Die schnelle Verbreitung von Covid-19 hat eine Renaissance der sozio-ökonomischen Denkansätze über den besten Weg in die Zukunft ausgelöst, während auf der ganzen Welt die Bürgermeister der Städte angesichts schwindender Einnahmen bei gleichzeitig wachsender und dringender Hilfebedürftigkeit der Gesellschaft nach Antworten suchen.
Heureka! Amsterdam, das Venedig des Nordens, entdeckt die Donut-Ökonomie. Mit einem Wimpernschlag wendet sie sich von den Lehren der neoliberalen Eigenheit des Kapitalismus ab – seiner unersättlichen Gier nach unendlichem Wachstum um jeden Preis. Diese Stadt, in der 1602 mit der erstmaligen Ausgabe von Aktien durch die Dutch East India Company (Niederländische Ostindien-Kompanie) der Kapitalismus seinen Lauf nahm, geriet nach 400 Jahren fest verankertem Kapitalismus ins Grübeln.
Im Angesicht eines Virus, das die Welt in einen Zustand des Nachdenkens über die beste Bewältigung der Krise gebracht hat, entsteht neue Hoffnung durch neue Ideen. Letztendlich hat das Virus die äußerste Zerbrechlichkeit, enorme Ungerechtigkeit und Unverhältnismäßigkeit der alles verschlingenden neoliberalen Maschine, wie sie vor über vier Jahrzehnten unter der Federführung des Reaganismus und Thatcherismus ersonnen wurde, ans Licht gebracht. Heute können deren Ergebnisse treffend durch den allgemein geläufigen Beinamen „Das 1%“ zusammengefasst werden.
Inzwischen hat Covid-19 die extrem schiefe Dynamik des endlosen Wachstums um jeden Preis ans Licht gebracht – Milliardenprofite an der Spitze schiefer Pyramiden, die von einer kranken und ausgehungerten, verlorenen Bourgeoisie gebildet werden, wie damals in Frankreich im ausgehenden 18. Jahrhundert, als tausende Aristokraten ihre Köpfe in Sicherheit brachten und aus den Straßen von Paris flohen.
Und plötzlich erscheint aus dem Nichts die rettende Donut-Ökonomie, die für faire Bedingungen steht, die die wackelige Pyramide des Wachstums um jeden Preis abbaut und stattdessen Wege aufzeigt für das „Gedeihen“ anstelle eines immer größeren und schnelleren Wachstums an dessen Ende der Zusammenbruch der lebenserhaltenden Ökosysteme steht.
Die Donut-Ökonomie orientiert sich im Gegensatz zum Kapitalismus an der Natur. Bäume wachsen bis zur Reife und gedeihen dann über Jahre. Bäume wachsen nicht bis an das Ende des Himmels. Vergleichbar damit respektiert die Donut-Ökonomie die ökologische Grenze und konzentriert sich auf die Reduzierung des ökologischen Overshoot. Es ist ein neuer Ansatz für eine bessere Lebensweise im Einklang mit der Natur. Auf den ersten Blick ist der Donut-Modell so attraktiv, dass bereits 25% der Weltwirtschaft ihn als guten Ersatz für die kapitalistische Kommodifizierung der Natur in Betracht zieht.
Heute findet ein Kunde eines Amsterdamer Lebensmittelladens neue Preisschilder an Kartoffeln – darin enthalten sind 6 Cent extra pro Kilo für den CO2-Fußabdruck, 5 Cent extra für die Belastung des Ökosystems durch die Landwirtschaft und 4 Cent extra für die faire Bezahlung der Bauern. Es ist die „Realpreis-Initiative“, die bei den Kunden das Bewusstsein für die tatsächlichen ökologischen Kosten schafft und essentiell für die Donut-Ökonomie ist, die die Stadt offiziell seit April 2020 anwendet.
Ein essenzieller Aspekt der Donut-Ökonomie ist das Bewusstsein für die Bedürfnisse aller Bürger, indem auf eine stark vernetzte soziale Grundlage geachtet wird. So hat die Stadt zum Beispiel durch den Ausbruch von Covid-19 erkannt, dass tausende Bürger keinen Zugang zu Computern hatten, die während eines Lockdowns benötigt werden, um mit dem gesellschaftlichen Leben verbunden zu bleiben. Und anstatt den Kauf neuer Computer zu beauftragen, sammelte die Stadt alte und defekte Geräte von den Bewohnern ein, beauftragte eine Firma mit der Reparatur und Aufarbeitung und verteilte die Computer an bedürftige Bürger. Das ist ein Musterbeispiel des Donut-Modells in Aktion.
Die britische Ökonomin Kate Raworth skizzierte die Theorie der Donut-Ökonomie in einem 2012 veröffentlichten Papier gefolgt von ihrem Buch „Doughnut Economics“ (erschienen 2017 bei Chelsea Green Publishing). Sie widersetzt sich der traditionellen Ökonomie, die sie an der Universität in Oxford studiert hatte. Der Fokus liegt dabei auf dem Bild eines Donuts, ein Kreissymbol, das die Grenzen des Planeten und die der Gesellschaft darstellt. Grenzen, die einen sicheren und gerechten Raum für die Menschheit zusammen mit einem gesunden Ökosystem definieren, oder anders gesagt ein Leben in harmonischem Einklang mit der Natur als Gegenentwurf zu Indifferenz und Übermaß des Neoliberalismus.
Nach Ansicht von Kate Raworth ist die ökonomische Denkweise des 20. Jahrhunderts nicht dafür geeignet, mit den Realitäten des 21. Jahrhunderts umzugehen – einem Planeten, der sich am Rande des Klimakollaps befindet. Deshalb legt sie mit ihrer Theorie einen sogenannten „Sweet Spot“ fest, einen Optimalzustand, bei dem die Menschen alles haben, was sie für ein gutes Leben benötigen und gleichzeitig die ökologischen Grenzen respektiert werden und ein ökologischer Overshoot, unter anderem durch den exzessiven Verbrauch von Frischwasser, durch chemische Verunreinigungen und durch den Verlust von Biodiversität vermieden wird.
Die Donut-Ökonomie wird mittels eines Kreisschemas visualisiert. Im Inneren befindet sich ein grüner Ring, der die „regenerative und distributive Ökonomie darstellt, die einen sicheren und gerechten Raum für die Menschheit bietet“. Dieser Ring zieht sich um eine Anzahl von Faktoren, die im Falle eines Mangels in das „soziale Fundament“ des grünen Rings eingehen müssen – wie Unterkunft, Energie, Wasser, Gesundheit, Einkommen und Arbeit etc. Am äußeren Rand des Donuts stellt eine „ökologische Decke“ die „ökologischen Overshoots“ dar, die das soziale Gefüge bedrohen.
In einer sich wandelnden Welt und mit der Übermacht eines etablierten Kapitalismus leben die Menschen in den reichen Ländern in einem ökologischen Overshoot, während die Menschen in den armen Ländern unter das soziale Fundament fallen. Somit leben sowohl die Reichen als auch die Armen jenseits der regenerativen und distributiven Ökonomie, dem inneren grünen Ring des Donut-Modells.
Die Stadt Amsterdam arbeitet aktuell daran, ihre 872.000 Einwohner hin zum „Sweet Spot“ zu bringen, dem Optimalzustand einer guten Lebensqualität ohne Druck auf den Planeten jenseits dessen, was die Natur normalerweise vertragen kann. Vierhundert Bürger und Initiativen haben sich in einem Netzwerk zur Amsterdam Doughnut Coalition zusammengeschlossen und führen Programme auf Graswurzelebene durch. Die Wirtschaft sprießt damit von der Basis, anstatt von oben, von den Chefetagen diktiert zu werden.
Von anhaltendem Interesse begleitet verbreitet sich die Donut-Ökonomie auf der ganzen Welt. Der Stadtrat von Kopenhagen folgt dem Beispiel Amsterdams. Das Gleiche gilt für Brüssel, Dunedin in Neuseeland, Nanaimo in British Columbia, Kanada sowie Portland, Oregon in den USA. Sie alle sind dabei, ihre eigenen Versionen der Donut-Ökonomie zu entwickeln. Austin, Texas erwägt ebenfalls, die Donut-Ökonomie einzuführen.
Ein nicht zu vernachlässigender Anteil der Weltwirtschaft von bereits 25% beschäftigt sich mit Raworths während ihres Studiums in Oxford gewonnenen Erkenntnissen zur Oldschool-Wirtschaft von Angebot und Nachfrage, Effizienz, Rationalität und endlosem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts, bei der jedoch ein Hauptbestandteil – bekannt als das Lebensnetz – fehlt. Für Ökonomen ist das ökologische Lebensnetz ein „externer Faktor“. Aber ist es das wirklich? Durch eine solche Einordnung wird die Hauptquelle des Lebens aus dem Gefüge der wirtschaftlichen Entwicklung entfernt.
Raworths Theorie verlangt keine spezifischen Regeln, die angewendet werden müssen. Es obliegt den Initiatoren, auf lokaler Ebene zu entscheiden. Dabei ist das Festlegen von Standards der erste Schritt für den Aufbau einer Donut-Ökonomie. Schaut man sich Amsterdam an, so bindet die Stadt Ziele der Donut-Ökonomie in eine Kreislaufwirtschaft mit ein, die Bestandteile von Konsumgütern, Baumaterialien und Lebensmittelprodukten reduziert, wiederverwendet und recycelt.
In Amsterdam „zielt die Politik darauf ab, die Umwelt und die natürlichen Ressourcen zu schützen, soziale Ausgrenzung zu verringern und einen guten Lebensstandard für alle zu garantieren. Van Doornick, stellvertretende Bürgermeisterin, sagt, dass die Donut-Ökonomie eine Offenbarung war. „Ich wuchs zu Zeiten Thatchers und Reagans mit dem Glauben auf, dass es keine Alternative zu unserem Wirtschaftsmodell gäbe“, so Van Doornick. „Die Lektüre der Donut-Ökonmie war wie – Heureka! Es gibt eine Alternative! Ökonomie ist eine Sozialwissenschaft, keine Naturwissenschaft. Sie wird von Menschen gemacht und kann von Menschen geändert werden.“ (Quelle: Clara Nugent, Amsterdam Is Embracing a Radical New Economic Theory to Help Save the Environment, Could It Also Replace Capitalsim? Time, 22. Januar 2021 (Amsterdam öffnet sich einer radikalen neuen ökonomischen Theorie, um die Umwelt zu schützen. Könnte das auch den Kapitalismus ersetzen?))
Zur Vertiefung: C40 – A Mayors Agenda for a Green and Just Recovery (C40 – Eine Agenda für Bürgermeister für eine grüne und gerechte Genesung), die an einer gerechten und nachhaltigen Erholung von der Covid-19 Krise arbeiten. C40 ist ein Zusammenschluss von 96 Städten auf der ganzen Welt, die 25% der globalen Ökonomie vertreten. Es ist ein Netzwerk von Megacities. Bezeichnenderweise hat die Gruppe Raworth gebeten, über die Fortschritte der „Donut-Mitglieder“ Amsterdam, Phialdelphia und Portland zu berichten.
Die Donut-Ökonomie, der den neoliberalen Kapitalismus überholt, ist weit mehr als eine einfache Geschichte. Es funktioniert! Es ist brilliant! Zwar ist die Bezeichnung Donut etwas eigenartig und es läuft vielleicht auf eine Namensänderung hinaus – vielleicht aber auch nicht. Denn irgendwie ist sie auch süß.
Hier nun eine schematische Darstellug der Donut-Ökonomie:
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Silvia Sander vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!