Wir sind nicht viele, genauer gesagt, kann man uns an zwei Händen abzählen. Eine Erlaubnis für unsere friedensstiftende Mahnwache haben wir nicht erhalten, denn zu den derzeitigen Einschränkungen der Grundrechte gehört auch das Versammlungsverbot, selbst eine Solomahnwache darf nicht durchgeführt werden.
Dennoch haben wir uns entschieden zu kommen, denn Julian Assange kann nicht mehr für sich selbst einstehen. Wir stehen für ihn ein! Wir halten Abstand, wir tragen Masken, wir machen etwas.
Der Platz in Cottbus vor der Stadthalle ist wie leergefegt, was weder an der Kälte noch am Bekanntheitsgrad von Julian Assange liegt. Es ist zwar kein Publikum dar, dafür jedoch die Polizei. Ein Ordnungshüter kommt dann auch schon unverzüglich auf mich zu. Freundlich erklärt er mir, dass wir hier nicht stehen dürften, wir müssten warten, bis es wieder erlaubt sei. Diese Phrase klingt so leer in meinen Ohren, dass ich nicht einmal darauf antworten kann.
Julian Assange wird jeden Tag gefoltert. Einige nennen diese Art von Folter, weiße Folter. Was für ein schönes Wort für eine grauenhafte Methode Menschen psychisch und körperlich dauerhaft zu zerstören. Jeden Tag aufs Neue muss Julian Assange „warten“. Wie verzweifelt muss er sein? Wie lange wartet schon sein Vater darauf, Julian wieder in den Arm zu nehmen? Wie lange muss seine Frau noch warten? Wann dürfen seine Kinder ihn umarmen? Was bleibt von diesem wundervollen Menschen, Julian Assange, nach dieser Folter noch übrig?
Wir lösen unsere „Versammlung“ auf bis auf einen Mann. Er trägt eine Kerze und er möchte versuchen so lange wie möglich für Julian Assange zu stehen. Fünf Polizisten kreisen ihn ein und reden ihm ins Gewissen. Dieses Bild wirkt so surreal auf mich, dass ich ein Foto schieße. Eine halbe Stunde schafft dieser Mann seine Solomahnwache aufrechtzuerhalten. Eine halbe Stunde mehr für Julian Assange.
Ich muss gerade an Benjamin Ferencz denken, der Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen. Er sammelte damals Beweise für die Kriegsverbrechen der Nazis. Damals war so eine Arbeit noch ehrenwert vor allem aber auch enorm wichtig. Es gab einen guten Grund dafür Kriegsverbrechen öffentlich zu machen und als das zu bezeichnen, was sie sind, nämlich Verbrechen! Ferencz sitzt nicht im Gefängnis. Er ist ein hochangesehener Mensch, der sich mit großem Engagement für ein Internationalen Strafgerichtshof einsetzt. Für ihn gehören Mörder – und zwar die, die am oberen Ende der Nahrungskette stehen – vor ein Gericht, unabhängig ob es Deutsche, Russen oder… Amerikaner sind.
Ferencz hatte nämlich ein Lebensmotto: „wenn es um Menschlichkeit geht, gibt es kein Wenn und Aber.“
Für ihn war auch noch eins wichtig: „sage immer deine Wahrheit.“ Er möchte uns damit sagen, dass wir nicht wegsehen oder schweigen dürfen, wenn etwas ungerecht ist. Verbrechen bleiben Verbrechen!
Julian Assange hat nicht weggesehen. Er hat nicht geschwiegen. Er hat unter anderem Beweise für Kriegsverbrechen, Umweltsünden und vieles mehr gezeigt. Vielleicht liegt es auch daran, WER die Kriegsverbrechen durchführt, denn anstatt ihm einen Friedensnobelpreis zu verleihen, für seine großartige Idee der Veröffentlichung, lässt man ihn unschuldig in einem Gefängnis verrotten. Nicht er ist es, der dort hingehört! Das wissen wir alle und selbst die größte Medien-Kampagne gegen Julian Assange kann diese Tatsache nicht verdrehen.
Eine Episode von Benjamin Ferencz ist mir auch noch gut in Erinnerung geblieben. Während er damals Beweise für Kriegsverbrechen sammelte, wunderte sich ein Sowjetsoldat, warum er dies tat: „Erschießt sie doch einfach.“ Doch Ferencz glaubte genau wie Julian Assange daran, dass Verbrechen gezeigt werden müssen. Ferencz glaubte, dass wir fair und gerecht sein können, auch zu Mördern und Kriegsverbrechern. Und hier wird der Unterschied zwischen Gut und Böse so offensichtlich. Für solche ethischen Werte können sich nur Menschen stark machen, die selbst auch diese Werte in sich tragen. Die Menschen, die sich für das Gute einsetzen, würden auch den eigentlichen Kriegsverbrechern ein faires Verfahren geben. Das machen sie schon allein deshalb, weil sie ansonsten nicht mehr in den Spiegel schauen könnten. Dagegen sieht es bei Menschen, die ihre Macht erhalten wollen, anders aus. Für sie wird jeder, der auch nur ansatzweise an ihrer äußeren Fassade kratzt, zu einem nichtsteuerbaren Risiko.
Leider konnte Julian Assange nicht fliehen. Er sitzt im Hochsicherheitsgefängnis. Wenn unsere Welt gerecht wäre, dann würde Julian jetzt dort sein, wo er hingehört. Er würde neben ranghohen Führungspositionen stehen und zwar solchen, die sich sichtbar für Menschenrechte einsetzen und die durch ihr Engagement andere Menschen berühren. Er würde vielleicht eine Beraterfunktion haben oder in den Medien öffentlich für den Frieden werben.
In diesem Kontext muss ich an den Dalai-Lama denken, der seit 60 Jahren im Exil lebt. Dieser kann sich für die Umwelt und die fundamentalen Menschenrechte einsetzen, weil ihm seine Flucht gelungen ist. Einfache Menschen haben ihm geholfen. Diese Menschen wussten, dass es Werte gibt in unserem Leben, die wichtiger sind als alles andere. Der Dalai-Lama wurde weder für Geld verraten noch unter fadenscheinigen Gründen ausgeliefert. Ansonsten würde nämlich das friedliche Oberhaupt der Tibeter – genau wie Julian Assange – in einem Gefängnis sitzen.
Was ist mit uns? Wenn unsere Welt nicht so gerecht ist, wie wir sie gerne hätten, dann müssen wir dafür sorgen, dass sie wieder gerechter wird. Wir müssen dafür keine reichen Milliardäre sein, um etwas Großes zu erreichen. Es reicht schon, wenn wir aufhören wegzusehen. Wir können aufstehen, wir können Briefe schreiben, wir können darüber reden. Wir müssen es nur tun. Wir brauchen Menschen wie Julian Assange. Und das ist in diesem Fall für mich eine Tatsache. Ich sehe lieber solche Menschen wie Julian Assange in führenden Positionen unserer Gesellschaft als solche Menschen, die ohne Skrupel andere erschießen lassen und anschließend voller Hass am liebsten die Todesstrafe für Julian Assange verhängen würden. Oder sie führen diesen Tod subtiler durch, durch weiße Folter. Welche unschuldigen Menschen sind die nächsten, die von Soldaten erschossen werden? Du? Ich? Deshalb unterstütze ich voll und ganz die folgende Aussage:
Wenn das Aufdecken von Verbrechen wie ein Verbrechen behandelt wird, dann werden wir von Verbrechern regiert.
Wen wollen wir als führende Mitglieder unserer Gemeinschaft? Welche Werte sind uns wichtig? Was ist uns für unsere Kinder wichtig? Was zeichnet unsere Repräsentanten aus? Der Dalai-Lama und Friedensnobelpreisträger wirbt unermüdlich für das Gute, für Mitgefühl und Verständnis. Das gleiche, wofür auch Benjamin Ferencz eintrat.
Julian Assange braucht unsere Stimme und unsere Unterstützung, denn von den Verbrechern wird er diese nicht erhalten.
Text und Fotos von Tatjana Geschwendt