrasse etwa – einer Zürcher Vorzeige-Veloroute – konnten die Radfahrer vor der Ampel nicht mehr auf dem Radstreifen warten, weil er zugepflügt war. Das führte einerseits dazu, dass sie auf die Spur des entgegenkommenden Verkehrs ausweichen mussten, andererseits, dass die Induktionsschlaufen im Boden nicht mehr erkannten, dass Radfahrer über die Kreuzung wollen – und entsprechend kaum mehr auf Grün schalteten. Die Zeit vor der Ampel wurde nicht nur länger, sondern auch gefährlicher.
«Wir können den Schnee sonst nirgendwo hinräumen», erklärte ein Sprecher der zuständigen Dienstabteilung kürzlich dem Tages-Anzeiger. Nun, es mag zwar selten vorkommen, dass der Schnee in Schweizer Städten so lange liegen bleibt. Doch ob und wann die Velorouten geräumt werden, zeigt doch recht klar, wo die Velofahrer in der Hackordnung stehen.
Dass Velofahrer im Winter aufs Auto oder den ÖV umsteigen, ist eines der Lieblingsargumente von velofeindlichen Politikern, warum man das Velofahren gar nicht erst fördern solle. Die Logik geht ungefähr so: Wenn Velofahrer nicht das ganze Jahr über Velo fahren, dann sind die Radwege «monatelang unternutzt» (Wortschöpfung by NZZ). Dadurch, muss man annehmen, verwirken die Bewohner einer Stadt ihr Recht auf sichere Fahrradinfrastuktur. Tatsächlich fährt in Zürich auch in wirklich miesen Monaten immer noch rund jeder Zweite mit dem Velo zur Arbeit, der das normalerweise tut. Nur an vereinzelten Tagen sinken die Frequenzen auf unter 50 Prozent des Mittels. Das wies Infosperber im Rahmen einer Datenanalyse nach.
Oulu und viele andere Städte in den Niederlanden und in Dänemark belegen, dass der Anteil derer, die auch im Winter mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, viel höher sein könnte. Alleine von Schnee und Kälte lassen sich nur jene abschrecken, denen auch Skifahren zu kalt ist. Was es braucht, sind sichere und effiziente Routen.
Doch wenn eine Stadt die Radwege zupflügt, ist es nicht mehr eine Frage der Einstellung der Radfahrer, sondern eine Frage der Höhe der Schneemauer. Dann sollte sich eine Stadt überlegen, ob sie es fördern, bloss tolerieren oder aktiv verhindern will, dass ihre Bewohner – man könnte sie auch Steuerzahler nennen – sicher Velo fahren können.