Wie vor Parteitagen üblich, werden tatsächliche oder konstruierte Konflikte, Widersprüche, Differenzen gern über die Presse ausgetragen: Dieses Mal zur Friedenspolitik der LINKEN. Die russische Presseagentur SNA (ehemals Sputnik-News) befragte dazu Wolfgang Gehrcke.
Nachfolgend vorab der Text im Wortlaut:
Der sicherheitspolitische Sprecher der Fraktion DIE LINKE. Im Bundestag, Matthias Höhn, hat seine, hat neue Überlegungen zu einer Sicherheitspolitik der Linkspartei vorgelegt. Was halten Sie von diesem Diskussionsangebot?
Wolfgang Gehrcke: Überhaupt nichts. Wenn es in seinem Arbeitskreis der Fraktion oder auf seiner Webseite veröffentlicht worden wäre, würde kein Hahn danach krähen. Nur, weil der Spiegel es veröffentlicht und andere Mainstreammedien es aufgegriffen haben, ist es überhaupt im Gespräch.
Ein Diskussionsangebot ist es auch nicht. Mit wem will er das denn diskutieren? Die Partei hat kein Interesse, einen Generalangriff auf ihre friedenspolitischen Grundpositionen zu diskutieren, sie hat sie doch immer wieder bestätigt, sie heißen: Kein Frieden mit der NATO, Abzug der US-Atomraketen aus Deutschland, gutnachbarschaftliche Beziehungen zu Russland, keine Auf-, sondern Abrüstung, keine Auslandseinsätze der Bundeswehr.
Interesse an einer „Diskussion“ der Friedenspolitik der Linken haben jene, die sie ihr austreiben wollen, damit sie handzahm werde und mit den Wölfen, sprich: mit der NATO, heule.
Herr Höhn verweist darauf, dass sich die Weltlage seit 2007, als sich die Linkspartei gegründet hat, und seit 2011, als sie ihr Parteiprogramm in einer Urabstimmung angenommen hat, deutlich verändert habe. Seine Stichworte sind: Flucht, Vertreibung, Klimakrise, Kriege und Stellvertreterkriege in Syrien, Jemen, der Ukraine, Afghanistan, Mali, Irak…
Wolfgang Gehrcke: Leider ist die Welt nicht erst seit 2007, sondern schon seit 1989 nicht sicherer geworden. Laut Höhn haben daran die Vereinigten Staaten, Russland, China gleichermaßen Anteil, allen ginge es um Geopolitik, alle seien bereit, „für den eigenen Vorteil internationale Regeln zu brechen“, deshalb müsse die LINKE „altes Blockdenken“, „ausgediente Freund-Feind-Bilder“, „rückwärtsgewandte Muster und Klischees“ ablegen. Gute Gründe als überholt, alt, von gestern abzuwerten, ist ein beliebtes Muster neoliberaler Ideologen, um sich selbst als innovativ, modern, der Zukunft zugewandt darzustellen. Höhn versucht das, doch er scheitert an der Realität. Haben wir nur ein – ausgedientes – Bild vom US-Imperialismus als zu allem und jederzeit bereite Interventionsmacht? Das Bild vom deutschen Imperialismus als Hegemonial- und (leider) nicht Friedensmacht im Herzen Europas – überholt? Das Bild von der NATO als expansiv – rückwärtsgewandt? Ist sie an die Westgrenze Russlands, entgegen aller Zusagen von 1989, vorgerückt oder Russland an Neiße?
Ist dann der Verfasser der Rückwärtsgewandte?
Wolfgang Gehrcke: Rückwärtsgewandt würde ich das nicht nennen. Höhn bedient die sogenannte Äquidistanz, meint: Gleich große Kritik und Distanz zu allen Großmächten, namentlich zu Russland und den USA. Das Mittel dazu sind Nebelschwaden, etwa, indem er schreibt: „Wichtige Pfeiler der Rüstungskontrolle kamen ins Wanken oder sind bereits eingerissen“… Durch ein Erdbeben oder wie? Kamen die irgendwie über die Menschheit? Nein, die Abkommen sind von den USA aufgekündigt worden und haben damit wieder ein Wettrüsten losgetreten. Zwecks Äquidistanz unterstellt Höhn der Linke eine „Doppelmoral“ und schreibt: „Ein nicht-mandatierter amerikanischer Luftschlag in Syrien… oder der Einsatz von verbotenem Giftgas in Russland – wer glaubwürdig sein will, darf nicht mit zweierlei Maß messen.“ Glaubwürdig ist also nur, wer mit der Bundesregierung, der EU und der NATO behauptet, Nawalny sei mit Giftgas fast ermordet worden? Dieser Unsinn zeigt: Diese Art Äquidistanz soll nicht zu eigenständiger kritischer Reflexion des Weltgeschehens ermuntern, sondern die wohl begründete kritische Distanz zur derzeitigen internationalen Politik der Bundesregierung, der EU, NATO und den USA aufweichen.
Wird sich die LINKE in dieser Frage spalten?
Wolfgang Gehrcke: Nein. Innerhalb der LINKEN meinen immer mal wieder einzelne Politikerinnen, Politiker, die eine oder andere der Grundpositionen etwas abschleifen zu können. Dafür gab es bislang keine Mehrheit, für diesen Generalangriff zur Komplettrevision schon gar nicht. Sein Hintergrund ist natürlich die Bundestagswahl in diesem Jahr. Matthias Höhn gehört zu den Genossinnen und Genossen, die auf rot-rot-grün setzen und sich als mögliche Koalitionspartner andienen.
Was ist daran zu kritisieren?
Wolfgang Gehrcke: Außerhalb von Raum und Zeit: Gar nichts. Ich bin sehr dafür, dass DIE LINKE zu gegebener Zeit auch als Teil einer Regierung die Gesellschaft mit verändern kann. Doch im Jahr 2021 will keine der anderen Parteien auf Bundesebene mit der LINKEN koalieren, nach menschlichem Ermessen wird es ohnehin rein rechnerisch nicht gehen – und politisch schon gar nicht. Bislang ist in den Ländern der NATO noch keine Partei an die Regierung gekommen, die die NATO prinzipiell kritisiert und als friedensuntauglich abgelehnt hat. Das haben die USA immer verhindert. Eine Ausnahme ist vielleicht der Austritt Frankreichs aus den militärischen Strukturen der NATO unter De Gaulle im Jahr 1966. Aber der hatte mehr mit den eigenen damaligen Kriegen Frankreichs in Algerien und der USA in Vietnam zu tun. Noch bevor Gerhard Schröder (SPD) und Josef Fischer (Grüne) 1998 als Bundeskanzler bzw. Außenminister vereidigt wurden, mussten sie in Washington ihre Treue zur NATO unter Beweis stellen, indem sie die deutsche Unterstützung für den dann erst folgenden NATO-Krieg gegen Jugoslawien zusicherten.
Auch heute müsste eine LINKE in der Regierung einen Preis zahlen, wenigstens den Verrat an ihren eigenen Positionen, und sie müsste ganz sicher Russland mindestens die kalte Schulter zeigen, wenn nicht mehr. Das kommt für mich gar nicht in Frage. 2021 jährt sich zum 80. Mal der Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion mit den unfassbaren Grausamkeiten, begangen von Deutschen, und 27 Millionen Toten allein in der Sowjetunion. Wenn etwas Staatstragendes gewünscht wird, dann möchte ich, dass die Erinnerung an die Ungeheuerlichkeit dieser Verbrechen und das Bemühen um Versöhnung deutsche Staatsräson wird.
Was braucht die LINKE zum Regieren?
Wolfgang Gehrcke: Ganz sicher nicht, ihre Kapitalismuskritik und ihre Friedenspolitik für das Linsengericht einer Regierungsbeteiligung zu verkaufen. Die eine wie die andere sind doch in der derzeitigen tiefen gesellschaftspolitischen Krise aktueller denn je. Die Krise wird nicht kleiner werden, sie wird auch nicht wie von selbst verschwinden. Deshalb brauchen wir eine Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse für Frieden und soziale Gerechtigkeit. Vom Parlament aus kann man dazu unterstützend beitragen, wachsen muss es von unten.
Quelle: Wolfgang Gehrcke, Bremer Friedensforum